Aktenzeichen 10 CS 18.2180
AufenthG § 11 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
1 Für einen Rechtsmissbrauch der Arbeitnehmerfreizügigkeit genügt, dass der Betreffende zwar formal die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit erfüllt, aber von vornherein nicht die Absicht hat, für die Dauer des Aufenthalts eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ausreichende Existenzmittel sichert. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Indizien für einen Rechtsmissbrauch sind das generelle Fehlen von eigenen Bemühungen um eine (Vollzeit-)Arbeitsstelle und die erfolgte Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung erst in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer drohenden Verlustfeststellung. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 4 S 18.3405 2018-09-26 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Verfahren 10 CS 18.2180 und 10 C 18.2181 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
III. Die Kosten der Beschwerdeverfahren trägt die Antragstellerin.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 10 CS 18.2180 wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
V. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren 10 CS 18.2180 wird abgelehnt.
Gründe
Die Beschwerden der Antragstellerin, die sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 26. September 2018 richten, mit dem die Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Juni 2018 für sofort vollziehbar erklärte Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts (1.) und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren (2.) abgelehnt worden sind, sind unbegründet. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bleibt ebenfalls erfolglos (3.).
1. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die für sofort vollziehbar erklärte Verlustfeststellung zu Recht abgelehnt. Die Ausführungen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren, auf die sich die Prüfung des Senats nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, enthalten keine Gründe, aus denen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben ist (vgl. § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO). Die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragstellerin aus, weil die Verlustfeststellung der Antragsgegnerin bei summarischer Prüfung rechtmäßig ist und das öffentliche Interesse, einen unangemessenen Sozialleistungsbezug zu beenden, das Suspensivinteresse der Antragstellerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Verfahrens bezüglich der Verlustfeststellung überwiegt.
a. Die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU liegen vor. Danach kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder (von Anfang an) nicht vorliegen (BVerwG, U.v 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 15).
Der Antragstellerin steht weder ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU zu noch kann sie sich unter Berücksichtigung, dass für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (BVerwG, Urteil vom 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 11), aktuell auf eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU berufen.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die von der Antragstellerin zum 19. Februar 2018 aufgenommene Beschäftigung als geringfügig (jetzt sozialversicherungspflichtig) Beschäftigte ihr aktuell keine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU vermittelt.
Es kann offen bleiben, ob die Antragstellerin Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist (aa.), denn es ergibt sich aus einer Gesamtschau der objektiven Umstände, dass sich die Geltendmachung eines auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gestützten Freizügigkeitsrechts als rechtsmissbräuchlich darstellt (bb.).
aa. Dem hier heranzuziehenden Begriff des Arbeitnehmers nach Art. 45 AEUV kommt eine für das Unionsrecht autonome Bedeutung zu. Er ist nach objektiven Kriterien zu definieren und darf, da er den Anwendungsbereich einer von den Verträgen garantierten Grundfreiheit festlegt, nicht eng ausgelegt werden (EuGH, U.v. 23.3.1982 – Rs. C-53/81, Levin, NJW 1983, 1249; U.v. 6.11.2003 – Rs. C-413/01, Ninni-Orasche – juris Rn. 23 f.; U.v. 4.2.2010, Rs. C-14/09, Genc – juris Rn. 19).
Als Arbeitnehmer ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Dabei haben allerdings weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung oder der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts (vgl. EuGH, U.v. 4.2.2010 – Rs. C-14/09, Genc – juris Rn. 20, 25 m.w.N.). Auch der Umstand, dass im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses nur wenige Arbeitsstunden geleistet werden, schließt die Arbeitnehmereigenschaft nicht zwangsläufig aus. Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses die Arbeitnehmereigenschaft begründet. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sind bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses neben Arbeitszeit und Vergütung beispielweise auch Aspekte wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags oder auch die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses berücksichtigungsfähig (EuGH, U.v. 4.2010 – Rs. C-14/09, Genc – juris Rn. 27). Im Fall der Antragstellerin lässt sich im Hinblick auf die Kürze der Beschäftigungsdauer und die Befristung des Arbeitsverhältnisses im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend feststellen, ob ihr die Arbeitnehmereigenschaft zuzuerkennen ist.
bb. Selbst wenn man zugunsten der Antragstellerin unterstellt, dass ihre aktuelle Beschäftigung die unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft begründet, kann sie sich dennoch nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen, weil sich die Geltendmachung eines auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gestützten Freizügigkeitsrechts hier als rechtsmissbräuchlich darstellt und das Unionsrecht nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bei rechtsmissbräuchlichen Praktiken keine Anwendung findet (EuGH, U.v. 12.3.2014 – C-456/12, O. und B. – juris Rn. 58 m.w.N). Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und dass zum anderen ein subjektives Element vorliegt, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.
