Verwaltungsrecht

Zulassungsanspruch zum Studium der Humanmedizin

Aktenzeichen  8 E 19.10020, 8 E 19.10021, 8 E 19.10022, 8 E 19.10023, 8 E 19.10024, 8 E 19.10025, 8 E 19.10026, 8 E 19.10027, 8 E 19.10028, 8 E 19.10029, 8 E 19.10030, 8 E 19.10031, 8 E 19.10032, 8 E 19.10033, 8 E 9.10034, 8 E 19.10035

Datum:
22.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27965
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayHZG Art. 11a
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 S. 1
HRG § 29
HZulEinrErrStV Art. 6 Abs. 2 S. 2
VwGO § 123

 

Leitsatz

Art. 6 Abs. 2 S. 2 des Staatsvertrags über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5. Juni 2008 i.V.m. den landesrechtlichen Vorschriften verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (Anschluss an OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006 – 2 NB 347/06 – juris).
1. Wird der Studiengang Humanmedizin völlig neu an einer Hochschule eingerichtet (sog. Modellstudiengang), muss die jährliche Aufnahmekapazität nicht exakt berechnet werden (vgl. BeckRS 2007, 20689). Die Zulassungszahl kann gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 Staatsvertrag iVm § 57 HZV abweichend von Satz 1 Staatsvertrag iVm §§ 43 bis 56 HZV durch den Gesetzgeber festgesetzt werden.  (Rn. 16 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag iVm Art. 11a Satz 2 BayHZG gemäß Art. 31 GG gegen § 29 Abs. 2 HRG oder Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG, den Grundsatz der erschöpfenden Nutzung der Ausbildungskapazitäten verstoßen (vgl. zu Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag vgl. BeckRS 2007, 20689). Mit der Schaffung eines neuen Studienganges wird die Kapazität nicht eingeschränkt, sondern geschaffen. (Rn. 20 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Normen sind verfassungskonform so auszulegen, dass die Kapazitätsermittlung gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 Staatsvertrag zu erfolgen hat, soweit der Modell- bzw. Erprobungscharakter eines neuen Studiengangs nicht beeinträchtigt wird. Diese Abweichungsbefugnis darf allerdings nicht beliebig bzw. willkürlich umgesetzt werden. (BeckRS 2004, 23361). Mit der Einrichtung eines neuen Studiengangs wird kein Ausbildungsluxus oder eine Bedarfslenkung betrieben (vgl. z.B. OVG Hamburg BeckRS 9998, 31700), so dass keine Anhaltspunkte für eine willkürliche Entscheidung vorliegen.  (Rn. 24 – 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die vorstehend unter ihren Aktenzeichen aufgeführten Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Anträge werden abgelehnt.
III. Die Kosten des jeweiligen Verfahrens hat der jeweilige Antragsteller zu tragen.
IV. Der Streitwert wird für jedes Verfahren auf jeweils 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zum Studium der Humanmedizin an der Universität … nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2019/2020 zugelassen zu werden.
An der medizinischen Fakultät der Universität … ist ab dem Wintersemester 2019/2020 der Modellstudiengang Humanmedizin eingerichtet. Der Studiengang ist nicht in eine vorklinische Phase und eine darauf folgende klinische Phase gegliedert. Vorklinische, grundlagenwissenschaftliche und klinische Inhalte werden integriert unterrichtet.
Die Antragsteller sind im Besitz einer Hochschulzugangsberechtigung. Sie bewarben sich zum Wintersemester 2019/2020 erfolglos über die Stiftung für Hochschulzulassung um eine Zulassung zum Studium im 1. Fachsemester. Über die von den Antragstellern bei der Universität … beantragten Zuweisungen jeweils eines Studienplatzes im Fach Humanmedizin im 1. Fachsemester für das Wintersemester 2019/2020 außerhalb der festgesetzten Kapazität ist bislang nicht entschieden worden.
