Verwaltungsrecht

z den Voraussetzungen einer Verfahrensduldung

Aktenzeichen  19 CE 21.6

Datum:
12.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2705
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 19 Abs. 4
AufenthG § 25a, § 60a Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG löst keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG und damit kein vorläufiges Bleiberecht aus.  (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verfahrensduldung kann zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach § 19 Abs. 4 GG erteilt werden, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann. Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis) oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Ermessensduldung) erfüllt sein.  (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 6 E 20.1334 2020-12-21 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,– EUR festgesetzt.

Gründe

Mit ihrer Beschwerde verfolgt die am 1. November 2005 geborene Antragstellerin, armenische Staatsangehörige (Einreise mit den Eltern in das Bundesgebiet im Jahr 2010, jeweils rechtskräftige Ablehnung der gestellten Asylanträge, Aufdeckung wahrheitswidriger behaupteter Identitäten und einer falschen Nationalität – Aserbaidschan – am 1.7.2020, u.a. Konkretisierung der Zielstaatsbestimmung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Richtung Armenien mit Bescheid vom 21.10.2020), ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung der Antragstellerin bis zur Entscheidung über die beantragte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu untersagen.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, ein Anspruch auf Duldung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes sei nicht gegeben, da die Erteilungsvoraussetzungen des § 25a AufenthG nicht vorlägen; die Antragstellerin sei zum maßgeblichen Zeitpunkt keine „geduldete Ausländerin“, materielle Duldungsgründe lägen nicht vor.
Die hiergegen gerichtete, zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
Die Antragstellerin rügt, es sei bereits unter dem 20. Oktober 2016 ein Antrag auf Erteilung von Aufenthaltstiteln gestellt worden. Gegen den ablehnenden Behördenbescheid sei Klage erhoben worden, der ablehnende Gerichtsbescheid vom 23. März 2020 befasse sich lediglich mit den Erteilungsvoraussetzungen des § 25b AufenthG. Die beantragte mündliche Verhandlung (nunmehriges Az. des Verwaltungsgerichts: B 6 K 20.643) habe bis heute nicht stattgefunden. Am 29. Juli 2020 habe die Antragstellerin explizit nochmal die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25a AufenthG beantragt. Die Antragstellerin habe keine Möglichkeit einen Duldungsanspruch aus dem Ausland zu betreiben. Denn falls sie zusammen mit ihrer Mutter abgeschoben werden sollte (freiwillige Ausreise des Vaters am 21.8.2020), könne diese im Erfolgsfalle nicht mehr nach Deutschland einreisen. Denn die Mutter der Antragstellerin habe lediglich einen Anspruch auf Duldung, solange sie in Deutschland zusammen mit der Antragstellerin lebe. Das Verwaltungsgericht behaupte, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. zum Zeitpunkt der Entscheidung eine Duldung vorliegen müsse und verweise dazu auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Diese Rechtsprechung sei nicht anwendbar. Es widerspreche dem Willen des Gesetzgebers, wenn man es in die Hände der Verwaltung oder des Gerichts lege, dass diese die Möglichkeit hätten, einzelne, bereits erfüllte Tatbestandsmerkmale nachträglich zu vernichten. Die Antragstellerin wäre auch unbestritten noch im Besitz einer Duldung gewesen, wenn das Verwaltungsgericht zeitnah über den Antrag auf mündliche Verhandlung betreffend den ablehnenden Gerichtsbescheid am 23. März 2020 verhandelt hätte. Zudem sei die Antragstellerin auch zum jetzigen Zeitpunkt noch im Besitz einer Verfahrensduldung, zumindest habe sie einen entsprechenden Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung. Die Antragstellerin werde jedenfalls aufgrund der Covid-Pandemie, die auch in Armenien herrsche, faktisch geduldet. Es liege ein tatsächliches Abschiebungshindernis vor.
Unter dem 11. Februar 2021 wiederholte und vertiefte die Antragstellerin ihr Vorbringen. Es werde ihr bereits entstandener Titelerteilungsanspruch vernichtet.
Diese Rügen greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch auf vorläufige Untersagung der Abschiebung glaubhaft gemacht hat. Die Antragstellerin hat voraussichtlich keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG, für dessen Erhalt ihr aus Art. 19 Abs. 4 GG zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ein Duldungsanspruch erwachsen könnte.
