Arbeitsrecht

Ansprüche nach der Fluggastrechteverordnung bei Flugannullierung aufgrund gewerkschaftlich organisierten Pilotenstreiks (“Vereinigung Cockpit”)

Aktenzeichen  37 C 5133/20

Datum:
2.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 37958
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 3, Art. 7

 

Leitsatz

Ein gewerkschaftlich organisierter Streik ist als ein den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigendes außergewöhnliches Ereignis im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechte-VO anzusehen (s. dagegen zum sog. “wilden Streik” EuGH BeckRS 2018, 5392). (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1.    Die Klage wird abgewiesen.
2.    Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 
3.    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4.    Der Streitwert wird auf 250,00 € festgesetzt.
5.    Gegen dieses Urteil wird da Rechtsmittel der Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Obwohl der streitgegenständliche Ausgleichsanspruch für den annullierten Flug von Budapest nach Nürnberg vom 10.08.2018 nach Grund und Höhe grundsätzlich erfüllt wäre, scheidet eine Entschädigungspflicht der Beklagten im vorliegenden Falle ausnahmsweise deshalb aus, weil die Beklagte aufgrund außergewöhnlicher Umstände an der Beförderung der Zedentin gehindert war und weil die Annullierung auch bei Ergreifung aller ihr zumutbaren Maßnahmen nicht hätte verhindert werden können.
I.
Gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) 261/2004 ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
1. Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände im Sinne der genannten Vorschrift ist in der Verordnung (EG) 261/2004 vom Verordnungsgeber nicht bestimmt. Es existiert keine Legaldefinition. Der Begriff ist deshalb von der Rechtsprechung, insbesondere durch den europäischen Gerichtshof näher bestimmt worden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) können als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 solche Vorkommnisse angesehen werden,
1.die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und
2.von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, ECLI:EU:C:2008:771, Rn. 23, sowie vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C-315/15, ECLI:EU:C:2017:342, Rn. 22), wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind (EuGH, Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C-195/17, C-197/17 bis C-203/17, C-226/17, C-228/17, C-254/17, C-274/17, C-275/17, C-278/17 bis C-286/17 und C-290/17 bis C-292/17, ECLI:EU:C:2018:258, Rn. 34; EuGH, Urteil vom 04. April 2019 – C-501/17 -, Rn. 19 – 20, juris).
Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Gemeinschaftsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen. Stehen diese Begriffe in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem Grundsatz oder, spezifischer, von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 10. März 2005, easyCar, C-336/03, Slg. 2005, I-1947, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem können die Erwägungsgründe eines Gemeinschaftsrechtsakts seinen Inhalt präzisieren (vgl. in diesem Sinne u. a. EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 76).
2. Unstreitig streikte am Tag der geplanten Beförderung (10.08.2018) das deutsche Pilotenpersonal der Beklagten, zumindest ein Großteil davon.
Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 14 der Fluggastrechteverordnung können solche Umstände, nämlich (u. a.) den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks ein außergewöhnliches Ereignis im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung darstellen, wobei innerhalb des Erwägungsgrundes nach der Art des Streiks (Streik des eigenen Personals oder Streik bei einem Dritten, gewerkschaftlich organisierter Streik oder gewerkschaftlich nicht organisierter („wilder“) Streik nicht unterschieden ist.
2.1 Der EuGH hat bisher zu der Frage, ob ein gewerkschaftlich organisierter Streik des eigenen Personals des ausführenden Luftfahrtunternehmens einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung darstellt, noch nicht entschieden.
Festgelegt hat sich der EuGH jedoch dahingehend, dass ein gewerkschaftlich nicht organisierter („wilder“) Streik des eigenen Personals des ausführenden Luftfahrtunternehmens (in einem entschiedenen Einzelfall) kein außergewöhnliches Ereignis darstellt (EuGH, Beschluss vom 14. November 2014, Siewert (C-394/14, ECLI:EU:C:2014:2377).
