Verwaltungsrecht

zum Offensichtlichkeitsurteil in § 30 AsylG

Aktenzeichen  W 8 S 20.30182

Datum:
11.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2034
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

Die Verwendung des Plurals in § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG legt nahe, dass sich die Widersprüche und Ungereimtheiten auf mehrere Punkte des Vorbringens des Asylsuchenden beziehen müssen; wird die Begründung nur auf einen Widerspruch gestützt, liegen die Voraussetzungen für das Offensichtlichkeitsurteil nicht vor.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung unter Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 22. Januar 2020 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger, der zur Begründung des Asylantrages im Wesentlichen angab: Er gehöre zu den IPOB (Indigenous People of Biafra). Er habe an Protesten teilgenommen, er sei einer der Führer dieser Organisation gewesen. Wegen einer Aktion sei am 9. Februar 2016 ein Haftbefehl gegen ihn ergangen. Weiter legte er ein Schriftstück eines nigerianischen Gerichts vom 27. September 2017, in dem seine Person als Nr. 15 aufgelistet ist, vor.
Mit Bescheid vom 22. Januar 2020 lehnte das Bundesamt für … den Antrag des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen Staat angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Das Vorbringen des Antragstellers sei in wesentlichen Punkten nicht substanziiert und in sich widersprüchlich. Sein Sachvortrag und die eingereichten Beweismittel stünden im krassen Widerspruch zu seinen Angaben. So habe sich der Antragsteller laut eingereichtem Beweismittel am 27. September 2017 in Nigeria vor Gericht aufgehalten. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich aber aufgrund von EURODAC-Treffern nachweislich bereits in Italien aufgehalten. Der Antragsteller habe auch nicht glaubhaft substanziieren können, dass er sich in der Organisation der IPOB als führende Kraft engagiert habe und dass er schon in Nigeria in Besitz eines Ausweises der IPOB gewesen sein wolle. Der Antrag werde gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Insbesondere im Hinblick auf das vorgelegte Gerichtsdokument, wonach der Antragsteller am 27. September 2017 bei einem Gerichtstermin in Nigeria anwesend sein solle, obwohl er sich nachweislich bereits in Italien befunden habe, sei davon auszugehen, dass er wesentlich falsche Angaben gemacht habe, um einen Asylstatus zu erlangen.
Mit Schriftsatz vom 3. Februar 2020, bei Gericht eingegangen am 4. Februar 2020, ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird abgeordnet bzw. wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 4. Februar 2020, den Antrag abzulehnen.
Weiter teilte sie mit: Im Hinblick auf die höchstrichterliche noch nicht geklärte Rechtsfrage, ob sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Juni 2018 ergebe, dass die Ausreisefrist noch nicht mit der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides des Bundesamtes zu laufen beginnen dürfe, wird die im angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung wie folgt geändert: „Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verlassen.“ Die zuständige Ausländerbehörde sei entsprechend informiert worden.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 K 20.30181) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antragsteller begehrt bei verständiger Würdigung seines Vorbringens die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheides gemäß § 80 Abs. 5 VwGO.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheides vom 22. Januar 2020 ist zulässig, insbesondere wurde er innerhalb der Wochenfrist nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei Gericht gestellt.
Der Antrag ist auch begründet, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
Prüfungsmaßstab für die Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs ist die Frage, ob ernstliche Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts vorliegen. Die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darf nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166).
Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG). Ein unbegründeter Asylantrag ist unter anderem als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn in wesentlichen Punkten das Vorbringen des Ausländers nicht substanziiert oder in sich widersprüchlich ist, offenkundig den Tatsachen nicht entspricht oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt wird (§ 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt eine Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt (BVerfG, B.v. 20.9.2001 – 2 BvR 1392/00 – InfAuslR 2002, 146; B.v. 5.2.1993 – 2 BvR 1294/92 – InfAuslR 1993, 196). Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt es darauf an, ob die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts in Bezug auf die geltend gemachten Asylgründe bei der gebotenen summarischen Prüfung mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden kann.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Bescheid des Bundesamts für … vom 22. Januar 2020 zu beanstanden, und zwar insbesondere, weil an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen ernsthafte Zweifel bestehen, so dass sich die Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet nicht aufdrängt.
Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugestehen, dass aufgrund des vorgelegten nigerianischen gerichtlichen Dokuments einiges dafür sprechen könnte, dass die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG vorliegen und auch ein gewisser Widerspruch nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist.
