Verwaltungsrecht

Zu den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist (hier wegen Anwaltsverschuldens verneint)

Aktenzeichen  11 CS 16.1503

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 146 Abs. 4 S. 1, S. 4, § 60 Abs. 1
ZPO ZPO § 85 Abs. 2

 

Leitsatz

1 In der Rechtsprechung ist hinreichend geklärt, dass ein Rechtsanwalt zwar unter bestimmten Voraussetzungen die Berechnung, Notierung und Überwachung von im Bürobetrieb häufig vorkommenden Fristen an gut ausgebildetes und sorgfältig beaufsichtigtes Büropersonal delegieren darf, den Fristablauf aber dann selbst nachprüfen muss, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird. (redaktioneller Leitsatz)
2 Liegt dem anwaltlichen Bevollmächtigten die Akte vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist vor, kann und muss es ihm – gerade wenn die angefochtene Entscheidung mit Eingangsstempel versehen ist – auffallen, wenn das auf der Rechtsbehelfsbelehrungsseite notierte Fristende falsch ist. (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Rechtsanwalt hat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs die Pflicht, die Fristberechnung in der Handakte zu überprüfen, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 S 16.1024 2016-07-05 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
Die Beschwerde wird verworfen.
II.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 8.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde war gemäß § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO als unzulässig zu verwerfen, da sie entgegen § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe der angefochtenen Entscheidung begründet wurde. Die Monatsfrist begann, da der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 5. Juli 2016 mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehen war und er den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 12. Juli 2016 formgerecht zugestellt wurde, gemäß § 187 Abs. 1 BGB i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO und § 57 VwGO am 13. Juli 2016 zu laufen; sie endete gemäß § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO und § 57 VwGO am Freitag, den 12. August 2016, um 24.00 Uhr. Bis dahin ging dem nach § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO allein empfangszuständigen Bayerischen Verwaltungsgerichtshof keine Begründung dieses Rechtsmittels zu.
Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der Beschwerdebegründungsfrist ist nicht zu gewähren. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegen nicht vor, weil das Fristversäumnis nicht unverschuldet war. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag oder von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist „Verschulden“ i. S. v. § 60 VwGO anzunehmen, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (st.Rspr.; vgl. etwa BVerwG, B. v. 6.6.1995 – 6 C 13/93 – BayVBl 1996, 284). Das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines bevollmächtigten Rechtsanwalts, steht dabei gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. Ein schuldhaftes Handeln von Hilfspersonen des bevollmächtigten Rechtsanwalts, insbesondere des Büropersonals, ist als solches dem bevollmächtigten Rechtsanwalt und damit auch der Partei nicht zurechenbar, da eine dem § 278 BGB entsprechende Vorschrift über die Haftung für das Verschulden von Erfüllungsgehilfen im Prozessrecht fehlt. Allerdings können Fehler von Hilfspersonen auf eine in der eigenen Verantwortungssphäre des bevollmächtigten Rechtsanwalts liegende Ursache zurückzuführen sein, wenn ihn unter dem Gesichtspunkt des sog. Organisationsverschuldens ein eigener Schuldvorwurf trifft (vgl. BayVGH, B. v. 16.10.2012 – 4 B 11.2325 – juris; OVG NW B. v. 24.6.2011 – 1 A 1756/09 – juris Rn. 46).
In der Rechtsprechung ist hinreichend geklärt, dass ein Rechtsanwalt zwar unter bestimmten Voraussetzungen die Berechnung, Notierung und Überwachung von im Bürobetrieb häufig vorkommenden Fristen an gut ausgebildetes und sorgfältig beaufsichtigtes Büropersonal delegieren darf, den Fristablauf aber dann selbst nachprüfen muss, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (st. Rspr., z. B. BVerfG, B. v. 27.3.2002 – 2 BvR 636/01 – NJW 2002, 3014; BGH, B. v. 13.7.2015 – AnwZ (Brfg) 20/15 – juris Rn. 5; BVerwG, B. v. 23.6.2015 – 10 BN 3.14 – juris Rn. 6; v. 7.3.1995 – 9 C 390.94 – BayVBl 1995, 570; BayVGH, B. v. 17.10.2007 – 21 ZB 07.1741 – juris Rn. 4; NdsOVG, B. v. 20.1.2010 – 2 NB 400/09 – NJW 2010, 1391; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 60 Rn. 17 m. w. N.; Bier in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 60 Rn. 46). Dabei darf der Rechtsanwalt sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken (BGH, B. v. 10.3.2011 – VII ZB 37/10 – NJW 2011, 1597 Rn. 12; v. 8.2.2010 – II ZB 10/09 – MDR 2010, 533 und v. 22.1.2008 – VI ZB 46/07 – NJW 2008, 1670 Rn. 6).
Das hat der Bevollmächtigte der Antragstellerin hier versäumt. Dem Bevollmächtigten der Antragstellerin war die Akte zur Einlegung der Beschwerde entsprechend der richtig berechneten Beschwerdefrist einige Zeit vor Ablauf dieser Frist am 26. Juli 2016, nämlich am 19. Juli 2016, vorgelegt worden. Er hat dann auch rechtzeitig per Telefax am 26. Juli 2016 Beschwerde eingelegt. Da ihm die Akte also lange vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist am 12. August 2016 vorlag, hätte ihm – gerade angesichts des auf der ersten Seite des Beschlusses des Verwaltungsgerichts mit Stempel gekennzeichneten Eingangs der Entscheidung in der Kanzlei – auffallen müssen und können, dass das auf der Rechtsbehelfsbelehrungsseite der Entscheidung ebenfalls notierte Ablaufdatum für die Beschwerdebegründungsfrist (23.8.2016, weil die Kanzleiangestellte irrtümlich angenommen hatte, die Beschwerdebegründungsfrist ende vier Wochen nach der Beschwerdefrist) falsch ist.
Jedenfalls aber hatte er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs die Pflicht, die Fristberechnung in der Handakte zu überprüfen, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird. Aus der vom Bevollmächtigten der Antragstellerin vorgelegten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. Januar 2013 (XII ZB 167.11 – NJW-RR 2013, 1010) ergibt sich gerade nichts anderes. Der Bundesgerichtshof verweist in der Entscheidung auf seine (oben zitierte) ständige Rechtsprechung (Leitsatz a und S. 6 f.). Im dortigen Fall war dem Rechtsanwalt die Akte aber nicht im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt worden, sondern dieser hatte ohne die Vorlage der Akte einen (nicht fristgebundenen) Verfahrenskostenhilfeantrag gestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3, 46.5 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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