Nicht jedes unerwartete Ereignis ist zwangsläufig als „außergewöhnlicher Umstand“ einzustufen, sofern ein solches Ereignis Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sein kann.
Außerdem ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung angesichts ihres Ziels, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen (1. Erwägungsgrund) und der Tatsache, dass Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz vorsieht, dass Fluggäste im Fall von Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben, eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, ECLI:EU:C:2008:771, Rn. 20 ().
Im konkreten Fall () ging es um einen in der Wirkung „wilden Streik“ durch massenhafte kurzfristige Krankmeldungen des Flugpersonals des ausführenden Luftfahrtunternehmens nach überraschender Ankündigung von Umstrukturierungsplänen durch dieses Unternehmen aufgrund eines Aufrufs, der nicht von den Arbeitnehmervertretern des Luftfahrtunternehmens, sondern spontan von den Arbeitnehmern selbst, die sich krank meldeten, verbreitet wurde.
Umstrukturierungen und betriebliche Umorganisationen gehören zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von Unternehmen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Luftfahrtunternehmen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Meinungsverschiedenheiten oder Konflikten mit ihren Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen können. Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, sind als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens zu betrachten.
Im Übrigen kann auch nicht angenommen werden, dass der „wilde Streik“ von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar war, weil er trotz der hohen Abwesenheitsquote nach einer Einigung zwischen dem Unternehmen und dem Betriebsrat sofort beendet wurde (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 – C-195/17 -, Rn. 29 – 49, juris).
Der EuGH misst der Frage, ob die Streikmaßnahme nach nationalem Recht rechtmäßig ist oder nicht, für die Auslegung der „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 einzustufen sind, keine Bedeutung bei, weil dies zur Folge hätte, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge; dadurch würden die in den Erwägungsgründen 1 und 4 der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Ziele beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Union sicherzustellen (EuGH, Urteil vom 17. April 2018 – C-195/17 -, Rn. 29 – 49, juris).
2.2 Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes stellt ein gewerkschaftlich organisierter Streik grundsätzlich ein außergewöhnliches Ereignis dar – und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Streik der eigenen Mitarbeiter oder von Drittfirmenmitarbeitern handelt.
Der Bundesgerichtshof hat im Urteil vom 21.08.2012, Az. X ZR 138/11 (Rn. 19 ff., zitiert nach juris) dazu ausgeführt:
„Sofern ein Streik in Rede steht, kommt es dabei – jedenfalls im Grundsatz – nicht darauf an, ob der Betrieb des Luftverkehrsunternehmens durch eine Tarifauseinandersetzung zwischen Dritten, beispielsweise durch einen Streik von Beschäftigten des Flughafenbetreibers oder eines mit betriebswesentlichen Aufgaben wie etwa der Sicherheitskontrolle beauftragten anderen Unternehmens oder dadurch beeinträchtigt wird, dass eigene Mitarbeiter des ausführenden Luftverkehrsunternehmens wie Bodenpersonal oder fliegendes Personal in den Ausstand treten. Weder der Wortlaut des Art. 5 III der Verordnung noch Erwägungsgrund 14 oder der vorstehend dargestellte Sinn und Zweck der Vorschrift bieten für eine solche Unterscheidung einen Anhaltspunkt.
