Verwaltungsrecht

Wiederaufnahme eines Asylverfahrens nach Einstellung wegen Nichtbetreibens

Aktenzeichen  M 19 S 17.34530

Datum:
8.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 160088
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 33
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses reicht es nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag an die zuständige Behörde zu stellen, der andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts zeitigt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 36 AsylG gilt ausweislich seiner amtlichen Überschrift nur bei Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und bei offensichtlicher Unbegründetheit, nicht jedoch im Fall der Einstellung nach § 33 AsylG. § 38 Abs. 2 AsylG hingegen enthält keine § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG entsprechende Regelung. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 9. März 2017 (M 19 K 17.34528) gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für … vom 23. Februar 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung wegen Einstellung seines Asylverfahrens.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 14. November 2016 beim Bundesamt für … (nachfolgend: Bundesamt) einen Asylantrag.
Am selben Tag machte er im Rahmen seiner persönlichen Anhörung gegenüber dem Bundesamt folgende Angaben: er sei circa 8 bis 9 Monate in Libyen gewesen, danach seit Ende 2012 in Griechenland, davon 18 Monate im Gefängnis. Sein Asylantrag dort sei abgelehnt worden. In Pakistan habe er die Schule bis zur 7. Klasse besucht. Danach habe er in K… in einer Autoreparaturwerkstatt gearbeitet und sei nebenbei Taxi gefahren. Ein Onkel von ihm habe im Zuge einer Erbschaftsauseinandersetzung alles für sich beansprucht mit der Folge, dass seine Familie arm geworden sei. Vor dieser Situation sei er geflohen. Außerdem sei er in der Asylbewerberunterkunft mit einem Messer angegriffen worden. Die Familie des Mannes, der ihn angegriffen habe, habe ihm viel Geld geboten, damit er die Anzeige zurückziehe. Dies gehe aber nicht, was die Familie nicht wisse. Deshalb würden sie ihn in Pakistan umbringen.
Nach einem Aktenvermerk des Bundesamts vom 22. Februar 2017 sei der Antragsteller nach Auskunft im AZR vom selben Tag seit 7. November 2016 als unbekannt verzogen gemeldet. Das Asylverfahren sei deshalb nach § 33 AsylG einzustellen (Bl. 68 der Bundesamtsakte).
Mit Bescheid vom 23. Februar 2017 stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag als zurückgenommen gelte, das Asylverfahren eingestellt sei (Nr. 1) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2). Unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Pakistan angedroht (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Nach den Erkenntnissen des Bundesamts gelte der Antragsteller als untergetaucht. Aus diesem Grund sei eine persönliche Anhörung nicht möglich. Es werde vermutet, dass der Antragsteller das Asylverfahren i.S.v. § 33 Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht betreibe.
Der Bescheid wurde laut Aktenvermerk am 28. Februar 2017 als Einschreiben zur Post gegeben (vgl. Bl. 87 der Behördenakte).
Am 9. März 2017 erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten hiergegen Anfechtungsklage (M 19 K 17.34528). Gleichzeitig beantragte er, hinsichtlich der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung trug der Bevollmächtigte vor, die dem Bescheid zu Grunde liegende Annahme des Untertauchens sei unzutreffend. Der Antragsteller sei stets unter der ihm zugewiesenen Adresse wohnhaft gewesen. Die Asylpatin L. H. treffe ihn regelmäßig und bestätige mit der beiliegenden eidesstattlichen Versicherung, dass er den Wohnort nicht gewechselt habe oder gar untergetaucht sei. Außerdem habe eine persönliche Anhörung stattgefunden.
Für die Antragsgegnerin legte das Bundesamt die Akten vor, äußerte sich aber nicht zur Sache.
Das Gericht hat dem Antragsteller mit Schreiben vom 1. Juni 2016 unter seiner Adresse eine Betreibensaufforderung nach § 81 AsylG gesandt. Laut Postzustellungsurkunde wurde diese am 3. Juli 2017 zugestellt.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers teilte mit Schriftsatz vom 2. Juni 2017 weiter mit, der Antragsteller habe ihm telefonisch mitgeteilt, er sei nach wie vor unter der angegebenen Adresse wohnhaft. Der dort zuständige Hausmeister habe ihm dies auf telefonische Nachfrage bestätigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Er ist zulässig, insbesondere besteht vorliegend ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers.