Nach § 25a Abs. 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält, er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat, der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird, es gewährleistet erscheint, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt. Nach der Gesetzesbegründung sollte mit § 25a AufenthG eine Bleiberechtsregelung geschaffen werden, um nachhaltige Integrationsleistungen, die trotz des fehlenden rechtmäßigen Aufenthalts von einem Geduldeten erbracht wurden, durch die Erteilung eines gesicherten Aufenthaltsstatus zu honorieren (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 1, 23).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG und damit kein vorläufiges Bleiberecht auslöst. Es widerspräche der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die die Dauer eines Erteilungsverfahrens eine Duldung vorzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24; OVG NRW, B.v. 2.5.2006 – 18 B 437/06 – juris Rn. 2). Zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes ist nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Ausnahme nur dann zu machen, wenn allein durch eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung der Erhalt des geltend gemachten und bestehenden Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG sichergestellt werden kann.
Diese Ausnahmesituation ist vorliegend nicht gegeben, da die Antragstellerin die Voraussetzungen nach § 25a AufenthG nicht erfüllt. Es handelt sich bei der vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellerin jedenfalls nicht um einen „geduldeten Ausländer“ im Sinne von § 25a Abs. 1 AufenthG. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Das gilt grundsätzlich auch für die Voraussetzung, dass ein Antragsteller ein „geduldeter Ausländer“ sein muss (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 23 zu § 25b AufenthG; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 4.3.2020 – OVG 6 S 10/20 – juris Rn. 9; Hecker in Beck OK AuslR, Stand 1.10.2020, § 25a AufenthG, Rn. 4; Röder in Beck OK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.10.2020, § 25a AufenthG, Rn. 7; Röcker in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG, Rn. 9). Ein Ausländer ist geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung in der Tatsacheninstanz ist die Antragstellerin nicht mehr geduldet (sie ist seit dem 9.11.2020 nicht mehr im Besitz einer gültigen Duldung) und das Vorliegen materieller Duldungsgründe ist nicht ersichtlich:
Auf einen materiellen Duldungsanspruch wegen Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) kann sich die Antragstellerin nicht berufen. Der Abschiebung stehen weder tatsächliche noch rechtliche Hindernisse entgegen, zumal auch die Mutter der Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig ist und somit eine Trennung von Antragstellerin und Mutter nicht zu befürchten ist. Aus den Reisebeschränkungen infolge der Corona-Pandemie ergibt sich ebenfalls kein zwingender Grund für die Aussetzung der Abschiebung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit, da es sich insoweit regelmäßig um bloß zeitweilige Behinderungen bzw. Verzögerungen handelt. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass der Antragsgegner vorträgt, es seien im November und Dezember 2020 Sammelrückführungsmaßnahmen nach Armenien durchgeführt worden und es könnten reguläre Linienflüge nach Armenien gebucht werden.
Nicht ersichtlich ist auch ein Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Wege der Ermessensreduzierung auf Null. Zwar kann grundsätzlich der Abschluss einer Schul- oder Berufsausbildung einen dringenden persönlichen Grund im Sinne der genannten Vorschrift begründen, sofern sich der Schüler im letzten Schuljahr befindet oder wenn das Schuljahr nur noch wenige Wochen dauert (vgl. Kluth/Breitenbach in Kluth/Heusch, Beck OK AuslR, Stand 10/2020, AufenthG § 60a Rn. 20; Dollinger in Bergmann/Dienelt, a.a.O. § 60a Rn. 42). Die Antragstellerin befindet sich nach dem vorgelegten Zwischenbericht über den Leistungsstand vom 26. November 2020 in der 9. Klasse eines Gymnasiums. Mithin ist nicht von einem dringenden persönlichen Grund bzw. zumindest nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen.
Soweit die Antragstellerin (sinngemäß) vorträgt, sie sei deswegen „geduldete Ausländerin“, weil im Verfahren des Verwaltungsgerichts B 6 K 20.643 unbeschränkte Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln gestellt worden seien, das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass (lediglich) eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG beantragt worden sei, ist zum einen festzuhalten, dass (worauf der Antragsgegner zu Recht hinweist) wegen des sogenannten Trennungsprinzips (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, a.a.O. § 81 Rn. 7) neue Aufenthaltszwecke (hier auf der Grundlage des § 25a AufenthG) nicht nachträglich erstmalig in gerichtliche Verfahren eingebracht werden können (vgl. z.B. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 22.3.2018 – OVG 11 S 19.18 – juris Rn. 2). Zum anderen ergibt sich aus dem Vortrag der Antragstellerin auch kein Anspruch auf Erteilung einer sogenannten Verfahrensduldung:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Dauer von Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahren nicht stets eine sogenannte Verfahrensduldung zu erteilen. Sie kann aber zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach § 19 Abs. 4 GG erteilt werden, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einen möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann. Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis) oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Ermessensduldung) erfüllt sein (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 30). Diese Voraussetzungen liegen (wie ausgeführt) nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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