Aktenzeichen M 30 K 17.39956
Leitsatz
1. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Sierra Leone besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Behandlung bei einer HIV-Infektion. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die in der mündlichen Verhandlung auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beschränkte Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone vorliegen bzw. eine entsprechenden Verpflichtung der Beklagten zur dieser Feststellung.
Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst dabei nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712).
Den vorliegenden, allgemein zugänglichen Erkenntnissen der WHO nach, die auch in der mündlichen Verhandlung am 19. Juli 2018 dargestellt wurden, besteht in Sierra Leone in Bezug auf HIV eine Prävalenz von (nur) 1,25%. (www.a…int/countries/health-topics?country=874). Sierra Leone sei eines der am wenigsten beeinträchtigten Länder im regionalen und globalen Vergleich. Somit besteht in Sierra Leone hinsichtlich einer HIV-Infektion keine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Demzufolge ist vorliegend eine individuelle Gefahrenlage zu prüfen.
Gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG wird jedoch gesetzlich vermutet, dass gesundheitliche Probleme einer Abschiebung nicht entgegenstehen. Die Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG sind nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das Gericht angeschlossen hat, auch im Zusammenhang mit der Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG heranzuziehen (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn 7 m.w.N.).
Das kurz vor der mündlichen Verhandlung vorgelegte erste Attest über die HIV-Infektion des Klägers, obwohl er sich anscheinend seit September 2015 in entsprechender Behandlung befindet, erfüllt bereits nicht die Anforderungen, die § 60a Abs. 2c AufenthG an qualifizierte ärztliche Bescheinigungen stellt, und ist somit nicht hinreichend geeignet, die gesetzliche Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, zu widerlegen.
Dem Attest lässt sich insbesondere nicht entnehmen, in welcher zeitlichen Hinsicht und welcher Weise beim Kläger mit seinem bisher individuellen Krankheitsverlauf eine Unterbrechung oder der Abbruch der antiretroviralen Kombinationstherapie zu schwersten, lebensbedrohlichen Verschlimmerungen führen wird. Schließlich reicht die Verschlimmerung einer Erkrankung alleine für das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht aus, sondern bedarf es einer derart wesentlichen Verschlechterung durch die Abschiebung, dass die Abschiebung für den Kläger bedeuten würde, dass er quasi sehenden Auges einer alsbald zu erwartenden nahezu lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt würde. Das Attest beschreibt hingegen nur in allgemeiner Form die Notwendigkeit der Therapie und Dauerhaftigkeit der Therapie. Dass eine HIV-Erkrankung unbehandelt zum Tode und ein Therapieabbruch zu einer stark verkürzten Lebenserwartung führt, steht für das Gericht außer Frage. In welcher zeitlichen und qualitativen Weise ein Therapieabbruch das Mortalitätsrisiko des Klägers aber konkret individuell erhöht, ob die Erkrankung angesichts des bereits erreichten Stadiums selber zum Tode führen führe oder vielmehr zu erwartende anderweitige Infektionen etc. ist gerade nicht erkennbar, aber i.S.v. § 60a Abs. 2c AufenthG für eine qualifizierte Bescheinigung erforderlich. So lässt sich auch den in der Rechtsprechung stattgebenden Entscheidungen bei Vorliegen einer HIV-Infektion, allerdings in Bezug auf das Herkunftsland Nigeria, durchaus entnehmen, dass die dort vorgelegten Atteste die Folgen des zu erwartenden Krankheitsverlaufs verbunden mit gewissen zeitlichen und qualitativen Elementen darstellten (vgl. Sächs. OVG, U.v. 6.6.2005 – A 5 B 281/04 – juris; VG Aachen, U.v. 13.11.2008 – 2 K 77/06.A – juris; VG Ansbach, U.v. 23.3.2004 – AN 9 K 03.31160 – juris; VG München, U.v. 20.4.2005 – M 21 K 00.51713 – juris). Die im vorliegenden Attest enthaltenen sehr allgemeinen Aussagen reichen hingegen nicht aus.
Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens durch das Gericht ist insoweit nicht veranlasst (vgl. auch BayVGH, a.a.O. Rn 8), um die Mängel an der vorgelegten Bescheinigung zu beseitigen. Hierbei ist auch die gesetzliche Wertung in § 60 Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG zu beachten, die dem Ausländer eine Bringschuld auferlegt, die der Kläger vorliegend aber unzureichend erfüllt hat. So ist für das Gericht bereits unklar geblieben, warum der Kläger weder dem Bundesamt noch dem Gericht seine Erkrankung nicht frühzeitiger mitteilte und gemäß seiner Verpflichtung nach § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG unverzüglich eine ärztliche Bescheinigung vorlegte. Dabei ist kaum nachzuvollziehen, dass bzw. wieso das ärztliche Attest vom Juni 2018 das erste Attest über die HIV-Infektion des Klägers darstellt, wenn die Infektion bereits im September 2015 erkannt wurde.
Weitere Ermittlungen in Bezug auf den individuellen Stand der HIV-Infektion des Klägers und individuell beim Kläger zu erwartende Entwicklung bei Abbruch der begonnenen Therapie können im Übrigen auch deshalb unterbleiben, da der Kläger in Sierra Leone entgegen der allgemeinen Aussagen im ärztlichen Attest, der Prozessbevollmächtigten und des Klägers durchaus die notwendige Behandlung erhalten kann.
Aus den vorliegenden – aktuellen – Erkenntnissen ergibt sich, dass in Sierra Leone grundsätzlich die Möglichkeit einer Behandlung bei einer HIV-Infektion besteht (Auswärtiges Amt vom 26.9.2017 an das Bundesamt – Gz: RK-1-516.50/1). Es bestehe die Möglichkeit einer kostenlosen Behandlung und Diagnostik von HIV/AIDS. Tests zur Diagnostik wie CD4 Count und Virraload würden kostenlos über das Bill und Melinda Gates Programm ausgegeben. Soweit das Verwaltungsgericht Gera im Jahre 2003 von einer nicht hinreichenden Sicherstellung der Behandlung bezugnehmend auf den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 2. Juli 2002 ausgegangen ist (VG Gera, U.v. 24.7.2003 – 4 K 20431/01.GE – juris), ist von veralteten Erkenntnissen auszugehen. Den allgemein im Internet zugänglichen Quellen lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Vielmehr wird das Bestehen eines National HIV Strategic Plan 2016 – 2020 herausgestellt (vgl. WHO a.a.O.; UNAIDS, www.u…org/en/regioncountries/countries/sierraleone). Der Einwand der fehlenden Finanzierbarkeit einer theoretisch bestehenden Behandlungsmöglichkeit verfängt nach der deutlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes in Bezug auf eine kostenfreie Behandelbarkeit nicht. Die Ausführungen der Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung sind insoweit nicht substantiiert und bloße nicht belegte Mutmaßungen, jedenfalls konnte die Prozessbevollmächtigte keine Quellenangaben für ihre Äußerungen tätigen. Das Gericht sieht den Kläger angesichts seines bisherigen schulischen und beruflichen Werdegangs im Übrigen auch durchaus im Stande, sich die erforderlichen Informationen in Sierra Leone über die Behandlungsmöglichkeiten zu besorgen und Zugang zu diesen zu erreichen.
Die gesetzliche Vermutung in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, dass der Abschiebung des Klägers gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, ist somit nicht widerlegt und das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entsprechend zu verneinen. In Bezug auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vermag die HIV-Erkrankung des Klägers ein solches mit gleicher Argumentation nicht zu begründen. Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes verwiesen und gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung abgesehen.
Hinsichtlich der ursprünglich erhobenen Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter i.S.v. Art. 16a Grundgesetz (GG), die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. Asylgesetz (AsylG) und des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG ist das Verfahren nach der Erklärung der Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung eingestellt und der angegriffene Bescheid insoweit rechtskräftig geworden. Wird ein abtrennbarer Teil des mit der Klageschrift bezeichneten Klagegegenstandes bei Stellung der Klageanträge in der mündlichen Verhandlung fallengelassen, so liegt darin insoweit eine konkludente (Teil-)Klagerücknahme, auch wenn diese nicht ausdrücklich als solche bezeichnet wird (vgl. BFH, B.v. 1.10.1999 – VII R 32/98 – NVwZ-RR 2000, 334; Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 92 Rn. 9).
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).