Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  11 B 19.33187

Datum:
10.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 139
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 80

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 9 K 19.30036 2019-04-18 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

Es ist Beweis zu erheben durch Einholung von Auskünften
– des Auswärtigen Amts, Werderscher Markt 1, 10117 Berlin
– von Amnesty International Deutschland e.V., Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
– der Schweizer Flüchtlingshilfe, Weyermanns straße 10, Postfach, CH-3001 Bern zu folgenden Fragen:
1. Drohen Personen, die nach den Riten der Zeugen J. getauft sind (sog. Gläubigentaufe), alleine wegen der Taufe (auch sog. inaktive getaufte Mitglieder) in der Russischen Föderation z.B. Wohnungsdurchsuchungen, die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Untersuchungshaft, Sorgerechtsentziehungen, Ausreiseverbote, Hausarrest, strafrechtliche Verurteilung oder andere staatliche Maßnahmen und/oder drohen ihnen alleine wegen der Taufe Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure?
2. Drohen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J., die ihren Glauben gemeinsam mit anderen Gläubigen im privaten Rahmen (z.B. Treffen in Privatwohnungen) ausüben, in der Russischen Föderation wegen dieser Glaubensausübung z.B. Wohnungsdurchsuchungen, die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Untersuchungshaft, Sorgerechtsentziehungen, Ausreiseverbote, Hausarrest, strafrechtliche Verurteilung oder andere staatliche Maßnahmen und/oder drohen ihnen wegen der privaten Glaubensausübung Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure?
3. Drohen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J., die ihren Glauben öffentlich ausüben, z.B. durch Missionieren (sog. im Predigtwerk aktive Mitglieder), in der Russischen Föderation wegen dieser Glaubensausübung z.B. Wohnungsdurchsuchungen, die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Untersuchungshaft, Sorgerechtsentziehungen, Ausreiseverbote, Hausarrest, strafrechtliche Verurteilung oder andere staatliche Maßnahmen und/oder drohen ihnen wegen der öffentlichen Glaubensausübung Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure?
4. Drohen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J., die in der mittlerweile in der Russischen Föderation verbotenen Organisation der Zeugen J. eine hervorgehobene Stellung inne hatten (z.B. Älteste, Gehilfen der Ältesten [sog. Dienstamtgehilfen]), dort alleine deswegen z.B. Wohnungsdurchsuchungen, die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Untersuchungshaft, Sorgerechtsentziehungen, Ausreiseverbote, Hausarrest, strafrechtliche Verurteilung oder andere staatliche Maßnahmen und/oder drohen ihnen alleine wegen dieser früheren Stellung in der Organisation Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure?
5. In welchem Ausmaß kommt es ggf. zu Vorkommnissen i.S.d. Fragen 1. bis 4.? In welchem Ausmaß kommt es insbesondere zu strafrechtlichen Verurteilungen? Werden Geld- oder Freiheitsstrafen verhängt und in welcher Höhe? Werden Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt und auch vollstreckt?
6. Sind die staatlichen Behörden in der Russischen Föderation bereit und fähig, effektiven Schutz vor Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure zu bieten? Werden überhaupt Anzeigen erstattet? Gehen Polizei und Staatsanwaltschaft Anzeigen Betroffener nach? Kommt es zu Ahndungen von Übergriffen durch die Justiz, bei Exzessen ggf. auch gegenüber staatlichen Akteuren?
7. Wie viele Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. haben die Russische Föderation seit dem Verbot im Jahre 2017 verlassen? In welche Länder sind sie ausgereist? Sind die Zahlen der Ausgereisten hinsichtlich einzelner Länder bekannt?
8. In welchem Ausmaß verzichten Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. in der Russischen Föderation aus Angst vor Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden oder vor Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure auf die öffentliche Glaubensausübung? Wie groß ist die Gruppe der Zeugen J., die ihren Glauben weiterhin öffentlich praktizieren?
9. In welchem Ausmaß verzichten Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. in der Russischen Föderation aus Angst vor Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden oder vor Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure auch auf die private Glaubensausübung? Wie groß ist die Gruppe der Zeugen J., die ihren Glauben weiterhin privat praktizieren?
10. Wird die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (NWÜ) als extremistisch eingestuft? Wenn ja, welche Konsequenzen drohen bei Besitz oder Verbreitung dieser Schrift?
11. Ist es für Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. möglich, den Wehrdienst zu verweigern oder einen zivilen Ersatzdienst abzuleisten? Wenn ja, besteht diese Möglichkeit auch ohne den Glauben offenzulegen?
12. Gibt es regionale Unterschiede? Wie stellt sich die Situation in größeren Städten (insbesondere St. Petersburg und Moskau) dar?