Der Ausschluss der Anwendung von Unionsrecht bei rechtsmissbräulichen Praktiken ist ein in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelter Grundsatz, der nicht auf die Sachverhalte beschränkt ist, wie sie den vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidungen zugrunde liegen. Dieser Einwand der Beschwerde geht daher ins Leere. Denn der Gerichtshof verweist in den genannten Entscheidungen trotz einer anderen Ausgangslage auf den Anwendungsausschluss von Unionsrecht bei Missbrauch als allgemeines Prinzip (EuGH, U.v. 12.3.2014 – C-456/12 – juris Rn 58; U.v. 16.10.2012 – C-346/10 – juris Rn. 58) und definiert die Kriterien für einen derartigen Ausschluss. In der nationalen Rechtsprechung wird dieser „Missbrauchstatbestand“ im Bereich des Freizügigkeitsrechts dementsprechend angewandt (OVG NRW, B.v. 28.3.2017 – juris Rn. 3; OVG RhPf, B.v. 20.9.2016 – 7 B 10406/16.OVG – juris).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze und einer gebotenen Gesamtschau, die abweichend von der den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit bestimmenden Prüfung des Arbeitnehmerbegriffs nicht beschränkt ist, sondern sämtliche Aspekte zu umfassen hat, sieht auch der Senat im Verhalten der Antragstellerin ein missbräuchliches Handeln. Mit der (Wieder-)aufnahme der Erwerbstätigkeit zum 19. Februar 2018 liegt nur formal eine Erfüllung der Mindestvoraussetzungen der Freizügigkeit vor, die dem Sinn und Zweck der Unionsbürgerrichtlinie nicht entspricht, sondern das Ziel verfolgt, sich dadurch soziale Vorteile zu verschaffen. Das seit ihrer Einreise gezeigte Verhalten der Antragstellerin und ihres Ehemanns offenbart, dass der Aufenthalt der Familie nicht auf eine ernsthafte erwerbswirtschaftliche Betätigung ausgerichtet war und jedenfalls spätestens seit Mitte 2017 das Ziel verfolgt wird, den Bedarf der Familie zumindest größtenteils durch staatliche Sozialleistungen zu decken. Dies ergibt sich im Einzelnen aus Folgendem:
Die Antragstellerin hielt sich nach ihren Angaben im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bereits im Jahr 2013 bei ihrem Sohn, dessen Ehefrau und Kind in Deutschland auf. Sie reiste erneut im Oktober 2014 ein, als ihr Ehemann nach der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses und einem Verkehrsunfall keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben konnte. Er bezieht seit 1. September 2016 Sozialleistungen in Höhe von 639 Euro monatlich. Die Antragstellerin nahm im Januar 2017 lediglich eine geringfügige Beschäftigung auf, nachdem die Antragsgegnerin sie und ihren Ehemann zur Vorlage von Einkommensnachweisen aufgefordert hatte. Nach der Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber zum 30. Juni 2017 legte sie keine Nachweise dafür vor, dass sie sich erneut um eine Erwerbstätigkeit bemühte. Vielmehr bezog auch sie Leistungen nach dem SBG II in Höhe von 649 Euro monatlich. Bereits während des Arbeitsverhältnisses waren ihr Aufstockungsleistungen von 431 Euro monatlich gewährt worden, weil sie lediglich 300 Euro im Monat verdiente. Erst nachdem die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einer Verlustfeststellung angehört hatte, nahm sie zum 19. Februar 2018 wieder eine zunächst geringfügige Beschäftigung auf, bezieht jedoch weiterhin aufstockende Sozialleistungen in Höhe von 319 Euro monatlich.
Die Gesamtwürdigung der Umstände in objektiver und subjektiver Hinsicht ergibt, dass die Antragstellerin nur deshalb eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, um formal Arbeitnehmerfreizügigkeit geltend machen zu können und – damit verbunden – (aufstockende) Sozialleistungen zu beziehen. Wesentlich für diese Einschätzung sind dabei vor allem das generelle Fehlen eigenen Bemühens um eine (Vollzeit-) Arbeitsstelle, die erfolgte Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung erst in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer drohenden Verlustfeststellung, die darüber hinaus am unteren Rand dessen liegt, was die Annahme einer Arbeitnehmereigenschaft noch begründen kann. Verstärkt wird das sich als rechtsmissbräuchliches Verhalten abzeichnende Gesamtbild weiter, weil die Antragstellerin schon einmal eine (nur) geringfügige Beschäftigung aufgenommen hat, um ihren Aufenthalt und den ihres Ehemanns im Bundesgebiet zu sichern, und zwar ohne ersichtliches Bemühen, im Anschluss an die kurzzeitige Beschäftigung wieder Arbeit zu finden. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin in Griechenland keine Rentenansprüche erworben hat, die ihren Lebensunterhalt sichern könnten und sie sich in einem Alter befindet (geb. 1955), in dem ihre Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt immer schwieriger wird. Das Gleiche gilt für ihren Ehemann (geb. 1951), der auch aufgrund seines Alters keine Chancen mehr hat, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und auch keine Rente bezieht, so dass auch er nicht für den Lebensunterhalt der Familie sorgen kann.
