Verwaltungsrecht

Zulassung der Berufung im Asylstreitverfahren wegen Divergenz (Afghanistan)

Aktenzeichen  13a ZB 18.32365

Datum:
16.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34600
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
VwGO § 166
ZPO § 114, § 119 Abs. 1 S. 2, § 121 Abs. 1

 

Leitsatz

Der Zulassungsgrund der Divergenz i.S. des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG setzt voraus, dass die angefochtene Entscheidung ausdrücklich oder konkludent auf einem abstrakten Rechts- oder Tatsachensatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechts- oder Tatsachensatz steht, den das übergeordnete Gericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat (Rn. 4). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 1 K 16.32651 2018-08-07 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Dem Kläger wird für das Zulassungsverfahren und das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M. K. in W. bewilligt.
II. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO und § 121 Abs. 1 ZPO. Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO ist in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. So liegt der Fall hier. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe (§ 166 VwGO i.V.m. § 115 ZPO) sind vorliegend gegeben.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 7. August 2018 hat Erfolg.
Die Beklagte hat ihren Zulassungsantrag damit begründet, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs entscheidungserheblich abweiche (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG). Das Verwaltungsgericht sei zu dem Ergebnis gelangt, dass im Fall des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliege und dies wie folgt begründet: Ein Abschiebungsverbot liege vor, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung derzeit für den Regelfall davon ausgehe, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahr bestehe, denn der Kläger befinde sich in einer besonderen Ausnahmesituation. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger in Afghanistan ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich alleine gestellt wäre. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen. Erschwerend sei zu berücksichtigten, dass der Kläger nur über eine elementare Grundbildung verfüge sowie bisher keinen Beruf erlernt habe und zu keiner Zeit allein auf sich gestellt gelebt habe. Er habe zudem die prägende Zeit seines Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran und in Europa verbracht. Auch wenn das Verwaltungsgericht angebe, die Maßstäbe der berufungsgerichtlichen Spruchpraxis im Grundsatz anzulegen, setzte es sich mit seiner Ansicht in Widerspruch zur angeführten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 3.11.2017 – 13a ZB 17.30625; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 13 m.w.N.), nach der eine Rückkehr für alleinstehende arbeitsfähige Afghanen ohne Unterhaltspflichten grundsätzlich ohne Verletzung von Art. 3 EMRK oder Extremgefährdung möglich sei, ohne dass es auf eine Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen in Afghanistan ankäme. Auch dies stelle eine Divergenz i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG dar. Vorliegend habe das Verwaltungsgericht als maßgeblichen Grund der Abweichung eine fehlende Vertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten und Lebensumständen in Afghanistan gesehen. Über die in der Spruchpraxis des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stets berücksichtigten Aspekte des fehlenden aufnahmebereiten Umfelds, der fehlenden Grundbildung und beruflichen Qualifikation sowie fehlender nennenswerter Vermögenswerte hinausgehende Umstände, die gerade für den Kläger ein besonderes Gefahrenmoment bilden würden, habe das Verwaltungsgericht nicht festgestellt. Geklärt sei in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch, dass den Anspruch auf Abschiebungsschutz auch nicht der Umstand begründe, dass der afghanische Staatsangehörige im Iran aufgewachsen sei (BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; U.v. 24.10.2013 – 13a B 13.30031 – juris). Das angefochtene Urteil beruhe auch auf der Abweichung, da die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht auf Grundlage einer inhaltlich anderen Quellenlage erfolgt und entscheidungserheblich gewesen seien.
Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) setzt voraus, dass die angefochtene Entscheidung ausdrücklich oder konkludent auf einem abstrakten Rechts- oder Tatsachensatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechts- oder Tatsachensatz steht, den das übergeordnete Gericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Eine konkludente Abweichung liegt vor, soweit ein Gericht sich sinngemäß durch die konkrete Rechtsanwendung zu einem Rechts- oder Tatsachensatz eines übergeordneten Gerichts in Widerspruch gesetzt hat. Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das übergeordnete Gericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge jedoch nicht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 29.8.2018 – 3 B 24.18 – VRS 134, 157 – juris Rn. 7; B.v. 9.4.2014 – 2 B 107.13 – NVwZ 2014, 1174 – juris Rn. 3; B.v. 21.7.1998 – 6 B 44.98 – DVBl 1998, 1350 – juris Rn. 2).
Hiervon ausgehend ist vorliegend der Zulassungsgrund der Divergenz gegeben.
Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil den konkludenten Rechtssatz aufgestellt, dass im Fall alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger junger afghanischer Männer ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben sei, soweit diese in Afghanistan über kein familiäres Unterstützungsnetzwerk verfügten, deren Familie in Afghanistan über keinen Grundbesitz verfüge, diese lediglich über eine elementare Grundbildung verfügten, stets im Familienverbund gelebt und nicht auf sich alleine gestellt gewesen seien und die prägende Zeit ihres Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran und Europa verbracht hätten (siehe zum Ganzen: UA S. 9 ff.). Dieser Rechtssatz steht im objektiven Widerspruch zur von der Beklagten benannten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 3.11.2017 – 13a ZB 17.30625 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris Rn. 13 m.w.N.; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; U.v. 24.10.2013 – 13a B 13.30031 – juris; siehe zum Ganzen auch BayVGH, U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 – juris), an der der Verwaltungsgerichtshof auch im Lichte aktueller Erkenntnismittel festhält (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14 ff. in Fortführung der bisherigen Rechtsprechung; vgl. auch BayVGH, B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970 – juris Rn. 6 m.w.N.).
Das Verfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG); der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.


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