Gründe

I.
Die Kläger sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. Sie reisten am 6. November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten Asylanträge.
Der Kläger zu 1 gab an, er sei seit 21. Mai 2005 getaufter Zeuge J. und einer von vier Ältesten in der Gemeinde von Kemerovo mit ca. 100 Mitgliedern gewesen. Er habe im Rahmen dieser Tätigkeit Treffen organisiert und geleitet, gepredigt, Predigerhilfe geleistet und Taufen mitorganisiert. Er sei dafür verantwortlich gewesen, dass die Stadtteile zwischen den Glaubensschwestern und -brüdern aufgeteilt werden und habe auch geprüft, dass Versammlungen organisiert und durchgeführt werden. Nach dem Verbot der Zeugen J. habe er zuerst Versammlungen in seiner Wohnung durchgeführt. Während der Versammlungen habe jemand geklingelt, er habe die Türe aber nicht geöffnet und es sei nichts passiert. Am 30. Oktober 2018 habe er eine Kurzpredigt in zwei Gruppen hinter einem Geschäft im Wald abhalten wollen. Nachdem dort aber ein Fahrzeug mit offenen Fenstern im Haltverbot gestanden sei, habe er die Predigt nicht durchgeführt. Er habe Angst gehabt, dass er verhaftet werde oder ihnen die Tochter (die Klägerin zu 3) weggenommen werde.
Die Klägerin zu 2 gab an, sie sei seit 17. Mai 2009 getaufte Zeugin J. und habe als allgemeine Pionierin fungiert. Zuletzt sei sie im November 2018 missionieren gewesen. Sie habe dabei jedoch Angst gehabt, insbesondere dass ihnen die Tochter (die Klägerin zu 3) weggenommen werde.
Das Bundesamt für … lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anträge auf Asylanerkennung ab. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Die Kläger seien von keinen staatlichen oder nichtstaatlichen Repressionen betroffen gewesen.
Das Verwaltungsgericht Bayreuth hat die gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage abgewiesen. Die Kläger seien nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Den Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Zeugen J. drohe dort keine Gruppenverfolgung. Auch eine Verfolgung der Kläger wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. sei nicht beachtlich wahrscheinlich. Es handele sich nur um sehr wenige Vorfälle.
Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung und machen unter Vorlage zahlreicher Pressemeldungen und Berichten der Dachorganisation der Zeugen J. und von Nichtregierungsorganisationen geltend, Mitglieder der Zeugen J. würden in der Russischen Föderation überall wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt.
II.
Der Senat hat die Berufung auf Antrag der Kläger wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Im Berufungsverfahren wird insbesondere zu klären sein, ob Zeugen J. in der Russischen Föderation alleine wegen der Taufe oder einer bestimmten Stellung in der Organisation der Zeugen J. eine Gruppenverfolgung droht oder ob den Klägern bei Rückkehr eine individuelle Verfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit droht. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob für die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J., die ihren Glauben trotz Repressalien in der Russischen Föderation weiter privat oder öffentlich praktizieren, ein reales Verfolgungsrisiko besteht. Zur Klärung dieser Fragen bedarf es der Einholung aktueller Auskünfte der benannten Stellen zu den tatsächlichen Verhältnissen in der Russischen Föderation.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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