Verwaltungsrecht

Zumutbarkeit der Durchführung eines Visumverfahrens mit Vorabzustimmung

Aktenzeichen  10 C 17.744

Datum:
20.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 117022
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 60a Abs. 2 S. 1
EMRK Art. 8
GG Art. 6 Abs. 1
AufenthV § 31 Abs. 3,

 

Leitsatz

Es ist mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung des erforderlichen Visums für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zum minderjährigen deutschen Sohn (§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG) zu verweisen, wenn der bei bereits erteilter Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV zu erwartende Trennungszeitraum für die Dauer des Visumverfahrens (hier: zehn Tage) auch mit Blick auf die Bedeutung des persönlichen Kontakts und der Kontinuität emotionaler Bindungen des Kindes zum Vater noch zumutbar ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 16.1866 2017-03-23 Ent VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die Beschwerde, mit der sich der Kläger gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet, ist unbegründet. Denn die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Die Rechtsverfolgung des Klägers bietet zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.2.2016 – 10 C 15.849 – juris Rn. 3 m.w.N.) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger der den Streitgegenstand der Verpflichtungsklage allein bildende Anspruch auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zur weiteren Ausübung bzw. Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft mit seinem am 11. Juni 2016 geborenen Sohn mit deutscher Staatsangehörigkeit voraussichtlich schon deshalb nicht zusteht, weil ihm die (freiwillige) Ausreise auch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG und Art. 8 EMRK nicht unzumutbar und damit nicht im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG rechtlich unmöglich ist.
Keiner abschließenden Klärung oder Entscheidung bedarf deshalb, ob hier die humanitäre Rechtsgrundlage des § 25 Abs. 5 AufenthG neben den §§ 27 ff. AufenthG mit vom Gesetzgeber detailliert geregelten Voraussetzungen für einen Aufenthalt aus familiären Gründen Anwendung finden kann (allgemein zur Problematik: vgl. Maaßen/Kluth in Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1.2.2017, AufenthG § 25 Rn. 136 und 136.1; bejahend: BayVGH, U.v. 11.3.2014 – 10 B 11.978 – juris Rn. 30 ff.; diese Frage wiederum offen lassend: BayVGH, U.v. 26.9.2016 – 10 B 13.1318 – juris Rn. 39 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht ist mit der Beklagten zu Recht der Auffassung, dass es mit dem Schutz aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar ist, den Kläger auf die Ausreise (nach Nigeria) und Einholung des erforderlichen Visums für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zum minderjährigen deutschen Sohn (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) zu verweisen, weil infolge der ihm bereits erteilten Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV dieses Visum laut Auskunft der deutschen Botschaft in Lagos/Nigeria vom 9. Januar 2017 innerhalb von 10 Tagen erteilt werden kann und das Visumverfahren somit eine nur vorübergehende, kurzfristige Trennung von seinem Sohn zur Folge hat.
Der Einwand des Klägers, ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG auf dem Visums Weg ändere nichts daran, dass in seinem Fall ein innerstaatliches Ausreisehindernis im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 und § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehe, weil unter Ausreise im Sinne dieser Bestimmungen nur eine dauernde Ausreise zu verstehen sei, greift nicht durch.
Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der – wie der Kläger – vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Unter „Ausreise“ im Sinne dieser Vorschrift ist sowohl die zwangsweise Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 10.11.2009 – 1 C 19.08 – juris Rn. 12, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 15 jeweils m.w.N.). Entscheidend ist damit die Möglichkeit der (freiwilligen) Ausreise insbesondere in den Herkunftsstaat; dabei ist nicht auf das bloße Verlassen des Bundesgebiets abzustellen, sondern auch darauf, ob es dem Ausländer möglich, ist in den anderen Staat einzureisen und sich dort (nicht nur kurzfristig) aufzuhalten (vgl. Nr. 25.3.5.2 AVV-AufenthG). Dies ist bei einer Ausreise des Klägers in seinen Herkunftsstaat Nigeria der Fall, auch wenn diese Ausreise letztlich (nur) der Einholung des erforderlichen Visums für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug dient.