Gleichwohl war die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil allein die Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 30 Abs. 3 AsylG sowie gewisse Ungereimtheiten und Widersprüche allein für ein Offensichtlichkeitsverdikt nicht ausreichen. § 30 Abs. 3 AsylG ist eine Sanktion für die Verletzung von Mitwirkungspflichten. Aus dem Gebot restriktiver Auslegung folgt, dass nicht eine einfache, sondern nur eine grobe Verletzung dieser Pflichten die qualifizierte Antragsablehnung rechtfertigt. Es muss sich um eine schwerwiegende Verletzung der Mitwirkungspflichten handeln. Das Offensichtlichkeitsurteil kann nur auf Widersprüchlichkeiten gestützt werden, wenn die Schilderungen des Geschehensablaufs an offenkundigen, gravierenden inneren Widersprüchen leiden und in sich nicht schlüssig sind. Hierbei müssen sich die Widersprüche auf den Kern des vom Antragstellers geschilderten Verfolgungsschicksal beziehen. Wird die Begründung nur auf einen Widerspruch gestützt, liegen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vor, weil die Verwendung des Plurals nahelegt, dass sich die Widersprüche und Ungereimtheiten auf mehrere Punkte beziehen müssen (Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 44, 47 ff.; Schröder in Hofmann, AuslR 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 21). Nicht jede Widersprüchlichkeit reicht aus. Gerade bei Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen ist insbesondere bei zeitlichen Abweichungen Vorsicht geboten (Funke-Kaiser in Funke-Kaiser/Fritsch/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113 1.10.2017, § 30 Rn. 74, 76).
Ausgehend davon hat das Gericht zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Einstufung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet. Denn die Antragsgegnerin stützt ihren Offensichtlichkeitsausspruch im Wesentlichen auf das vom Antragsteller vorgelegte Dokument des nigerianischen Gerichts vom 27. September 2017. Insofern ist schon zu bemängeln, dass zu diesem Dokument auf Englisch keine deutsche Übersetzung vorliegt und auch eine Echtheitsprüfung nicht erfolgt ist (vgl. zu diesen Erfordernissen Schröder in Hofmann, AuslR 2. Aufl. 2016, § 30 Rn. 23). Die Fälschung bzw. Unechtheit eines Dokuments muss zur Überzeugung des Bundesamtes feststehen, bloße (auch nicht unerhebliche) Zweifel genügen nicht (Funke-Kaiser in Funke-Kaiser/Fritsch/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113 1.10.2017, § 30 Rn. 19). Eine Echtheitsprüfung ist schon deshalb nicht ohne Relevanz, weil bei einem echten Dokument ein Beleg für eine mögliche Verfolgungsgefahr des Antragstellers in Nigeria gegeben wäre, während nur bei einem falschen bzw. verfälschten Dokument ein Beleg für die Widersprüchlichkeit bestünde.
Des Weiteren ist offen, ob der Antragsteller eine eventuelle Fälschung oder Verfälschung des Dokuments kannte oder kennen konnte, wobei auch Fahrlässigkeit ausreicht. Dem Antragsteller könnte etwa der Vorwurf zu machen sein, dass er nicht beim Übersender nachgefragt hat. Häufig handeln Antragsteller, denen Verwandte oder Bekannte derartige Urkunden übersenden, im guten Glauben und eine Täuschungsabsicht kann Ihnen nicht nachgewiesen werden. Zudem ist ihnen die Echtheitsprüfung – im Gegensatz zum Bundesamt für … – zumeist nicht möglich (vgl. Funke-Kaiser in Funke-Kaiser/Fritsch/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113 1.10.2017, § 30 Rn. 89; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 50 und 51; Schröder in Hofmann, AuslR 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 23).
Abgesehen davon ist dem Gericht auch der Bedeutungsgehalt des Dokuments des nigerianischen Gerichts vom 27. September 2017 unklar. Zwar ist der Antragsteller als Nr. 15 genannt und darunter steht auch der Satz auf Englisch, dass alle angeklagten Personen anwesend seien. Jedoch folgt direkt im Anschluss an diesem Satz eine Auflistung von Personen, eventuell Rechtsanwälten, die für die jeweiligen Angeklagten und so auch für den Antragsteller vor Gericht aufgetreten sind. So bleibt unklar, ob die Feststellung der Anwesenheit der angeklagten Personen eventuell nicht auch durch die Anwesenheit eines (anwaltlichen) Vertreters gemeint gewesen sein könnte. Weiter ist in diesem Dokument als Gegenstand der Anklage offenbar auf einen Vorfall Bezug genommen, der am 14. bzw. am 15. September 2017 geschehen ist. Dieser Aspekt, der dem Vorbringen des Antragstellers widerspricht, ist ihm bislang aber nicht zur weiteren Aufklärung vorgehalten worden.
Des Weiteren bezieht sich die Antragsgegnerin auf die Aussagen des Antragstellers zur Organisation der IPOB und seine Funktion als führende Kraft dort sowie auf die Innehabung eines betreffenden Ausweises. Insoweit ist angesichts der schon erwähnten Schwierigkeiten und Besonderheiten beim Aussageverhalten von Asylbewerbers aus anderen Kulturkreisen, zumal mit geringerem Bildungsstand, zweifelhaft, ob diese Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten so eindeutig und grob sind, dass ein Offensichtlichkeitsverdikt gerechtfertigt ist (vgl. Funke-Kaiser in Funke-Kaiser/Fritsch/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113 1.10.2017, § 30 Rn. 74; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 44; Schröder in Hofmann, AuslR 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 17).
Das Gericht verkennt zusammengefasst nicht die weiterhin noch vorhandenen Widersprüche und Ungereimtheiten im Vorbringen des Antragstellers. Jedoch bleiben demgegenüber – erst im Hauptsacheverfahren zu klärende – offene Fragen, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen als Basis für eine Ablehnung des Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet durchschlagende Zweifel verbleiben.
Nach alledem lässt sich die Ablehnung des Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet mit der Folge der sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung nicht aufrechterhalten, weil das Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung über die Klage nicht abgeschoben zu werden, angesichts der bei einer Abschiebung nach Nigeria möglicherweise drohenden Gefahren das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug der Abschiebung überwiegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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