Medizinrecht

Anspruch auf Zuerkennung einer weiteren Ersatzzeit

Aktenzeichen  L 19 R 866/14

Datum:
30.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 114934
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 143, § 144, § 151
SGB X § 44 Abs. 4 S. 1 u. 3
SGB VI § 54 Abs. 4, § 64, § 66 Abs. 1 Nr. 2, § 71 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

Kinder teilen beim Tatbestand der Rückkehrverhinderung/des Festgehaltenwerdens des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI das Schicksal der Eltern, so dass auf einen Rückkehrwillen der Eltern abzustellen ist (BSG Urteil vom 17.02.2005 – B 13 RJ 25/04).
2 Der erforderliche Rückkehrwille ist zumindest glaubhaft gemacht zu machen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 7 R 202/13 2014-09-10 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 10.09.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte ist zutreffend zum Ergebnis gelangt, dass der Rentenbescheid der Klägerin nicht abzuändern ist, da die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung einer weiteren Ersatzzeit hat.
Nachdem der Rentenbescheid der Klägerin bereits bestandskräftig geworden war, käme eine teilweise Rücknahme und Abänderung nur im Rahmen des § 44 SGB X in Betracht. Die von der Klägerin geltend gemachte Rückwirkung der Erhöhung ihrer Rente ist dabei bereits unter Beachtung der Frist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X iVm § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X zeitlich beschränkt worden.
§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X lautet: „Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.“
Dabei trifft die Klägerin, die sich auf diese Vorschrift beruft, die volle Beweislast, dass das Recht unrichtig angewandt wurde oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde. Allerdings ist aus Sicht des Senates damit keine Änderung des erforderlichen Beweisgrades für die Anwendung des materiellen Rechts verbunden: D.h. es ist ausreichend, dass in Fällen, in denen originär die Glaubhaftmachung ausreicht, nachgewiesen wird, dass in der zu überprüfenden Entscheidung ein – zumindest nunmehr – glaubhaft gemachter Sachverhalt zu Unrecht nicht oder falsch berücksichtigt worden ist.
Die Berechnung der Altersrente der Klägerin ergibt sich nach § 64 SGB VI durch die Vervielfältigung der unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, des Rentenartfaktors und des aktuellen Rentenwerts. Hier ist zwischen den Beteiligten ausschließlich die Anzahl der persönlichen Entgeltpunkte streitig. Hierbei werden auch Entgeltpunkte berücksichtigt, die sich aus beitragsfreien Zeiten, zu denen auch Ersatzzeiten zählen (§ 54 Abs. 4 SGB VI), ergeben (§ 66 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI iVm § 71 Abs. 1 SGB VI).
Die geltend gemachte Ersatzzeit ergibt sich nicht aus § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Die entsprechende Regelung lautet: Ersatzzeiten sind Zeiten vor dem 1. Januar 1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr interniert oder verschleppt oder im Anschluss an solche Zeiten wegen Krankheit arbeitsunfähig oder unverschuldet arbeitslos gewesen sind, wenn sie als Deutsche wegen ihrer Volks- oder Staatsangehörigkeit oder in ursächlichem Zusammenhang mit den Kriegsereignissen außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland interniert oder in ein ausländisches Staatsgebiet verschleppt waren, nach dem 8. Mai 1945 entlassen wurden und innerhalb von zwei Monaten nach der Entlassung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ständigen Aufenthalt genommen haben, wobei in die Frist von zwei Monaten Zeiten einer unverschuldeten Verzögerung der Rückkehr nicht eingerechnet werden.
In der geltend gemachten Zeit ab Januar 1956 haben die seinerzeit minderjährige Klägerin und ihre Eltern nicht mehr unter Kommandanturaufsicht gestanden, so dass die 1. Alternative („interniert“) jedenfalls nicht mehr in Betracht kommt. Dies ergibt sich für den Senat aus den Unterlagen der Mutter der Klägerin, die ein Beenden der Kommandanturaufsicht zum Jahresende 1955 belegen. Für die von der Klägerin anfänglich gemachte Angabe, dass sie bis Herbst/Winter 1956 unter Kommandanturaufsicht gestanden habe, gibt es keine Belege. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die seinerzeit minderjährige Klägerin länger unter Kommandanturaufsicht gestanden hätte als ihre Mutter, würde es auf diese tatsächliche Dauer nicht ankommen, da die Beklagte zutreffend die Rechtsprechung zur Anwendung bringt, wonach bei Minderjährigen ausschließlich auf die Situation ihrer Eltern, d.h. hier ihrer Mutter, abzustellen ist (BSG, Urteil vom 17.02.2005, Az. B 13 RJ 25/04 R – nach juris).