Die Antragsteller ließen jeweils am 14. Oktober 2019 beantragen,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den jeweiligen Antragsteller vorläufig im Studiengang Humanmedizin, 1. Fachsemester, hilfsweise beschränkt auf den vorklinischen Ausbildungsabschnitt gemäß der Sach- und Rechtslage des Wintersemesters 2019/2020 zuzulassen.
Zur Begründung wurde jeweils vorgetragen, dass die Kapazität für den Studiengang Humanmedizin an der Universität … unzureichend ausgelastet sei.
Der Antragsgegner hat sich im Laufe der Verfahren nicht geäußert.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Die zulässig erhobenen Anträge sind jeweils weder im Haupt- noch im Hilfsantrag begründet. Die Antragsteller können jeweils keinen Anspruch darauf geltend machen, an der Universität … zum Studium im Studiengang Humanmedizin zugelassen zu werden.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (Regelungsanordnung).
Eine derartige einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 46 ff.).
1. Der Anspruch auf Zulassung zum Studium der Humanmedizin richtet sich nach Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip. Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, eine Ausbildungsstätte frei zu wählen. Schafft der Staat mit öffentlichen Mitteln Ausbildungseinrichtungen, muss er jedem Bürger, der die subjektiven Zugangsvoraussetzungen erfüllt, den freien und gleichen Zugang zu ihnen gewährleisten (vgl. hierzu und zum Folgenden grundlegend: BVerfG, U.v. 18.7.1972 – 1 BvL 32/70 u.a. – BVerfGE 33, 303, 331 f; VG Oldenburg, B.v. 4.12.2012 – 12 C 4164/12 – juris). Der Zugang zu den vorhandenen Ausbildungsstätten darf nur unter strengen formell- und materiell rechtlichen Voraussetzungen beschränkt werden (BVerfG, B.v. 22.10.1991 – 1 BvR 393/85 – BVerfGE 85, 36 ff.). Die Einschränkungen sind nur durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes verfassungsrechtlich statthaft. Materiell rechtlich ist die Grundrechtseinschränkung nur verfassungsgemäß, wenn ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut, hier die Funktionsfähigkeit der Hochschule in Wahrnehmung ihrer Aufgabe in Forschung, Lehre und Studium, geschützt werden soll. Die Zulassungsbeschränkung darf somit nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungsstätten angeordnet werden.
Dem sich hieraus ergebenden Erfordernis einer bundeseinheitlichen Regelung der Kapazitätsermittlung und Kapazitätsfestlegung hat der Gesetzgeber Rechnung getragen und für die Auswahl der Bewerber und für den Bereich der Ermittlung der Ausbildungskapazität im Hochschulrahmengesetz (HRG) eine gesetzliche Regelung geschaffen. Die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen haben die Länder durch den Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5. Juni 2008 (im Folgenden: Staatsvertrag) in Verbindung mit den jeweiligen Zustimmungsgesetzen bzw. Zustimmungsbeschlüssen (für Bayern: Zustimmungsbeschluss vom 5. Mai 2009, GVBl. S. 186) der Landesgesetzgeber umgesetzt. In § 29 Abs. 1 HRG ist die Entwicklung von einheitlichen Maßstäben zur Ermittlung der Kapazität festgeschrieben. Der Staatsvertrag enthält in Art. 6 Abs. 3, 4 und 5 Grundsätze der Kapazitätsermittlung, die in den Ländern durch Kapazitätsverordnungen (in Bayern durch Verordnung über die Hochschulzulassung an den staatlichen Hochschulen in Bayern [Hochschulzulassungsverordnung – HZV] vom 18. Juni 2007 [GVBl. S. 401], zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. April 2018 [GVBl., S. 277]) konkretisiert worden sind. Das Gebot der Erschöpfung der Ausbildungskapazität ist ausdrücklich in § 29 Abs. 2 HRG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag sowie in § 38 Abs. 1 HZV wiedergegeben. Abweichungen erlaubt § 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag für die Erprobung neuer Studiengänge und -methoden (vgl. § 57 HZV). Für zulassungsbeschränkte Studiengänge regelt das Bayerische Hochschulzulassungsgesetz (BayHZG) die Studienplatzvergabe. Danach werden die Studienplätze im Auswahlverfahren der Stiftung für Hochschulzulassung oder in einem örtlichen Auswahlverfahren vergeben. § 8 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BayHZG ermächtigt das Staatsministerium, durch Verordnung die Festsetzung der Zulassungszahlen zu regeln.