Rechtsmissbräuchliche Praktiken im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setzen nicht voraus, dass die Antragstellerin aktiv über das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft täuscht oder falsche Angaben macht. In derartigen Fällen sieht § 2 Abs. 7 FreizügG/EU einen eigenen Verlustfeststellungstatbestand vor. Es reicht aus, dass der Betreffende zwar formal die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit erfüllt, aber von vornherein nicht die Absicht hat, für die Dauer des Aufenthalts eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ausreichende Existenzmittel sichert.
Die Gewährleistung des Freizügigkeitsrechts steht nach Unionsrecht unter dem Vorbehalt, dass Sozialhilfeleistungen nicht unangemessen in Anspruch genommen werden (Erwägungsgründe Nr. 9 und 16 Freizügigkeitsrichtlinie). Es ist daher nicht zutreffend, dass – wie die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren vorträgt – der Bezug öffentlicher Mittel vom Gesetzgeber hingenommen wird. Um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt, sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände sowie der gewährte Sozialhilfebezug zu berücksichtigen. Im Fall der Antragstellerin ist die Antragsgegnerin offensichtlich am Beginn des ersten Beschäftigungsverhältnisses noch von einem angemessenen Sozialleistungsbezug ausgegangen und hat daher auch nichts „unternommen“. Die Antragsgegnerin ist entgegen dem Vorbringen im Beschwerdeverfahren auch nicht erst dann aktiv geworden, als die Antragstellerin das zweite Beschäftigungsverhältnis antrat; vielmehr hat die Antragstellerin die zweite Beschäftigung erst aufgenommen, nachdem sie mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 24. Januar 2018 zur beabsichtigten Verlustfeststellung angehört worden war, weil sie seit dem 1. Juli 2017 nicht mehr gearbeitet, ausschließlich Sozialleistungen bezogen und keine Anstrengungen zur Arbeitssuche unternommen hatte.
bb. Der Antragstellerin steht auch keine Freizügigkeitsberechtigung aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU zu. Es fehlt auch unter Einbeziehung der Einkünfte aus der (geringfügigen) Beschäftigung an den von § 4 FreizügG/EU ebenfalls vorausgesetzten ausreichenden Existenzmitteln. Der Sozialleistungsbezug der Antragstellerin und ihrer Familie stellt sich als „unangemessen“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dar.
Ausreichende Existenzmittel im Sinne des § 4 FreizügG/EU sind solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats nicht in Anspruch nehmen muss. Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht automatisch einen Verlust des Freizügigkeitsrechts zu begründen vermag. Da auch insoweit mit Blick auf die sich der Verlustfeststellung anschließende Pflicht, die Bundesrepublik zu verlassen, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu wahren sind, ist vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen erforderlich. Zwar kann der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Insbesondere dem 10. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG ist jedoch zu entnehmen, dass die Voraussetzung der Existenzsicherung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 21 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH). Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG sollte der Aufnahmemitgliedstaat dazu „prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen“. Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann zudem nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (BVerwG, U.v.16.7.2015 – 1 C 22.14 -, juris Rn. 21 unter Verweis auf EuGH, U.v. 19.9.2013 – C-140/12, Brey – Rn. 67).
Dies zugrunde gelegt, handelt es sich hier um einen unangemessenen Sozialleistungsbezug. Der Grund für den Sozialleistungsbezug ist nicht vorübergehender Natur. Angesichts des Alters der Antragstellerin und ihres Ehemanns und ihrer bisherigen Erwerbsbiografie ist nicht ansatzweise damit zu rechnen, dass der Bedarf der Bedarfsgemeinschaft vollständig oder auch nur weitgehend aus einem zu erzielenden Einkommen der Antragstellerin gedeckt werden kann. Es ist davon auszugehen, dass die Hilfegewährung fortgesetzt werden muss. Hinsichtlich des Umfangs des Sozialleistungsbezugs ist festzustellen, dass dieser im Zeitraum vom September 2016 bis Juni 2018 für die Bedarfsgemeinschaft mit 54.506 Euro zu beziffern ist.
