Verwaltungsrecht

Zur Möglichkeit der isolierten Anfechtung eines Widerspruchsbescheids und zur Nichtigkeitsfeststellungsklage

Aktenzeichen  S 46 AS 1229/17

Datum:
31.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2641
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 55 Abs. 1 Nr. 4, § 95
VwGO § 79
SGB X § 44, § 40 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Grundsätzlich ist eine Anfechtungsklage gegen den Ausgangsbescheid und den Widerspruchsbescheid zu richten. Von diesem Grundsatz gibt es in entsprechender Anwendung von § 79 VwGO Ausnahmen, wenn ein berechtigtes Interesse an der isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids besteht (ebenso BSG BeckRS 2015, 70343). (Rn. 14 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wenn Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsakts noch nicht eingetreten ist, wird das Verfahren nach § 44 SGB X im Regelfall aber nicht benötigt (ebenso BSG BeckRS 2015, 67385). Ein Antrag nach § 44 SGB X ist dann als Widerspruch auszulegen (ebenso BSG  BeckRS 2017, 144113). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist allgemein anerkannt, dass die fehlende Bekanntgabe und damit die Nichtexistenz eines belastenden Verwaltungsaktes grundsätzlich analog § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG durch eine Nichtigkeitsfeststellungsklage geltend gemacht werden kann. Die analoge Anwendbarkeit ergibt sich daraus, dass § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG das Vorliegen eines Verwaltungsaktes, dh seine äußere Wirksamkeit, voraussetzt, was bei fehlender Bekanntgabe gem. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB X gerade nicht der Fall wäre. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Könnte die Klägerin gegen den streitgegenständlichen Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheids Anfechtungsklage erheben, müsste die Klägerin ein zusätzliches berechtigtes Interesse geltend machen, dass das Gericht den Teilbereich der Nichtigkeit gesondert vorab feststellt (ebenso BSG BeckRS 2016, 115112). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 26. April 2017 wird abgewiesen.
II. Der Antrag auf Feststellung, dass die geltend gemachte Forderung von 2950,91 Euro nicht besteht, wird abgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist abzuweisen. Es ist weder die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids (Hauptantrag) noch die Feststellungsklage (Hilfsantrag) zulässig.
Vorab ist festzuhalten, dass es eine Rückforderung von 933,- Euro nicht gibt. Es geht um die Rückforderung in Höhe von 2950,91 Euro aus dem Bescheid vom 05.02.2016.
1. Isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids
Streitgegenstand der erhobenen Anfechtungsklage ist allein die Frage, ob der Widerspruchsbescheid vom 26.04.2017 aufzuheben ist. Die Klägerin trägt vor, dass der Widerspruchsbescheid aufzuheben sei, weil ein Überprüfungsantrag gestellt worden sei, der sich durch Abhilfe erledigt habe und kein Widerspruch eingelegt worden sei. Die Rückzahlung des Darlehens als solche ist nicht Gegenstand der Anfechtungsklage. Dieser eingeschränkte Klagegegenstand wurde trotz Hinweis des Gerichts auf eine mögliche Unzulässigkeit dieser Klage von der anwaltlich vertretenen Klägerin ausdrücklich bestätigt. Für eine anderweitige Auslegung des Klageantrags ist hier kein Raum.
Nach § 95 SGG ist Klagegegenstand, sofern ein Vorverfahren stattgefunden hat, der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. § 95 SGG legt nicht den Streitgegenstand fest, sondern das Verhältnis zwischen Ausgangsbescheid und dem Widerspruchsbescheid für das sozialgerichtliche Verfahren. Ausgangsbescheid und Widerspruchsbescheid sind als prozessuale Einheit zu sehen (B. Schmidt in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 95 Rn. 1). Grundsätzlich ist eine Anfechtungsklage, auch wenn diese mit anderen Klagen kombiniert ist, deshalb gegen den Ausgangsbescheid und den Widerspruchsbescheid zu richten.