2. Die Zulassung zum Studiengang Medizin an der Universität … während des Aufbaus der Medizinischen Fakultät ist in Art. 11a BayHZG geregelt. Danach erfolgt die Zulassung nur, soweit ein Studienangebot vorhanden ist. In Satz 2 der Vorschrift wird die Zahl der Zulassungen zu den ersten vier Wintersemestern ab Aufnahme des Studienbetriebs auf jeweils 84 festgesetzt. Der insoweit eindeutige Wortlaut spricht für eine gesetzlich festgelegte Kapazitätsbeschränkung. Auch aus der Begründung zum Gesetzesentwurf (LT-Drs. 17/20989 S. 14) ergibt sich, dass diese Festsetzung abschließend ist. Dort heißt es, dass der Wissenschaftsrat die Kapazitätsplanung für das Projekt in seiner Stellungnahme gewürdigt und sie ausdrücklich als plausibel bewertet hat. Die gesetzliche Festlegung der Ausbildungskapazität während der Aufbauphase diene der Rechtssicherheit und schaffe klare Rahmenbedingungen für den Aufbau der Fakultät. Der Gesetzgeber hatte damit nachvollziehbare Gründe für die fragliche Festsetzung. Da es hier nicht um die Einschränkung bestehender Kapazitäten, sondern um die Schaffung neuer Kapazitäten ging, hatte er aus haushaltsrechtlicher Sicht Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang er Haushaltsmittel für den neuen Studiengang widmen wollte. Der Antragsgegner hat in zahlreichen anderen inhaltsgleichen Verfahren, die bei Gericht anhängig (gewesen) sind, in plausibler Weise dargelegt, dass erhebliche räumliche, personelle und organisatorische Engpässe bestehen. Die ersten Gebäude für die Medizinische Fakultät sollen frühestens 2023 fertiggestellt werden, die Besetzung der Lehrstühle ist noch nicht gesichert. Der damit verbundene Kapazitätsengpass ließ sich innerhalb des gewählten Studienmodells nicht durch eigene Anstrengungen des Antragsgegners beheben. Für die Kapazitätsfestsetzung blieben deshalb alle anderen Kapazitätserwägungen – jedenfalls in Richtung auf eine höhere Kapazität – notwendig folgenlos. Der Gesetzgeber konnte daher die Festsetzung ohne weiteres selbst treffen, ohne auf die sonst gebotenen Vorarbeiten für eine Kapazitätsermittlung angewiesen zu sein.
3. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag sind die Zulassungszahlen so festzusetzen, dass nach Maßgabe der haushaltsrechtlichen Vorgaben und unter Berücksichtigung der räumlichen und fachspezifischen Gegebenheiten eine erschöpfende Nutzung der Ausbildungskapazität erreicht wird; die Qualität in Forschung und Lehre, die geordnete Wahrnehmung der Aufgaben der Hochschule, insbesondere in Forschung, Lehre und Studium sowie in der Krankenversorgung, sind zu gewährleisten. Die Vorschrift gibt damit unter Beachtung des Kapazitätserschöpfungsgebots den Rahmen vor, dem eine Festsetzung der Zulassungszahl gem. Art. 6 Abs. 1 Staatsvertrag zu genügen hat. Die weiteren Regelungen des Art. 6 Abs. 1 und 3 Staatsvertrag führen diese grundsätzliche Vorgabe näher aus. Nach Art. 6 Abs. 1 S. 3 wird die Zulassungszahl auf der Grundlage der jährlichen Aufnahmekapazität festgesetzt, diese wird nach Art. 6 Abs. 3 auf der Grundlage des Lehrangebots, des Ausbildungsaufwands und weiterer kapazitätsbestimmender Kriterien ermittelt. Das in den Folgesätzen dieser Regelung vorgegebene Ermittlungsprogramm wird dann durch das Berechnungsverfahren nach der HZV konkretisiert.
