Verwaltungsrecht

Zwangsheirat als erniedrigende Behandlung

Aktenzeichen  13a B 15.30241

Datum:
17.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 45090
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3, 13
AsylG AsylG § 4 I 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Eine Zwangsheirat ist eine erniedrigende Behandlung iSv § 4 I 2 Nr. 2 AsylG. (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Verwaltungsstreitsache ist trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif. Nach § 102 Abs. 2 VwGO konnte auch ohne sie verhandelt und entschieden werden.
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet (§ 125 Abs. 1, § 128, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat der Klägerin – im Ergebnis – zu Recht subsidiären Schutz zugesprochen.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm im Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden:
1. Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2. Folter oder unmenschliche, erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Im vorliegenden Fall sind jedenfalls die Voraussetzungen der Nr. 2 erfüllt. Der Klägerin drohte wegen der geplanten Zwangsheirat ein ernsthafter Schaden durch ihre eigene Familie. Gemäß § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge einer erniedrigenden Behandlung im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Somit sind potentielle Handlungen von Familienangehörigen im Rahmen des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen. Die Definition des Begriffs „erniedrigende Behandlung“ ist geklärt. Diese Vorschrift entspricht derjenigen des Art. 3 EMRK, so dass zur Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK heranzuziehen ist (vgl. BVerfG, B. v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79, 740/81, 284/85 – BVerfGE 74, 358/370). Eine schwerwiegende erniedrigende Behandlung hat der Gerichtshof in Fällen angenommen, in denen bei den Opfern Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht wurden, die geeignet waren, zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren physischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Die Kriterien hierfür sind jeweils aus allen Umständen des Einzelfalls abzuleiten (EGMR, U. v. 7.7.1989 – Nr. 1/1989/161/217 Rn. 100 – EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990, 2183/2186).
Der Senat ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Klägerin gemäß ihrer Bedrohungsgeschichte der Nötigung zu einer versuchten Zwangsheirat ausgesetzt war und im Fall der Rückkehr außerdem mit schweren Repressalien bis hin zum sog. Ehrenmord rechnen müsste, weil sie sich dem Beschluss des Familienrats, zu heiraten, verweigert hat und ohne Erlaubnis von zu Hause ausgezogen ist. Die Geschichte ist glaubhaft, weil die Schilderung der Erlebnisse keine Widersprüchlichkeiten, Lücken oder unrealistischen Passagen aufweist und auch in Ansehung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Herkunftsregion plausibel ist. Die Aussage der Klägerin, dass ihre Familie und diejenige ihres Cousins zwar nicht mit konkreten Repressalien gedroht hätten, sie aber mit solchen hätte rechnen müssen, ist durchaus nachvollziehbar. Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass ihre Angehörigen nach ihr suchten. Dafür, dass die Geschichte der Eheanbahnung frei erfunden sein könnte, gibt es keinen Anhaltspunkt. Die Tatsache, dass die Klägerin länger als drei Jahre in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnte, zeigt, dass sie nicht etwa nur deshalb ausreiste, um mit einem bestimmten Partner in Deutschland zusammenleben zu können.
Zwangsheiraten sind nach den Erkenntnissen der Bundesregierung im Kulturkreis der Klägerin nach wie vor üblich und gehen üblicherweise mit der Androhung gravierender Repressalien einher. Gemäß der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat (vgl. die Legaldefinition „Nötigung zur Eingehung der Ehe mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel“ in § 237 StGB) liegt eine Zwangsheirat dann vor, „wenn mindestens einer der zukünftigen Ehepartner durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wird, wobei in der überwiegenden Zahl der Fälle Mädchen und junge Frauen betroffen sind. Die Betroffene wird zur Ehe gezwungen und findet entweder mit ihrer Weigerung kein Gehör oder wagt es nicht, sich zu widersetzen, weil Eltern, Familie, Verlobte und Schwiegereltern mit den unterschiedlichsten Mitteln versuchen, Druck auf sie auszuüben. Dazu gehören physische und sexuelle Gewalt, Nötigungen (durch Drohungen, Einsperren, Entführung, psychischer und sozialer Druck sowie emotionale Erpressung), Einschränkungen in Bezug auf Lebensstil und Bewegungsspielraum und andere erniedrigende und kontrollierende Handlungen – in drastischen Fällen bis hin zu Ehrenmorden. Die unter Zwang verheirateten Mädchen und jungen Frauen stammen vor allem aus … oder kurdischem Umfeld.“ (BT-Drs.17/1213 v. 24.3.2010 S. 7). Nach den aktuellen Erkenntnissen des Auswärtigen Amts werden Frauen in Irak noch immer in Ehen gezwungen (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2015, S. 11). Hierfür spricht auch der Erlass des seit August 2011 in der autonomen Region Kurdistan-Irak geltenden Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt sind (Auswärtiges Amt a. a. O.). Dies verdeutlicht einerseits, dass die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt hat und andererseits, dass die häusliche Gewalt tatsächlich ein Missstand in der dortigen, traditionell patriarchalisch strukturierten Familienverbandsgesellschaft ist.
Die Freiheit der Eheschließung ist in internationalen Konventionen garantiert (Art. 13 EMRK, Art. 9 GR-Charta, Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung). Nach einhelliger Auffassung im ausländerrechtlichen Schrifttum ist eine Nötigungshandlung zur Erzwingung einer Heirat in jedem Fall eine das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzende, verwerfliche Handlung (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 37 AufenthG Rn. 43; Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 37 AufenthG Rn. 14; Kessler in Hofmann a. a. O. § 3a AsylG Rn. 19; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2016, § 37 AufenthG Rn. 32d, § 3a AsylG Rn. 35 und § 3b AsylG Rn. 35; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 3a Rn. 48).
Eine interne Schutzalternative bestünde für die Klägerin nicht. Nach § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3e Abs. 1 AsylG wird der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor der Gefahr eines Schadens oder Zugang zu Schutz vor Schaden hat und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Letzteres ist hier nicht der Fall. Es ist anzunehmen, dass die Klägerin als alleinstehende Frau nach den Gepflogenheiten in Irak nicht die Möglichkeit hätte, sich außerhalb des Elternhauses und ohne Unterstützung der Familie anderswo in der Region Kurdistan-Irak eine eigene Existenz aufzubauen.
Ob Zivilpersonen im kurdischen Autonomiegebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ausgesetzt sind, erscheint zweifelhaft, weil gemäß den aktuellen Erkenntnisquellen dort kein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. keine hohe Gefahrendichte anzunehmen sein dürfte (s. BVerwG, U. v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360). Bei den seit 2015 registrierten sog. Kollateralschäden aus einem Luftangriff auf PKK-Stellungen und den Opfern eines Sprengstoffattentats im April 2015 handelt es sich um Einzelfälle (s. UNAMI, Report on the Protection of Civilians in the Armed Conflict in Iraq, 1 May – 31 October 2015; Iraq Body Count, Database – March 2016). Die Prognose des Verwaltungsgerichts, dass diese Region in absehbarer Zeit von der IS-Miliz erobert sein dürfte, hat sich zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Berufungsverhandlung nicht bestätigt (zum Prognosehorizont: BVerwG, U. v. 31.3.1981 – 9 C 286.80 – BayVBl 1981, 662). Dies kann im Übrigen dahinstehen, weil der subsidiäre Schutz im vorliegenden Fall schon aus einem anderen Grund geboten ist.
Da der Klägerin subsidiärer Schutz zusteht, ist die Voraussetzung zum Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a und Abs. 2 Satz 1 AsylG entfallen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO sind nicht gegeben.


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