Von diesem Grundsatz gibt es in entsprechender Anwendung von § 79 VwGO Ausnahmen, wenn ein berechtigtes Interesse an der isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids besteht (B. Schmidt, a.a.O., § 95 Rn. 3 ff; Janitz in Roos/Wahrendorf, Sozialgerichtsgesetz, 2014, § 95 Rn. 27 ff; Binder in Lüdtke/Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 5. Auflage 2016, § 95 Rn. 4 ff; BSG, Urteil vom 24.03.2015, B 8 SO 16/14 R, Juris Rn. 11). Es sind dies die Fälle einer erstmaligen Beschwer durch den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO), einer zusätzlichen selbständigen Beschwer durch den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO) und die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift, sofern der Widerspruchsbescheid auf dieser Verletzung der Verfahrensvorschrift beruht (§ 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
a) Soweit die Klägerin vorträgt, ein Bescheid vom 05.02.2016 mit einer Rückforderung von 933,- oder 2950,91 Euro für Darlehen sei ihr nicht wirksam bekannt gegeben worden, macht sie geltend, dass der Widerspruchsbescheid diese Forderung als erstmalige Beschwer enthält.
Eine zusätzliche oder erstmalige Beschwer durch einen Widerspruchsbescheid lässt sich nur durch einen Vergleich der Regelungen im angefochtenen Bescheid und im Widerspruchsbescheid feststellen. Wenn allein ein Mangel des angefochtenen Bescheids, hier die fehlende Bekanntgabe, geltend gemacht wird, ist der angefochtene Bescheid zu prüfen, der bei einer isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids gerade nicht Prüfungsgegenstand sein soll. Dann ist eine derartige isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids die falsche Klageart.
b) Soweit die Klägerin darauf verweist, sie habe nur einen Überprüfungsantrag gestellt und keinen Widerspruch erhoben, rügt sie die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift entsprechend § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
Eine wesentliche Verfahrensvorschrift wurde jedoch nicht verletzt. Der Wortlaut von § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGB X, wonach der Verwaltungsakt zurückzunehmen ist, „auch nachdem er unanfechtbar geworden ist“, scheint darauf hinzudeuten, dass ein Überprüfungsantrag auch vor Unanfechtbarkeit zulässig ist. Wenn Unanfechtbarkeit noch nicht eingetreten ist, wird das Verfahren nach § 44 SGB X im Regelfall aber nicht benötigt (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, Juris Rn. 10). Ein Antrag nach § 44 SGB X ist dann als Widerspruch auszulegen (BSG, Urteil vom 26.10.2017, B 2 U 6/16 R, Juris Rn. 15). Nach zutreffender Ansicht geht das Widerspruchsverfahren vor Eintritt der Unanfechtbarkeit als speziellere Korrekturvorschrift einem Überprüfungsantrag vor (Schütze in von Wulffen / Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 44 Rn. 3 und Merten in Hauck/Noftz, SGB X, § 44 Rn. 51). Eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften liegt hier jedenfalls nicht vor. Ein Rechtsverlust der Betroffenen droht nicht: Vor dem Widerspruchsbescheid erfolgte eine inhaltliche Überprüfung von Seiten der Behörde wie bei einem Überprüfungsantrag und es wird der Klageweg eröffnet.
2. Feststellung, dass die Forderung in Höhe von 2950,91 Euro nicht bestehe
In der Sache geht es der Klägerin auch hier darum, dass das Gericht die fehlende Bekanntgabe und damit die Nichtexistenz des Bescheides vom 05.02.2016 feststellt, in dem die Klägerin gesamtschuldnerisch neben ihrem Ehemann zur Rückzahlung des Darlehens von 2950,91 Euro verpflichtet wird.