Abweichend von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag, der auf die im „Normalfall“ eingerichteten Studiengänge zugeschnitten ist, erlaubt Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag bei der Erprobung neuer Studiengänge und -methoden sowie bei der Neuordnung von Studiengängen und Fachbereichen eine abweichende Festsetzung der Zulassungszahlen. Die Regelung eröffnet damit im Hinblick auf gewichtige Besonderheiten, wie sie sich aus Strukturveränderungen, aber auch aus dem Aufbau neuer Ausbildungsgänge ergeben können, in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise die Möglichkeit, eine Ausbildungskapazität zu ermitteln, die diesen Ausnahmefällen Rechnung trägt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006 – 2 NB 347/06 – juris, m.w.N.). Bei der Erprobung neuer Studiengänge soll die Regelung von dem Erfordernis freistellen, die jährliche Aufnahmekapazität nach den genannten und in Art. 6 Abs. 3 Staatsvertrag näher konkretisierten Kriterien exakt zu errechnen.
Bei Anwendung dieser verfassungsgemäßen Ausnahmeregelungen für Modellstudiengänge liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die mit 84 festgesetzte Zulassungszahl unterhalb der tatsächlichen Aufnahmekapazität verbleibt, nicht vor.
a) Zwar sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 31.3.2004 – 1 BvR 356/04 – NVwZ 2004, 1112) die Gerichte in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gehalten, bei Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelungen – hier § 123 VwGO – der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle verpflichtet die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Hieraus folgt, dass die Gerichte gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gehalten sind, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls dann auf eine eingehende Prüfung der Sach-, aber auch der Rechtslage zu stützen, wenn diese Versagung zu derartigen schweren und unzumutbaren Nachteilen führt.
Aber auch unter Berücksichtigung dieser im Verhältnis zu sonstigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gesteigerten rechtlichen Prüfungsdichte ist vorliegend nicht mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Vorschriften des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag und des hieran anknüpfenden Art. 11a Satz 2 BayHZG gemäß Art. 31 GG wegen eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 2 HRG unwirksam sind oder gegen den verfassungsrechtlich über Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) verbürgten Grundsatz der erschöpfenden Nutzung der Ausbildungskapazitäten verstoßen (vgl. zu Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006 – 2 NB 347/06 – juris Rn. 26).
