Verwaltungsrecht

Zumutbarer Einsatz eines privaten Pkw bei der Schülerbeförderung

Aktenzeichen  W 2 K 17.875

Datum:
29.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BaySchBefV BaySchBefV § 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 2 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1, Abs. 3 S. 1
BGB BGB § 1601

 

Leitsatz

1 Ist für den Schulweg die vorrangig vorgesehene Beförderung mit Hilfe des öffentlichen Personenverkehrs mangels bestehender Anbindung nicht möglich, ist der Einsatz anderer Verkehrsmittel wie zB Schulbus, privates Kraftfahrzeug, Taxi oder Mietwagen notwendig iSv § 3 Abs. 1 S. 2 BaySchBefV. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Möglichkeit, unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit die Beförderungspflicht auch durch das Anbieten einer Wegstreckenentschädigung für den zumutbaren Einsatz von privaten Kraftfahrzeugen zu erfüllen, ist nur dann eröffnet, wenn der Einsatz eines Pkw auch im konkreten Fall dem Kläger und seiner Familie tatsächlich zumutbar ist. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für die Großeltern des Klägers erwächst auch aus der grundsätzlich bestehenden Unterhaltsverpflichtung des § 1601 BGB keine Rechtspflicht, den Eltern des Klägers für dessen tägliche Schulwegbeförderung ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 2017 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Antrag auf Schulwegbeförderung unter Berücksichtigung des konkreten Schulwegs stattzugeben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat für das Schuljahr 2017/2018 einen Anspruch auf tatsächliche Beförderung zur Schule und kann nicht auf die zumutbare Nutzung eines privaten PKWs unter Erstattung einer Wegstreckenentschädigung verwiesen werden.
Als Schulaufwandsträgerin ist die Beklagte gem. § 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SchBefV zur Beförderung des Klägers zu der von ihm seit September 2017 besuchten, örtlichen Grundschule verpflichtet. Zwar besteht dabei grundsätzlich kein Anspruch auf Beförderung von „Tür zu Tür“. So schließt § 2 Abs. 2 Nr. 1 SchBefV nicht aus, dass auch bei bestehender Beförderungspflicht auf dem Schulweg unter Umständen Restwege von und zu Haltestellen verbleiben können. Ob es sich dabei um einen – hinzunehmenden – Rest Weg zur nächstgelegenen Haltestelle handelt, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. dazu BayVGH, U.v. 7.4.2015 – 7 B 14.1636 – juris). Als Grundschüler ist dem Kläger jedoch schon im Hinblick auf den Wertungsmaßstab des § 2 Abs. 2 Satz 1 SchBefV die Strecke von 4 km zur nächsten Haltestelle des regulären Buslinienverkehrs – unabhängig von der konkreten Wegbeschaffenheit – als „Rest Weg“ nicht zuzumuten. Die Beförderungspflicht der Beklagten erstreckt sich mithin auch auf den Abschnitt zwischen dem vom Kläger bewohnten Weiler und der nächstgelegenen Bushaltestelle. Da für diese Etappe die in § 3 Abs. 1 Satz 1 SchBefV als vorrangig vorgesehene Beförderung mit Hilfe des öffentlichen Personenverkehrs mangels bestehender Anbindung nicht möglich ist, ist – jedenfalls für diesen Teilstrecke – der Einsatz anderer Verkehrsmittel wie z.B. Schulbus, privates Kraftfahrzeug, Taxi oder Mietwagen notwendig i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 2 SchBefV.
Bei der Wahl der oder des zum Einsatz kommenden Transportmittel darf sich die Beklagte grundsätzlich an der Frage der Wirtschaftlichkeit orientieren. So eröffnet § 3 Abs. 3 Satz 1 SchBefV gerade unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit für den Einzelfall die Möglichkeit, die Beförderungspflicht auch durch das Anbieten einer Wegstreckenentschädigung für den zumutbaren Einsatz von privaten Kraftfahrzeugen anzubieten.
Ein entsprechendes Auswahlermessen ist jedoch nur dann eröffnet, wenn der Einsatz eines PKWs auch im konkreten Fall dem Kläger und seiner Familie tatsächlich zumutbar ist. Der unbestimmte Rechtsbegriff „zumutbar“ auf der Tatbestandsseite der Norm ist gerichtlich voll überprüfbar. Für die Frage der Zumutbarkeit kann nicht allein abstrakt auf die relativ kurze Strecke und Dauer der notwendigen Beförderung zu Bushaltestelle bzw. Schule abgestellt werden. Vielmehr sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu ermitteln und einzubeziehen.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist der Einsatz eines PKWs nicht schon dann unzumutbar, wenn er für die Erziehungsberechtigten zu Unbequemlichkeiten und unangenehmen zeitlichen Bindungen oder für den Schüler zu gelegentlichen Wartezeiten von geringer Dauer führt. Unzumutbarkeit liegt vielmehr erst dann vor, wenn der Einsatz des PKWs zu ganz unverhältnismäßigen, für die Eltern letztlich nicht tragbaren Belastungen führt (vgl. BayVGH, U.v. 11.6.1997 – ZB 96.3121). Diese Zumutbarkeitsschwelle ist zur Überzeugung des Gerichts im konkreten Einzelfall jedoch überschritten:
Den ebenfalls auf dem Anwesen ansässigen Großeltern des Klägers erwächst auch aus der grundsätzlich bestehenden Unterhaltsverpflichtung des § 1601 BGB keine Rechtspflicht, den Eltern des Klägers für dessen tägliche Schulwegbeförderung ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen. Auch kann aus der Tatsache, dass auf die Großeltern mehrere Fahrzeuge zugelassen sind, weder gefolgert werden, dass den Eltern des Klägers die Fahrzeuge der Großeltern für den täglichen Beförderungsbedarf der Kinder bzw. Enkelkinder ohne weiteres zur Verfügung stünden. Noch kann daraus eine entsprechende Überlassensverpflichtung der Großeltern abgeleitet werden. Der Hinweis der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, die Mutter des Klägers würde für anderweitige Fahren wie beispielsweise zum Kindergarten und zum Einkauf auch auf die Fahrzeuge der Großeltern zurückgreifen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn der Vater des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass die Nutzung der Fahrzeuge der Großeltern zwar gelegentlich und nach Absprache möglich sei. Es sei jedoch im Hinblick auf die Berufstätigkeit der Großeltern gerade nicht möglich, ein Fahrzeug zuverlässig und gebunden an die Schulzeiten des Klägers für die Schülerbeförderung freizustellen. Mithin kann bei der Frage der Zumutbarkeit der Nutzung eines privaten PKWs zur Schülerbeförderung alleine auf das Fahrzeug der Eltern abgestellt werden.
Die von der Beklagten vorgetragene Möglichkeit, dass die Mutter des Klägers dessen Vater morgens zur Bushaltestelle fährt, wo um 5:26 Uhr ein Bus zu dessen Arbeitsstelle abfährt, scheitert zwar noch nicht daran, dass beide Eltern des Klägers entsprechend früh aufstehen müssten. Nicht zumutbar ist zur Überzeugung des Gerichts jedoch, dass auch in diesem Fall die Großeltern ohne bestehende Rechtspflicht in die Betreuung der Kinder bzw. Enkelkinder durch Übernahme der Verantwortung bis zur Rückkehr der Mutter täglich eingebunden werden müssten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die beiden zwei- und sechsjährigen Kinder zu dieser Uhrzeit regelmäßig noch schlafen und der Betreuungsaufwand entsprechend gering ausfiele, wäre dies jedoch zwingend damit verbunden, dass sich mindestens ein Großelternteil bereit erklären müsste, ebenfalls gegen 5:00 Uhr aufzustehen und – ggf. mittels Babyphone – die Verantwortung für die Kinder zu übernehmen. Dies mag von den sorgeberechtigten Eltern als „Unbequemlichkeit“ abverlangt werden können, nicht jedoch von den gerade nicht in der Pflicht stehenden Großeltern. Die Übernahme einer solch dauerhaften Obliegenheit mag – wie von der Beklagten beschrieben – in manchen Familien auch heute noch üblich sein, sie kann jedoch – selbst wenn man in einem Haus zusammen wohnt – nicht von der Beklagten als primär Beförderungspflichtigem eingefordert bzw. vorausgesetzt werden. Anders als in der vom Verwaltungsgericht Ansbach im Urteil vom 9. Februar 2012 (AN 2 K 11.02138 – juris) entschiedenen Fallkonstellation geht es dabei gerade nicht um die „grundsätzliche Möglichkeit“ ein Kleinkind gelegentlich bei Verwandten lassen zu können, statt es bei der Fahrt zur Schule des älteren Geschwisterkindes mitzunehmen. Es geht vielmehr um die Übernahme einer festen Betreuungsleistung, die das tägliche Aufstehen um 5:00 Uhr voraussetzt. Eine Ausweichmöglichkeit steht dem Antragsteller und seiner Familie gerade nicht zur Verfügung. Unter dem Gesichtspunkt der elterlichen Aufsichtspflicht wäre es indiskutabel, die beiden (schlafenden) sechs- und zweijährigen Kinder täglich – und sei es auch nur für die kurze Fahrdauer zur Bushaltestelle und zurück – alleine in der Wohnung zu lassen. Der Vortrag der Beklagten, der Kläger könne für diese kurze Zeitspanne im Fall des vorzeitigen Erwachens die Aufsicht über seine zweijährige Schwester übernehmen, übersteigt offensichtlich die einem Sechsjährigen alters- und entwicklungsangemessen übertragbare Verantwortung. Auch die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ins Spiel gebrachten Möglichkeiten einer Fernüberwachung durch die autofahrende Mutter mittels Smartphone und Babysitter-App wird den elterlichen Aufsichtspflichten nicht gerecht. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es sich dabei „nur“ um die Zeitspanne handelt, die die Mutter des Klägers mit dem Auto für die Strecke zur Bushaltestelle und zurück benötigt. Jedoch genügt diese Zeitspanne, um seitens der beiden Kinder gefahrengeneigte Abläufe im Haushalt in Gang zu setzen, ohne dass die abwesende Mutter mittels Babyphone tatsächlich eingreifen könnte. Zwar ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof noch in seinem Urteil vom 11. Juni 1997 (a.a.O.) davon ausgegangen, dass Babys für kurze Zeit unbeaufsichtigt bleiben könnten. Jedoch entspricht dies jedenfalls nicht mehr dem heutigen Verständnis elterlicher Aufsichtspflicht, zumal es sich gerade nicht um einen – in seiner Mobilität noch sehr eingeschränkten – Säugling handelt, sondern um zwei völlig mobile Kinder, denen altersbedingt noch die Verstandesreife zu eigenverantwortlichem Handeln im Falle eines vorzeitigen Aufwachens fehlt. Dem Wertungsmaßstab des § 828 Abs. 1 BGB folgend sind Kinder selbst für vorsätzlich verursachte Schäden bis zur Vollendung des siebten Lebensjahrs grundsätzlich nicht verantwortlich, im Straßenverkehr gilt das für unfallbedingte Schäden sogar bis zum zehnten Lebensjahr. Diesen, auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen basierenden Wertungen dürfen bei der Dichte der Aufsichtspflicht hier nicht außer Betracht bleiben. Auch wird die Beklagte – vor diesem Wertungshintergrund – jedenfalls nicht vor Vollendung des 10. Lebensjahres des Klägers von dessen Eltern fordern können, dass sie dem Kläger die Verantwortung für die kleinere Schwester für die Dauer der Hin- und Rückfahrt zur Bushaltestelle bzw. Arbeitsstelle des Vaters zu übertragen. Für das verfahrensgegenständliche Schuljahr 2017/2018 ist es den Eltern im Hinblick auf ihre Aufsichtspflicht zweifellos nicht zumutbar, die beiden Kinder auch nur für die Dauer der Fahrt zur Bushaltestelle und zurück ohne Aufsicht durch einen anwesenden Erwachsenen zu lassen. Im Hinblick auf das Kindeswohl wäre – wie von der Beklagten nicht bestritten – es ebenfalls nicht tragbar, die beiden Kinder vor 5:00 Uhr aus dem Schlaf zu reißen, um sie bei der Fahrt zur Bushaltestelle und zurück im Auto mitzunehmen.
Da die insoweit materiell beweisbelastete Beklagte auch in der mündlichen Verhandlung keine für die Familie des Klägers i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 1 SchBefV zumutbare Möglichkeit aufzeigen konnte, wie sie die tägliche Schulwegbeförderung des Klägers mittels des vorhandenen privaten Kraftfahrzeug zuverlässig organisieren kann, ist ihr die Möglichkeit ihre Beförderungspflicht durch das Angebot einer Wegstreckenentschädigung zu erfüllen nicht eröffnet. Es verbleibt mithin bei der grundsätzlichen Beförderungspflicht des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SchBefV.
Im Rahmen ihrer Umsetzungskompetenz bleibt es der Beklagten dabei selbstverständlich offen, mit welchen Mitteln sie ihrer Beförderungspflicht nachkommt. Ihr bleibt es beispielsweise unbenommen, unter Einbeziehung des ÖPNV ab der Bushaltestelle „Altes Rathaus“ eine für den Kläger – und dessen Eltern – zumutbare Lösung mittels Schulbus, Taxi oder ggf. in Absprache mit dem überörtlichen Träger des ÖPNV oder auch – wie es derzeit praktiziert wird – gemeindeeigenen Fahrzeuge zu finden. Es steht in ihrem Ermessen, eine Beförderung direkt vom Weiler zur Schule zu wählen oder lediglich zu gewährleisten, dass der Kläger zu einer Haltestelle des ÖPNV verbracht wird, von der aus er einen geeigneten Bus zur Schule nehmen kann. Gleiches gilt für die Gestaltung des Heimwegs.
Dabei obliegt es der Organisationsverantwortung der Beklagten mögliche Probleme, die sich im Winter bezüglich des vom Bauhof parallel wahrzunehmenden Räum- und Streudienstes ergeben könnten, sei es durch phasenweise Hinzuziehung eines Taxiunternehmens, sei es in Zusammenarbeit mit den Eltern des Klägers oder anderweitig auszuräumen.
Der Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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