Diese Klage ist als Nichtigkeitsfeststellungsklage analog § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG statthaft. Es ist allgemein anerkannt, dass die fehlende Bekanntgabe und damit die Nichtexistenz eines belastenden Verwaltungsaktes grundsätzlich analog § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG durch eine Nichtigkeitsfeststellungsklage geltend gemacht werden kann (Pattar in Juris PK, SGB X, § 37 Rn. 174; Littmann in Hauck-Noftz, SGB X, § 37 Rn. 43; Engelmann in von Wulffen / Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 37 Rn 23). Die analoge Anwendbarkeit ergibt sich daraus, dass § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG das Vorliegen eines Verwaltungsaktes, d. h. seine äußere Wirksamkeit, voraussetzt, was bei fehlender Bekanntgabe gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 SGB X gerade nicht der Fall wäre (Roos in von Wulffen / Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 39 Rn. 4). Diese Klage ist gemäß § 89 SGG nicht fristgebunden.
Eine Feststellungklage muss grundsätzlich mit einer Anfechtungsklage verbunden werden, d.h. es muss ein feststellender Verwaltungsakt zum streitigen Rechtsverhältnis ergangen sein und nachfolgend ein Widerspruchsverfahren erfolgt sein (Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage 2017, § 55 Rn. 3b; Senger in Juris-PK, SGG, § 55 Rn. 16). Trotzdem ist ein vorheriges Verwaltungsverfahren nach § 40 Abs. 5 SGB X nach h.M. nicht Klagevoraussetzung.
Es wird überwiegend bejaht, dass ein Betroffener auch die fehlende Bekanntgabe und Existenz eines belastenden Verwaltungsaktes durch einen Feststellungsantrag analog § 40 Abs. 5 SGB X geltend machen kann (Schneider-Dannewitz in Juris LPK, § 40 Rn. 16 und 70; Steinwedel in Kasseler Kommentar SGB X, § 40 Rn. 9). Die Behörde würde dann zu dieser Frage einen deklaratorischen feststellenden Verwaltungsakt erlassen, der mit Widerspruch und Klage anfechtbar wäre. Ein derartiger Antrag wurde von der Klägerin nicht gestellt, auch nicht mit dem gestellten Überprüfungsantrag. Ein Überprüfungsantrag hat die inhaltliche Überprüfung eines bestehenden Verwaltungsaktes zum Ziel und setzt dessen Existenz voraus; außerdem wurde das Überprüfungsverfahren auch von der Klägerin als beendet betrachtet. Es besteht aber Einigkeit, dass ein derartiger Feststellungsantrag nicht Voraussetzung einer Nichtigkeitsfeststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG ist (BSG, Urteil vom 12.10.2016, B 4 AS 37/15 R, Juris Rn. 22; Keller, a.a.O., § 55 Rn. 14; Roos in von Wulffen / Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 40 Rn 24; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, § 40 Rn. 33).
Die Feststellungsklage setzt gemäß § 55 Abs. 1 a.E. SGG aber voraus, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Es geht dabei um die Frage, wieso das Gericht einen Rechtsstreit vorab („baldige Feststellung“) mit eingeschränktem Prüfungsumfang klären soll.
Hier hat der Beklagte den Rückforderungsbescheid vom 05.02.2016 mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.2017 bestätigt. Die Klägerin konnte dagegen ohne Weiteres eine Anfechtungsklage erheben, in der das Gericht neben der Rechtmäßigkeit auch die Existenz des belastenden Verwaltungsaktes prüfen würde. Neben der hier möglichen Anfechtungsklage müsste die Klägerin ein zusätzliches berechtigtes Interesse geltend machen, dass das Gericht den Teilbereich der Nichtigkeit gesondert vorab feststellt (BSG, a.a.O., Juris Rn. 24). Es muss bei einer Nichtigkeitsfeststellungsklage dann eine besondere Begründung geben, weshalb das Gericht vorab lediglich den Teilbereich der Nichtigkeit prüfen soll. Ein derartiges besonderes Interesse, etwa drohende Vollstreckungsmaßnahmen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit ist diese Feststellungklage unzulässig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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