Auch der Streik eigener Mitarbeiter geht typischerweise von einer Gewerkschaft aus, die von dem auf der Gegenseite stehenden Tarifpartner, der der Arbeitgeber der Mitarbeiter, aber auch eine Arbeitgeberorganisation sein kann, verbesserte Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne erstreiten will. Zu diesem Zweck ruft sie ihre Mitglieder zur Teilnahme am Arbeitskampf auf. Ein solcher Arbeitskampf ist Mittel der unionsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit (Art. 12 I und Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) (…) und suspendiert, jedenfalls soweit zur Ermöglichung des Arbeitskampfs erforderlich, die sonst bestehenden Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag. Der Streikaufruf wirkt – auch soweit er zu einem Ausstand der eigenen Beschäftigten führt – „von außen“ auf das Luftverkehrsunternehmen ein und ist nicht Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit. Denn er zielt gerade darauf, als Kampfmittel der Auseinandersetzung um einen neuen oder anderen Tarifvertrag die „normale Ausübung der Tätigkeit“ zu beeinträchtigen und wenn möglich vollständig lahmzulegen. Er betrifft demgemäß in aller Regel auch nicht nur einen einzelnen oder einzelne Flüge, sondern typischerweise die gesamte oder zumindest wesentliche Teile der gesamten Tätigkeit des Luftverkehrsunternehmens. Der Zweck der Verordnung, die Fluggäste – auch durch die Pflicht zu Ausgleichszahlungen – vor dem „Ärgernis“ (EuGH, Rs. Wallentin-Hermann/Alitalia) – grundsätzlich – vermeidbarer Annullierungen zu schützen, kommt bei einem solchen Streik ebenso wenig zum Tragen wie in denjenigen Fällen, in denen ein externer Arbeitskampf oder ein sonstiges Ereignis dazu führt, dass die normale Betriebstätigkeit eines Luftverkehrsunternehmens ganz oder zu wesentlichen Teilen zum Erliegen kommt (…).
In aller Regel kann eine außergewöhnliche Umstände ausschließende Beherrschbarkeit der Situation bei einer Tarifauseinandersetzung nicht angenommen werden. Die Entscheidung, einen Streik durchzuführen, wird von der Arbeitnehmerseite im Rahmen der ihr zukommenden Tarifautonomie getroffen und damit außerhalb des Betriebs des ausführenden Luftverkehrsunternehmens. Daraus folgt, dass das Luftverkehrsunternehmen regelmäßig auch bei eigenen Mitarbeitern keinen rechtlich erheblichen Einfluss darauf hat, ob gestreikt wird oder nicht. Dabei verfängt das Argument nicht, das ausführende Luftverkehrsunternehmen habe es bei betriebsinternen Streiks in der Hand, den Forderungen nachzukommen und dadurch den Streik abzuwenden. Damit würde von dem Luftverkehrsunternehmen verlangt, auf seine unionsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit zu verzichten und sich im Arbeitskampf von vornherein in die Rolle des Unterlegenen zu begeben. Dies wäre weder dem Luftverkehrsunternehmen zumutbar noch läge es im längerfristigen Interesse der Fluggäste. (…)“
An der dargelegten Rechtsauffassung hat der Bundesgerichtshof auch in jüngster Zeit festgehalten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 04.09.2019 – Aktenzeichen X ZR 111/17, zitiert nach juris).
2.3 Eine Analyse der EuGH-Entscheidung vom 17.04.2018, C-195/17 () ergibt, dass diese in ihrem entscheidenden Kern der Rechtsauffassung des BGH nicht entgegensteht, denn eine Arbeitskampfmaßnahme der Arbeitnehmerseite (Streik) kann nicht als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens betrachtet werden, zumal diese nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa dem „ultima ratio“- Prinzip unterliegt.
Diese Wertung steht auch der Rechtsauffassung des Landgerichts Nürnberg-Fürth aus dessen Hinweisbeschluss vom 11.02.2020 – 16 S 5698/19 -, der inhaltlich vom Klägervertreter auf den Seiten 8/9 des Schriftsatzes vom 02.07.2020 zitiert wird, entgegen, denn es erscheint grundsätzlich gefährlich, zur Beurteilung der Außergewöhnlichkeit eines Umstandes zu sehr (oder gar ausschließlich) auf die Häufigkeit seines Auftretens abzustellen, weil sich damit sehr schnell und eindringlich die Frage nach der Qualität des Maßstabes stellt.
Ist ein genereller Maßstand anzulegen? Soll es einen einheitlichen Maßstab für jeweils eine Branche geben oder ist auf die konkrete Befasstheit des betroffenen Unternehmens mit dem zu beurteilenden Umstand abzustellen?