Hierzu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zum Modellstudiengang „HannibaL“ der Medizinischen Hochschule Hannover im Ergebnis ausgeführt, dass die Länder nach der Rahmenregelung des § 29 Abs. 2 HRG für begründete Ausnahmefälle wie bei der Einführung von Modellstudiengängen vom Kriterienkatalog abweichende landesrechtliche Bestimmungen beschließen und anwenden dürfen (OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006, a.a.O., Rn. 29). Ein neuer Studiengang erbringe während der Aufbauphase naturgemäß noch keine Erkenntnisse darüber, welche Ausbildungskapazität er unter Berücksichtigung der Interessen der Hochschule, von Forschung, Lehre und Heilbehandlung zu erbringen in der Lage sei, so dass das aus Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip folgende Kapazitätserschöpfungsgebot grundsätzlich nicht verletzt sei. Die Regelung des Art. 7 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag – nunmehr Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag – erlaube, die für die Festsetzung der Zulassungszahl grundsätzlich maßgebende Aufnahmekapazität anders als nach den in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Staatsvertrag – nunmehr Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Staatsvertrag – genannten Kriterien zu ermitteln. Diese vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelte Ausnahmevorschrift sei geltendes Recht und sei im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu berücksichtigen (OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006, a.a.O.). Dem schließt sich die erkennende Kammer für den hier vorliegenden Studiengang auch in Bezug auf Art. 11a BayHZG an. Bei einem Medizinstudiengang kann wie bei anderen Studiengängen im „Normalfall“ auf relativ gesicherte Daten des Lehrangebots und der Lehrnachfrage, auf Erfahrungswerte des Lehrbetriebs in früheren Semestern zurückgegriffen werden, um so vor Beginn des jeweiligen Semesterbetriebs das erwartete Veranstaltungsangebot, den Einsatz des Lehrpersonals und die erwartete Nachfrage der Studenten im Berechnungsjahr hinreichend vorherzusagen und so die Zulassungszahl festzusetzen. Im medizinischen Regelstudiengang kommen als weiterer bestimmender Parameter die Anforderungen des § 54 HZV (patientenbezogene Kapazität) hinzu. Bei neu eingerichteten Modellstudiengängen nach § 41 ÄApprO fehlen diese kapazitätsrelevanten Umstände, so dass sich das aus den Verfassungsbestimmungen abgeleitete Kapazitätserschöpfungsgebot hierauf nicht beziehen kann.
Die Ausnahmeregelungen sind allerdings verfassungskonform so auszulegen, dass die Kapazitätsermittlung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag weiterhin zu erfolgen hat, soweit der Modell- bzw. Erprobungscharakter des neuen Studiengangs nicht beeinträchtigt wird. Zudem stehen die Ausnahmeregelungen unter einem Willkürverbot (OVG Hamburg, B.v. 10.10.2001 – 3 Nc 152/00 – NVwZ-RR 2002, 747, 748; OVG Münster, B.v. 28.5.2004 – 13 C 20/04 – juris).
Dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG (Einzelfallgesetz) vorliegt, ist bei summarischer Prüfung im Eilverfahren ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Einzelfall – insbesondere ein „Einzelpersonengesetz“ – liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die Regelung für eine größere Zahl von Eingangssemestern gilt.
Das alles kann indes offenbleiben, weil es sich auf die Reichweite möglichen gerichtlichen Rechtsschutzes nicht durchgreifend auswirkt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 21.2.2013 – 2 NB 20/13 – juris Rn. 10). Bei förmlichen Gesetzen fehlt den Gerichten zwar eine Verwerfungs-, nicht aber die Prüfungskompetenz, die für das Vorlageverfahren notwendig vorausgesetzt ist. Vorläufiger Rechtsschutz kann unter Umständen auch ohne die im Hauptsacheverfahren erforderliche Vorlage gewährt werden (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.1992 – 1 BvR 1028/91 – BVerfGE 86, 382 = NJW 1992, 2749; B.v. 15.12.2011 – 2 BvR 2362/11 – juris). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, dessen Auffassung sich die Kammer anschließt, sieht dies zwar nur in sehr engen Grenzen als angängig an (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 21.2.2013, a.a.O.; B.v. 21.12.2006 – 2 NB 347/06 – juris Rn. 32: „Die Verwerfung eines formellen Gesetzes als verfassungswidrig muss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedoch die Ausnahme bleiben […] und ist auf Fälle evidenter Verfassungswidrigkeit beschränkt.“). Je mehr die Wahl des Gesetzes als Regelungsinstrument aber von der „Regelform“ abweicht (vgl. insoweit auch BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 2 BvR 397-399/82 – BVerfGE 70, 35 = NJW 1985, 2315; Goerlich, DÖV 1985, 945) und je mehr sich der Eindruck aufdrängt, die Wahl der Regelungsebene solle zuvörderst die individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten einschränken (vgl. OVG Münster, U.v. 7.9.2010 – 6 A 2077/08 – DVBl. 2010, 1572), umso eher kann das Gericht vorläufigen Rechtsschutz im Wege einer reinen Interessenabwägung gewähren.
