Verwaltungsrecht

Widerruf der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 4 K 16.31646

Datum:
1.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3
AsylG AsylG § 3 Abs. 4, § 4 Abs. 2 Nr. 2, § 73 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Die Vorschrift des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG findet auch Anwendung auf strafrechtliche Verurteilungen, die vor Inkrafttreten dieser Norm erfolgten, da dies keinen Fall der echten (verbotenen) Rückwirkung im Sinne einer Rückwirkung vor Rechtsfolgen darstellt. (redaktioneller Leitsatz)
2 Auch wenn die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan nach wie vor angespannt ist, sind die kurdischen Autonomiegebiete Dohuk, Erbil und Suleymania von den Kämpfen in den westlichen und südlichen Nachbarprovinzen nicht unmittelbar betroffen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. Juni 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (1.). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (2.), auf die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (3.).
1. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtmäßig, da die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus durch die rechtskräftige Verurteilung des Klägers zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten (wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung) nicht vorliegen.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Voraussetzung für die Flüchtlingsstatusanerkennung ist hiernach, dass keine Versagungsgründe der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus entgegenstehen. Die Anerkennung kann gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG unterbleiben, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder die körperliche Unversehrtheit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr verurteilt worden ist, soweit die Straftat mit Gewalt oder unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben gegangen worden ist.
Die Versagungsgründe des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sind vorliegend anwendbar, da Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes des Klägers nicht entgegenstehen; die Flüchtlingseigenschaft des Klägers wird lediglich für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit entzogen, womit dieser Fall nicht vom Rückwirkungsverbot erfasst ist. Die Vorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG findet auch Anwendung auf strafrechtliche Verurteilungen, die vor Inkrafttreten dieser Norm stattfanden, da dies keinen Fall der echten (verbotenen) Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen darstellt.
Der Tatbestand der Vorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist erfüllt. Mit der rechtskräftigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten liegt ein Versagungsgrund vor, der die Versagung des Flüchtlingsstatus rechtfertigt, da der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr verurteilt worden ist und dieser Verurteilung wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie die körperliche Unversehrtheit zugrunde liegen und diese mittels Gewalt begangen worden ist.
Ermessensfehler sind aus dem Bescheid des Bundesamtes vom 15. Juni 2016 nicht ersichtlich. Das Bundesamt hat seinen Ermessensspielraum erkannt und hat sein Ermessen unter der Wahrung von sach- und zweckgerechten Erwägungen ausgeübt.
So hat das Bundesamt in seine Interessenabwägung zugunsten des Bleibeinteresses des Klägers den achtjährigen Aufenthalt in Deutschland, dessen Niederlassungserlaubnis sowie Erwerbstätigkeit, die Bindung des Klägers zur Familie des Bruders sowie die Wiederaufnahmemöglichkeit in der Wohnung des Bruders nach der Haftentlassung des Klägers eingestellt und hiergegen das öffentliche Interesse an einem Widerruf der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers abgewogen.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG ausgeschlossen, wenn er eine schwere Straftat begangen hat. Dies ist im Falle des Klägers zweifellos gegeben.
In diesem Zusammenhang weist das Gericht auf die Neuregelung des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG hin, wonach das Ausweisungsinteresse sogar besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrere vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt worden ist.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass auch unabhängig von der strafrechtlichen Verurteilung die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nicht vorliegen:
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) oder § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 c der RL 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf den Irak zu. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht auch insoweit auf die zutreffende Begründung im Bescheid des Bundesamtes (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG liegen ersichtlich nicht vor.
Im Hinblick auf die Schutzregelung nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, wonach einem Ausländer subsidiärer Schutz zusteht, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre, verweist das Gericht auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 – 10 C 4/09.
Dass nicht gleichsam jede Zivilperson im Irak allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt im Übrigen bereits daraus, dass bei einer Gesamtbevölkerung mit etwa 32 bis 34 Millionen Einwohnern (vgl. www.asien-auf-einen-blick.de/irak/, www.auswaertigesamt.de/DE/ Aus-senpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Laender/Irak.html) die Zahl der zivilen Todesopfer im Jahr 2015 mit insgesamt 17.502 (2014: 20169; vgl. https: …www. Iraq-bodycount.org/database/ v. 29.9. 2016) angegeben ist. Auch wenn die Opferzahlen 2016 angestiegen sind, reicht die abstrakte Gefahr, angesichts von Kampfeshandlungen in einigen Bereichen im Irak Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht aus.
Von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kann in den drei kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak nicht gesprochen werden. Zwar findet im Irak derzeit ein militärischer, bewaffneter Konflikt statt, der einen Teil des Landes erfasst aber bei dem das irakische Militär die Oberhand zu gewinnen scheint. Dieser Konflikt stellt aber keine landesweite Konfliktsituation dar, da in den drei kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak keine tatsächliche Gefahr besteht. Der Kläger muss daher dort nicht damit rechnen, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, so dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil oder diesen Landesteilen aufhält.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine Prognose der derzeitigen Situation im Irak ergibt, dass in den drei kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak derzeit keine Verfolgungsgefahr für den Kläger besteht; weder eine staatliche noch eine Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure. Der IS ist nicht in die kurdischen Autonomiegebiete vorgedrungen.
Eine Rückkehr in den Nordirak erscheint unter diesen Gesichtspunkten möglich.
3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben/vorgetragen.
a) Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.
b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Es gelten die obigen Ausführungen zu den Lebensumständen im kurdisch dominierten Nordirak.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Anspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.


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