In Europa ist die Streikbereitschaft außerdem höchst unterschiedlich ausgeprägt, wie ein Blick in die EU-Statistiken beweist. Während die Anzahl der jährlich durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage von 2009 bis 2018 pro 1.000 Beschäftigte z. B. in Frankreich 114 und in Belgien 91 betrug, waren es in Deutschland gerade einmal 18 (Quelle: https://de.statista.com). Soll man einen differenzierenden Länder-Maßstab anlegen oder einen Durchschnittsmaßstab? Oder ist in unserer heutigen Welt so gut wie gar nichts mehr außergewöhnlich? Ein Blick in die Vereinigten Staaten von Amerika gibt hier durchaus Anlass zu vertieften philosophischen Betrachtungen… Es stellt sich die Frage, wie ein Mittel – im vorliegenden Fall ein Arbeitskampf -, das nach unserer nationalen wie übernationalen Rechtsordnung nur als „ultima ratio“, eben als „letztes Mittel“ zur Erreichung eines bestimmten Zweckes zum Einsatz kommen soll, nicht außergewöhnlich sein kann! Diese Frage stellen, heißt sie verneinen – alles andere wäre eine Vergewaltigung des natürlichen Sprachgefühls – und auf diesem Weg kann und wird der erkennende Richter seinem Landgericht nicht folgen.
Wie der Bundesgerichtshof im Urteil vom 21.08.2012 – X ZR 138/11, Rn. 19 ff., zitiert nach juris – überzeugend ausgeführt hat, ist es auch um die tatsächliche Beherrschbarkeit des Streikereignisses seitens des ausführenden Luftfahrtunternehmens schlecht bestellt.
Selbstverständlich könnte man rein theoretisch die Beherrschbarkeit des Streikereignisses durch das Luftfahrtunternehmen durch das Postulat herbeiführen, das Unternehmen hätte sich doch nur den Forderungen der Arbeitnehmerseite bzw. der Gewerkschaftsseite – rechtzeitig, also vor Streikbeginn – beugen müssen, aber der damit zwangsläufig verbundenen Versuchung, die durch die europäische Grundrechtscharta (vgl. Art. 28) geschützte Koalitionsfreiheit der Arbeitgeber auf dem Altar des Verbraucherschutzes bedenkenlos zu opfern, sollte weder der Europäische Gerichtshof noch ein nachgeordnetes Unionsgericht erliegen.
Es ist bedenklich genug, dass der Europäische Gerichtshof in der -Entscheidung die Beherrschbarkeit im Falle des „wilden Streiks“ aus der Betrachtung der Ex-Post-Faktenlage herleitet, was für den konkreten Einzelfall noch toleriert werden mag, aber wie hätte sich der Gerichtshof entschieden, wenn die „spontan erkrankten“ Mitarbeiter bei ihrer Genesung nicht dieselbe „kongruente Spontaneität“ an den Tag gelegt hätten wie im entschiedenen Fall…?
2.4 Hinzu kommt, dass sich das ausführende Luftfahrtunternehmen im vorliegenden Fall nicht nur mit seinen Mitarbeitern forderungsmäßig konfrontiert sah, sondern vor allem mit der Gewerkschaft („Vereinigung Cockpit“), in der sich die Mitarbeiter bzw. ein Teil davon organisiert hatten.
Die von der Gewerkschaft getroffenen Entscheidungen und im Arbeitskampf verfolgten Interessen stimmen aber nicht notwendig vollständig mit denen der Belegschaft überein. Das Gericht verkennt nicht, dass Forderungen der Arbeitnehmer und das Verhalten des Arbeitgebers in ständiger Wechselwirkung stehen. Daraus jedoch die Beherrschbarkeit gewerkschaftlicher Entscheidungen durch die Arbeitgeberseite feststellen zu wollen, geht an der Lebenswirklichkeit ebenso vorbei wie an der gesetzgeberischen Wertung in Ziffer 14 der Erwägungsgründe der Verordnung, wonach Streiks durchaus außergewöhnliche Ereignisse im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung sein können, ohne dass diese Streiks von vornherein auf solche ohne Beteiligung des eigenen Personals des ausführenden Luftfahrtunternehmens reduziert sein sollen.