Auch die 2. Alternative („verschleppt“) ist in der Zeit ab Januar 1956 nicht einschlägig. Bei einer Zwangsumsiedlung innerhalb der ehemaligen UdSSR mag zwar das von der Klägerseite reklamierte doppelte Vertreibungsschicksal bestanden haben, als Verschleppung in ein ausländisches Staatsgebiet kann dies jedoch nicht eingeordnet werden (Gürtner a.a.O. Rn 62 unter Berufung auf BSG, Urt. v. 07.02.1985, Az. 9a RV 5/83 – juris).
Eine Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI kommt bei der Klägerin für die streitige Zeit von Januar 1956 bis Dezember 1956 nicht in Betracht.
Für diese Zeit sind aus Sicht des Senats auch die Voraussetzungen für eine Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI nicht belegt, wobei es ausgereicht hätte, wenn sie glaubhaft gemacht gewesen wären (vgl. Gürtner a.a.O., § 250 SGB VI, Rn. 77). Die entsprechende gesetzliche Regelung bestimmt: Ersatzzeiten sind Zeiten vor dem 1. Januar 1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr während oder nach dem Ende eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen bis zum 30. Juni 1945 an der Rückkehr aus Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze oder danach aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs dieser Gesetze, soweit es sich nicht um das Beitrittsgebiet handelt, verhindert gewesen oder dort festgehalten worden sind. Betroffen sind hier ein Zeitraum nach Juni 1945 und ein Gebiet, das nicht zum Beitrittsgebiet – also zur ehemaligen DRR – zählt. Das Vorliegen feindlicher Maßnahmen als Ursache der Rückkehrverhinderung wird in Bezug auf die Ausreise aus der ehemaligen UdSSR im Normalfall verneint, weil dort ein allgemeines Ausreiseverbot für alle Bewohner bestanden hatte (vgl. Gürtner a.a.O. Rn. 75; BSG, Urt. v. 12.12.1995, Az. 8 RKn 4/94 – nach juris). In Fällen, in denen wie bei der Klägerin aber eine Zwangsumsiedlung vorausgegangen war, ist die Bejahung einer feindlichen Maßnahme möglich (LSG Hessen, Urt. v. 21.03.2014, Az. L 5 R 543/11 – nach juris).
Der Beklagten ist dabei darin beizupflichten, dass eine Ersatzzeit wegen Rückkehrverhinderung faktisch nicht bis zur Ausreise bzw. bis Ende 1991 in Betracht kommt, weil durch § 250 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI – für hier allerdings nicht geltend gemachte Zeiten ab Januar 1957 – zusätzlich eine exklusive Kausalität für die Nichtentrichtung von Beiträgen an die dort bestehende Sozialversicherung gefordert wird. Der Senat teilt dagegen nicht die Auffassung, dass eine Rückkehrverhinderung ausschließlich für die Zeit der Kommandanturaufsicht möglich sei.
Im Fall der Klägerin scheitert die Berücksichtigung der Ersatzzeit wegen Rückkehrverhinderung (§ 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI) jedoch daran, dass der erforderliche Rückkehrwille nicht hinreichend belegt, d.h. zumindest glaubhaft gemacht ist. Dabei kommt es auch bezüglich dieser Voraussetzung ausschließlich auf den Willen der Eltern der damals minderjährigen Klägerin an (so BSG, Urt. v. 09.09.1998, Az. B 13 RJ 63/97 R; BSG, Urt. v. 17.02.2005, Az. B 13 RJ 25/04 R, jeweils nach juris). Ein Wechsel der Betrachtungsweise ist auch nach dem Eintritt der Volljährigkeit weder generell, noch für die Zeit nach deren Eintritt möglich. Die Klägerin muss vielmehr alle Einschränkungen des Rückkehrwillens ihrer Eltern auch nach Eintritt ihrer eigenen Volljährigkeit gegen sich gelten lassen. Für die Beurteilung des Rückkehrwillens reicht es auch nicht aus, dass glaubhaft gemacht wird, dass ein solcher im fraglichen Zeitraum 1956 bestanden haben mag. Erforderlich sind für die Annahme des Rückkehrwillens ein Fortbestehen bis zum Wegfall des Rückkehrhindernisses und eine dann sich zeitnah anschließende Umsetzung des Rückkehrwillens. Dies hat aber bei der Mutter der Klägerin – auf die es bei Versterben des Vaters vor Wegfall des Ausreisehindernisses allein ankommt – nicht belegt werden können. Die Mutter der Klägerin ist erst etliche Zeit nach objektiv bekanntem Wegfall des Ausreisehindernisses nach Deutschland ausgesiedelt und hat hierbei zusätzlich Gründe angegeben, die allein der eigenen Sphäre zuzurechnen sind.
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass – wie oben dargestellt – bei der Mutter der Klägerin und bei der Klägerin Zeiten der Kommandanturaufsicht als Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI anerkannt worden sind. Selbst wenn man dort den Rückkehrwillen ebenfalls als Anerkennungsvoraussetzung hineinliest (vgl. LSG NRW, Urt. v. 28.09.2009, Az. L 3 R 52/05 – nach juris), müsste diese Beurteilung nicht auf die streitgegenständliche Frage in gleicher Weise angewandt werden. Maßgeblich ist im Überprüfungsverfahren allein die materielle Richtigkeit der Entscheidung, so dass eine eventuelle Selbstbindung nicht geltend gemacht werden kann.
Nach alledem waren die angefochtenen und die zur Überprüfung stehenden Bescheide der Beklagten nicht zu beanstanden und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 10.09.2014 war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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