Die Belastung des nationalen Sozialhilfesystems in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, wird ermittelt, indem die Belastung bewertet wird, die entstünde, wenn jeder Unionsbürger in einer so gekennzeichneten Lage eine ausreichende Existenzsicherung und damit (mittelbar) weiterhin den Bezug der zu untersuchenden Sozialleistungen für sich beanspruchen könnte. Nur bei dieser Betrachtung zeigen sich die (drohenden) Belastungen für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit. Bezogen auf den vorliegenden Fall geht es demnach um zurückliegende und weiter für eine unbestimmte Zeit zu gewährende Sozialleistungen für eine zweiköpfige Bedarfsgemeinschaft. Die Hilfeleistungen haben zeitweise den gesamten Lebensbedarf abgedeckt und würden angesichts der begründeten Erwartung, dass auch die allein erwerbsfähige Antragstellerin auf unabsehbare Zeit allenfalls nur geringfügige Einkünfte erzielen kann, weiterhin in erheblichem Umfang zu leisten sein. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass es eine in jeder Hinsicht unangemessene Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit bedeuten würde, wenn man es letztlich für Unionsbürger in der Lage der Antragstellerin öffnen würde und damit faktisch so etwas wie eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ begründete (vgl. BayVGH, B.v. 16.10.2017 – 19 C 16.1719 – juris Rn. 20 ff.; EuGH, U. v.11.11.2014 – Rs. C-333/13, Dano – juris Rn. 76).
b. Die Beschwerde bleibt auch insoweit erfolglos, als die Antragstellerin vorbringt, die in Nr. 5 des Bescheids vom 12. Juni 2018 verfügte Wiedereinreisesperre für den Fall der Abschiebung sei rechtswidrig. Es kann offen bleiben, ob eine Klage gegen die auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützte Wiedereinreisesperre (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 26 ff.) gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung hat und ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist. Jedenfalls kann die Abschiebung derzeit noch nicht vollzogen werden, so dass die Wiedereinreisesperre noch nicht greift und der Antragstellerin für einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 5 des Bescheids vom 12. Juni 2018 das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
Die Wiedereinreisesperre ist nicht auf § 7 Abs. 2 FreizügG/EU gestützt, der eine Wiedereinreisesperre nur in den Fällen einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 und § 2 Abs. 7 FreizügG/EU vorsieht. Als Rechtsgrundlage zieht die Antragsgegnerin § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG heran, d.h. die Bestimmungen des AufenthG müssen wegen des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wieder anwendbar sein. Die Wiedereinreisesperre greift also nur, wenn die Antragstellerin aufgrund der Verlustfeststellung vollziehbar ausreisepflichtig und die Frist für die freiwillige Ausreise abgelaufen ist. Dies ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU, wonach die Abschiebung nur erfolgen darf, wenn über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (negativ) entschieden ist. § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU setzt voraus, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet hat, weil die Klage gegen eine Verlustfeststellung grundsätzlich aufschiebende Wirkung hat (Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU § 7 Rn. 7). Die Vollziehbarkeitshemmung endet erst mit der rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in der Beschwerdeinstanz (BeckOK, AuslR, Stand: 1.2.2018, FreizügG/EU § 7 Rn. 8). Folglich kann im laufenden Beschwerdeverfahren die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht noch nicht eingetreten sein.
Die Kostentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
2. Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO wird zurückgewiesen.
Die Beschwerde geht schon deshalb ins Leere, weil das Verwaltungsgericht über einen Prozesskostenhilfeantrag für das Eilverfahren entschieden hat, obwohl ausdrücklich nur die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren beantragt war.
Im Übrigen liegen weder für das Eilverfahren noch für das Klageverfahren die Voraussetzungen für die Bewilligung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO vor. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12. Juni 2018 wird aus den dargestellten Gründen voraussichtlich keinen Erfolg haben, weil die Verlustfeststellung samt Nebenentscheidungen rechtmäßig ist.
Die Klage gegen die für den Fall der Abschiebung verfügte Wiedereinreisesperre wird auch nach der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolglos bleiben, weil die Verlustfeststellung damit „rechtskräftig vollziehbar“ ist. Das reicht für die Anwendbarkeit des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG aus (BeckOK, AuslR, Stand: 1.2.2018, FreizügG/EU, § 11 Rn. 6-8, Huber, AuslR, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU, § 11 Rn. 38; Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU, § 11 Rn. 60).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
3. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren 10 CS 18.2180 ist abzulehnen, weil die Beschwerde aus den unter 1. genannten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, weil Gerichtskosten nicht anfallen und eine Kostenerstattung ausgeschlossen ist (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).