Es kann dahinstehen, ob die gewerkschaftliche Forderung nach einer Erhöhung der Pilotengehälter um bis zu 47% des geltenden Tarifgehalts überzogen war oder nicht. Die Höhe der in den Tarifverhandlungen (und später im Arbeitskampf) erhobenen Forderungen ist nur insofern von Bedeutung, als sie realistisches Tarifziel ebenso sein kann wie massives und zu Drohzwecken überhöhtes Druckmittel zur Herbeiführung bzw. Erzwingung eines Tarifabschlusses. Damit ist sie Teil der Tarifautonomie, deren Ausgestaltung und praktische Umsetzung den Gerichten und staatlichen Behörden grundsätzlich weitestgehend und somit auch im vorliegenden Fall entzogen ist.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der streitgegenständliche Streik als den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigendes außergewöhnliches Ereignis im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) 261/2004 zu betrachten ist.
3. Die Beklagte hat alle zumutbaren Maßnahmen zur Abwendung der Folgen der außergewöhnlichen Umstände ergriffen.
Bei der Prüfung der zumutbaren Maßnahmen steht den Luftfahrtunternehmen nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung ein Prognose- und Ermessensspielraum zu. Die Grenzen dieses Spielraumes wurden vorliegend offenkundig nicht überschritten.
Der Streikaufruf erfolgte nur zwei Tage vor dem streitgegenständlichen Flug, nämlich am 08.08.2018. Damit blieb der Beklagten nur ein winziges Zeitfenster, um die Auswirkungen des bevorstehenden Streiks auf ihr operatives Geschäft möglichst gering zu gestalten. Grundsätzlich sind die Interessen des ausführenden Luftfahrtunternehmens und seiner Fluggäste in solchen Fällen nicht grundsätzlich konträr, sondern gleichgerichtet.
Die Beklagte hat vorgetragen, dass sie – um die niedrigen Ticketpreise zu ermöglichen – ein hohes Flugaufkommen zu niedrigen Margen durchführe.
Deshalb sei ihr Flugplan extrem ausgelastet, so dass die eingesetzten 450 Flugzeuge jeweils mehrere aufeinanderfolgende Flüge pro Tag (insgesamt rund 2.400) von 82 Basen aus durchführen würden, wovon am 10.10.2018 die Annullierung von 398 Flügen erforderlich geworden sei (gerichtsbekannt aus parallelen Verfahren).
Nennenswerte Kapazitätsreserven würden aus Kostengründen nicht vorgehalten. Weiter hat die Beklagte vorgetragen, dass zum Zeitpunkt des Streiks weder Kabinenpersonal noch ein einziger Pilot zur Verfügung gestanden habe.
Von der Beklagten ernsthaft zu verlangen, ihre Notfallpläne im Prozess offenzulegen, damit konkret nachvollzogen werden kann, ob die Beklagte tatsächlich einen anderen anstelle der streitgegenständlichen Fluges hätte annullieren müssen, würde im Ergebnis dazu führen, der Arbeitnehmerseite, genauer gesagt den Gewerkschaften die Arbeitskampfstrategie der Arbeitgeberseite, an deren Geheimhaltung diese ein von der Rechtsordnung anzuerkennendes Interesse hat, offenzulegen und ihr dadurch unangemessene Vorteile für künftige Tarifauseinandersetzungen zu verschaffen. Eine solche Lesart der Substanziierungslast zum Nachteil der Beklagten wäre deshalb – trotz des hohen Stellenwertes des Verbraucherschutzes – völlig unverhältnismäßig.
4. Somit ist die Klage in allen Ansprüchen als unbegründet abzuweisen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
III.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
IV.
Gegen diese Entscheidung wird gemäß § 511 ZPO zur Fortentwicklung des Rechts das Rechtsmittel der Berufung zugelassen.


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