Durchgreifende Zweifel an der Berechtigung der hier vorgenommenen Zulassungsbeschränkung bestehen indes nicht. Wie oben bereits dargelegt, ergibt sich der materielle Prüfungsmaßstab hier nicht unmittelbar aus dem Kapazitätserschöpfungsgebot, denn mit der Schaffung eines neuen Studienganges wird Kapazität nicht eingeschränkt, sondern geschaffen.
b) Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass die tatsächliche Aufnahmekapazität höher ist als die in Art. 11a BayHZG für den Medizinstudiengang bei der Universität … festgesetzte Zulassungszahl von 84 Studienplätzen. Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag liegen vor.
Eine von den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag abweichende Festsetzung der Zulassungszahl ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag bei der Erprobung neuer Studiengänge zulässig. Ein solcher neuer Studiengang liegt vor. Bei der Universität … ist ein völlig neuer Studiengang Humanmedizin, der von Anfang an als Modellstudiengang konzipiert ist, eingerichtet. Demnach konnte gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag die Zulassungszahl bei der Erprobung des neuen Studiengangs abweichend von Satz 1 festgesetzt werden. Dem folgt § 57 HZV, nach dem unter Verweis auf Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag Zulassungszahlen abweichend von den Bestimmungen der §§ 43 bis 56 HZV festgesetzt werden können. Dabei bezieht sich die Abweichungsbefugnis des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag nicht nur auf das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Staatsvertrag enthaltene Gebot der erschöpfenden Nutzung der (nach den in Absatz 3 genannten Kriterien errechneten) Ausbildungskapazität, sondern gerade auch auf die darin angesprochene Berücksichtigung der personellen, räumlichen, sächlichen und fachspezifischen Gegebenheiten nach dem Berechnungsmodell der für den „Normalfall“ eingerichteten Studiengänge. Demnach muss die jährliche Aufnahmekapazität nach den genannten (und in Absatz 3 näher konkretisierten) Kriterien nach dieser Abweichungsregelung des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Staatsvertrag nicht exakt berechnet werden (OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2006 – 2 NB 347/06 – juris).
Dass eine Methode zur Kapazitätsermittlung in § 57 HZV nicht positiv geregelt ist, ist nicht zu beanstanden. Bei einem völlig neu konzipierten Studiengang, der sich im Aufbau und in der Erprobung befindet, kann eine Aufnahmekapazität nach den in der HZV angesprochenen Parametern, wie beispielsweise dem Curricularnormwert, naturgemäß nicht ermittelt werden. Es ist lediglich die Abweichungsbefugnis selbst für die Erprobungsphase gesondert zu regeln (vgl. VG Oldenburg, B.v. 4.12.2012 – 12 C 4164/12 – juris Rn. 67; OVG Thüringen, B.v. 17.6.1998 – 1 NcO 339/98 – DÖV 1998, 934). Demnach ist eine positive Regelung der Abweichungsbefugnis nicht erforderlich. Diese Abweichungsbefugnis darf allerdings nicht beliebig bzw. willkürlich umgesetzt werden. Dieser Grundsatz soll etwa verletzt sein, wenn erkennbar Ausbildungsluxus oder Bedarfslenkung betrieben wird (OVG Hamburg, B.v. 10.10.2001 – 3 Nc 152/00 – NVwZ-RR 2002, 747, 748). Anhaltspunkte für eine solche willkürliche Entscheidung scheiden hier schon deshalb aus, weil der Studiengang neu eingerichtet worden ist.
Damit bleibt auch der Hilfsantrag auf Zuweisung eines auf den vorklinischen Studienabschnitt beschränkten Studienplatzes ohne Erfolg.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Festsetzung des jeweiligen Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 18.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Wert von 5.000,00 EUR war im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Satz 2 der Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zu halbieren, da die begehrte Regelungsanordnung der Vorwegnahme der Hauptsache gleichkäme.


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