Dies gilt trotz des Umstands, dass er einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG stellen könnte. Ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses kann dem Vorgehen gegen einen den Adressaten belastenden Verwaltungsakt nur unter besonderen Umständen entgegengehalten werden. Das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz kann in der hier inmitten stehenden Fallkonstellation erst dann entfallen, wenn das mit dem Rechtsschutzbegehren verfolgte Ziel durch ein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren ebenso erreicht werden kann wie in dem angestrebten gerichtlichen Verfahren. Hingegen reicht es nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag an die zuständige Behörde zu stellen, der andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts zeitigt. Nach diesen Grundsätzen kann vorliegend nicht von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgegangen werden, wenn, wie es der Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG zumindest nahe legt, die erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtswidrig gewesen ist. In einer solchen Fallgestaltung verstößt es gegen das in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) normierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu verneinen (siehe zum Ganzen: BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8; VG Augsburg, B.v. 24.3.2017 – Au 7 S 17.30386 – juris Rn. 21; VG Dresden, U.v. 22.8.2016 – 11 K 1061/16.A – juris Rn. 15; VG Berlin, B.v. 19.8.2016 – 6 L 417.16 A – juris Rn. 8; VG Freiburg, B.v. 12.8.2016 – A 3 K 1639/16 – juris Rn. 2; VG Regensburg, B.v. 19.7.2016 – RO 11 S 16.31399 – juris Rn. 13).
Zudem ist der vorliegende, gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch statthaft.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des vorliegend aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG folgenden gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Hierbei ist insbesondere auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen. Ist die Klage in der Hauptsache im Rahmen einer summarischen Prüfung offensichtlich erfolgreich, kann kein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug eines rechtwidrigen Bescheids bestehen. Andererseits kann der Antragsteller kein schutzwürdiges privates Interesse daran haben, von der Vollziehung eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben. Insoweit ist eine summarische Prüfung der Rechtslage geboten, aber auch ausreichend.
Der Maßstab des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, nach dem die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen, ist vorliegend nicht anwendbar; denn § 36 AsylG gilt ausweislich seiner amtlichen Überschrift nur bei Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und bei offensichtlicher Unbegründetheit, nicht jedoch im Fall der vorliegenden Einstellung nach § 33 AsylG. § 38 Abs. 2 AsylG hingegen enthält keine § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG entsprechende Regelung (VG Augsburg, B.v. 24.3.2017 – Au 7 S 17.30386 – juris Rn. 25).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers daran, von der Vollziehung des voraussichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben. Die Klage wird höchstwahrscheinlich erfolgreich sein. Die angegriffene Abschiebungsandrohung des Bundesamts erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen nicht vor, da sich die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, als rechtswidrig erweist.
Nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG stellt das Bundesamt das Asylverfahren ein, wenn der Asylantrag nach § 33 Abs. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, weil der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er untergetaucht ist. Nach allem Anschein ist die entsprechende Auskunft im AZR vom 22. Februar 2017 jedoch unrichtig. Zum einen bestätigt die Asylpatin des Antragstellers mit eidesstattlicher Versicherung vom 7. März 2017, dass er seit seiner Verlegung nach B** A… stets unter der ihn zugewiesenen Adresse wohnhaft gewesen sei. Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Äußerung bestehen nicht. Zudem konnte die Betreibensaufforderung des Gerichts unter der angegebenen Adresse an ihn zugestellt werden. Weiter teilte der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 2. Juni 2017 mit, auch der Hausmeister habe ihm gegenüber telefonisch bestätigt, dass der Antragsteller unter der angegebenen Adresse wohnhaft sei. Auch an diesen Aussagen erscheinen Zweifel nicht angezeigt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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