Eine freiwillige Ausreise ist, da tatsächliche Hindernisse beim Kläger nicht vorliegen, im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen unter anderem auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten (z.B. nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG; vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17). Bei Bestehen solcher Abschiebungsverbote hat nicht nur die zwangsweise Rückführung des betroffenen Ausländers zu unterbleiben, sondern es ist ihm in aller Regel auch eine freiwillige Rückkehr in sein Heimatland aus denselben rechtlichen Gründen nicht zuzumuten und damit unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG (BVerwG a.a.O. Rn. 17).
Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine freiwillige Ausreise nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil sie mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG unvereinbar wäre. Zwar gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei ihren aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familienrechtlichen Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (stRspr des BVerfG, vgl. z.B. B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.).
Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG a.a.O. Rn. 13 f.).
Gemessen an diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen ist die (freiwillige) Ausreise des Klägers nicht wegen Unvereinbarkeit mit dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG rechtlich unmöglich. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es in seinem Fall mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie vereinbar, ihn auf die Einholung des erforderlichen Visums für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zum minderjährigen deutschen Sohn (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) zu verweisen, weil die damit zwangsläufig verbundene vorübergehende Trennung von seinem Sohn als zumutbar anzusehen ist. Der bei bereits erteilter Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV zu erwartende Trennungszeitraum für die Dauer des Visumverfahrens bei der Botschaft in Lagos/Nigeria von zehn Tagen ist jedenfalls auch mit Blick auf die Bedeutung des persönlichen Kontakts und der Kontinuität emotionaler Bindungen des Kindes zum Vater noch zumutbar, weil in dieser kurzen Zeit nicht zu erwarten ist, dass das noch sehr kleine Kind des Klägers diese sehr kurze Trennung nicht begreifen und schon als endgültigen Verlust erfahren wird. Dieser (Trennungs-)Zeitraum ist entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht etwa eine bloße Behauptung der Beklagten, sondern vielmehr durch die in der Ausländerakte befindliche Auskunft der deutschen Botschaft in Lagos/Nigeria vom 9. Januar 2017 hinreichend belegt.
Im Übrigen ist die (nachträgliche) Einholung des erforderlichen Visums zum Familiennachzug auch nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen. Will ein ohne das erforderliche Visum eingereister Asylbewerber nach erfolglosem Abschluss seines Asylverfahrens einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel erlangen, hat er daher grundsätzlich – nicht anders als jeder andere Ausländer – ein Sichtvermerksverfahren im Heimatland durchzuführen (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2016 – 10 C 16.818 – juris Rn. 11).
Auch mit Blick auf den konventionsrechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK ergibt sich insoweit kein weitergehender Schutz des Klägers.
Die (freiwillige) Ausreise des Klägers zur Durchführung des Sichtvermerksverfahrens im Heimatland ist schließlich nicht aus den sonstigen von ihm angeführten Gründen rechtlich unmöglich.
Soweit er auf seine insbesondere gesundheitliche Gefährdung im Falle der (Rück-) Reise nach Nigeria verweist, macht er letztlich zielstaatsbezogene Gefahren bzw. Abschiebungsverbote geltend, über die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Fall mit bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 19. Januar 2016 abschließend (negativ) entschieden hat. An diese Feststellung ist die Ausländerbehörde aber gemäß § 42 Satz 1 AsylG gebunden (vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 18).
Soweit er sonstige unverhältnismäßige Erschwernisse bei der Organisation einer Ausreise wie insbesondere Impfungen, Flugkosten, Kosten für Versicherungen und die fehlende Rückfluggarantie im Falle einer Erkrankung oder Verletzung geltend macht, ist für solche sonstigen Zumutbarkeitserwägungen im Rahmen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kein Raum. Denn wie oben ausgeführt ist dem Ausländer die freiwillige Ausreise aus Rechtsgründen nur unzumutbar, wenn sie ihm wegen zielstaats- oder inlandsbezogener Abschiebungsverbote nicht zugemutet wird; weitergehende allgemeine Zumutbarkeitserwägungen sind vom Begriff der Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne dieser Bestimmung nicht erfasst (BVerwG a.a.O. Rn. 20).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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