Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Lage der Jesiden im Irak

Aktenzeichen  M 19 K 16.32860

Datum:
2.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20234
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

1. Keine Gruppenverfolgung der Glaubensgemeinschaft der Jesiden im Irak (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Keine Gruppenverfolgung der Glaubensgemeinschaft der Jesiden in Kurdistan-Irak. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass der IS die Gruppe der Jesiden in der Provinz Ninive weiterhin systematisch verfolgt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
1. Ein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz besteht nicht.
a) Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AslyG zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a) AsylG) und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.
b) Weitere Einzelheiten regeln die §§ 3a – d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 20. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Erforderlich ist demnach eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, 2 AsylG, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
c) Maßgeblich für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32). Dieser setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32; BayVGH, U.v. 14.2.2017 – 21 B 16.31001 – juris Rn. 21).
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, der keine nationale Entsprechung hat, zugute (vgl. BVerwG, B.v. 15.8.2017 – 1 B 123.17 u. a. – juris Rn. 8; B.v. 11.7.2017 – 1 B 116.17 u. a. – juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ist der Ausländer hingegen unverfolgt ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt (VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 – 15 A 748/19 – juris Rn. 20).
d) Die vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gründe, die er im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2020 ergänzt hat, rechtfertigen gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Eine ausschließlich an individuelle, in der jeweiligen Person des Klägers liegende Umstände anknüpfende Verfolgungsgefahr (sog. anlassgeprägte Einzelverfolgung) wird nicht vorgetragen.
Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Jesiden, die im Irak zu den ethnisch-religiösen Minderheiten gehört, vermag die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu rechtfertigen. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 5 AsylG) ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAs 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 = BayVBl 2007, 151; BayVGH,B.v. 16.10.2019 – 5 ZB 19.33239 – juris Rn. 7). Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen (vgl. NdsOVG, U.v. 22.10.2019 – 9 LB 130/19 – juris Rn. 42). Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze gelten auch bei der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG (vgl. VG Köln, U.v. 16.9.2019 – 18 K 1311/19.A – juris Rn. 35).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze und unter Würdigung der allgemeinkundigen und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Jesiden in der Provinz Dohuk, aus der der Kläger stammt, nicht (mehr) beachtlich wahrscheinlich ist. Dies gilt selbst dann, wenn man zu ihren Gunsten annimmt, dass sie vor ihrer Ausreise aus dem Irak als Jesiden von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen sind. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU wäre jedenfalls widerlegt.
Das Gericht schließt sich der überwiegenden Rechtsprechung an, wonach eine Gruppenverfolgung der Jesiden in Kurdistan-Irak und damit auch in der Provinz Dahuk nicht anzunehmen ist (vgl. NdsOVG, U.v. 13.8.2019 – 9 LB 147/19 – juris Rn. 57 ff.).
Dies gilt auch, stellt man auf die Provinz Ninive ab, in der der Kläger vormals gelebt hat (vgl. VG Köln, U.v. 16.9.2019 – 18 K 1311/19.A – juris Rn. 39; NdsOVG, U.v. 30.7.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 52 ff./115 ff.; VG Augsburg, U.v. 22.10.2018 – Au 5 K 18.31266 – juris Rn. 41; VG Hamburg, U.v. 20.2.2018 – 8 A 7173/16 – juris 40; vgl. a. BayVGH, B.v. 16.10.2019 – 5 ZB 19.33239 – juris Rn. 7). Der IS hat sein Herrschaftsgebiet in der Provinz Ninive vollständig verloren und hält dort kein Territorium mehr. Es bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass der IS die Gruppe der Jesiden in der Provinz Ninive weiterhin systematisch verfolgt. Vielmehr sind seine Anschläge primär gegen irakische und kurdische Sicherheitskräfte und Milizen gerichtet. Entsprechende Gewalttaten richten sich auch gegen Regierungsoffizielle und Stammesführer bzw. allgemein gegen die Zivilbevölkerung zur Destabilisierung. Sprengstoffanschläge treffen daneben wahllos Zivilpersonen, insbesondere große Menschenansammlungen wie auf Märkten und anderen öffentlichen Plätzen. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren für die Zivilbevölkerung, die nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpfen.
Das durch Spannungen geprägte Verhältnis zwischen Jesiden und arabischen sowie kurdischen Muslimen begründet die Annahme einer Gruppenverfolgung ebenfalls nicht (vgl. NdsOVG, U.v. 30.7.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 125 ff.; VG Köln, U.v. 16.9.2019 – 18 K 1311/19.A – juris Rn. 52). Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung von staatlicher Seite liegen ebenfalls nicht vor.
Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Jesiden. Ist – wie hier – eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. NdsOVG, U.v. 22.10.2019 – 9 LB 130/19 – juris Rn. 80; NdsOVG, U.v. 30.7.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 129 ff.). Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger etwa wegen einer herausgehobenen Tätigkeit besonders gefährdet sein wird.
2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).


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