Arbeitsrecht

Außerordentliche Kündigung einer ordentlich unkündbaren Arbeitnehmerin wegen Medikamentenmissbrauchs, Verwirkung des Kündigungsrechts

Aktenzeichen  3 Sa 83/21

Datum:
14.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42666
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 242, § 626 Abs. 1 und 2

 

Leitsatz

Auf eine außerordentliche Kündigung wegen Medikamentenmissbrauchs sind die Grundsätze einer außerordentlichen Kündigung wegen krankheitsbedingter Beeinträchtigung infolge Alkoholismus anzuwenden.

Verfahrensgang

22 Ca 8178/19 2020-12-02 Urt ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 02.12.2020 – 22 Ca 8178/19 – abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klagepartei zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist aufgrund der außerordentlichen Kündigung vom 12.07.2019 mit sozialer Auslauffrist am 31.12.2020 aufgelöst worden. Die Kündigung ist wirksam. Der Weiterbeschäftigungsanspruch ist unbegründet.
1. Der Beklagte war berechtigt, das tarifvertraglich unkündbare Arbeitsverhältnis ge mäß Tarifziffer 275.1 MTV i.V.m. § 626 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund zu kündigen.
a) Mit dem Begriff des „wichtigen Grundes“ knüpft eine tarifvertragliche Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 BGB an, deren Verständnis deshalb auch für die Auslegung der Tarifnorm maßgebend ist (vgl. BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 14 f. zur vergleichbaren Regelung in § 34 Abs. 2 Satz 1 TV-L). Bei einer derartigen Bezugnahme gilt zugleich § 626 Abs. 2 BGB, wonach die außerordentliche Kündigung nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Wochen erklärt werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 28.10.2010 – 2 AZR 688/09 – Rn. 31 f. zur vergleichbaren Regelung in § 34 TVöD).
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die außerordentliche Kün digung wegen Krankheit nicht als wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB ungeeignet. Grundsätzlich ist es dem Arbeitgeber aber zuzumuten, die geltende Kündigungsfrist einzuhalten. Eine außerordentliche Kündigung kommt daher nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa bei einem Ausschluss der ordentlichen Kündigung auf Grund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen. Ist schon an eine ordentliche Kündigung wegen krankheitsbedingter Einschränkungen des Arbeitnehmers ein strenger Maßstab anzulegen, gehen die Anforderungen an die Wirksamkeit einer auf Krankheit gestützten Kündigung darüber noch hinaus. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Schon eine ordentliche Kündigung wegen einer Leistungsminderung setzt voraus, dass die verbliebene Arbeitsleistung die berechtigte Gleichwertigkeitserwartung des Arbeitgebers in einem Maße unterschreitet, dass ihm ein Festhalten an dem (unveränderten) Arbeitsvertrag unzumutbar ist. Für die außerordentliche Kündigung gilt dies in noch höherem Maße (vgl. BAG, Urteil vom 20.03.2014 – 2 AR 825/12 – Rn. 20; Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – unter II. 2. a).
c) Eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung infolge Alkoholismus kommt in Fällen sog. Unkündbarkeit je nach den Umständen als wichtiger Grund in Betracht (vgl. BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – unter II. 2. b) aa); 20.12.2012 – 2 AZR 32/11 – Rn. 14; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 28). Zur Vermeidung des Wertungswiderspruchs muss dann allerdings zu Gunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden. Überdies muss der Prüfungsmaßstab den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die nach § 626 Abs. 1 BGB an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind (vgl. BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 16 m.w.N.). Für den Fall von Alkoholismus setzt eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist wegen Krankheit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Prüfung in drei Stufen voraus. Im Zeitpunkt der Kündigung muss die Prognose gerechtfertigt sein, der Arbeitnehmer biete aufgrund einer Alkoholsucht dauerhaft nicht die Gewähr, in der Lage zu sein, die vertraglich geschuldete Tätigkeit ordnungsgemäß zu erbringen (1. Stufe). Für die Prognose im Hinblick auf die weitere Entwicklung einer Alkoholerkrankung kommt es entscheidend darauf an, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Kündigung bereit ist, eine Entziehungskur bzw. eine Suchttherapie durchzuführen. Weitere Voraussetzung ist, dass daraus eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen folgt (2. Stufe), die durch mildere Mittel – etwa eine Versetzung – nicht abgewendet werden kann und die auch bei einer Abwägung gegen die Interessen des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden muss (3. Stufe) (vgl. BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – a.a.O.; 20.12.2012 – 2 AZR 32/14 – Rn. 14 m.w.N.; 20.03.2014 – 2 AZR 565/12 – Rn. 15 m.w.N.; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 27). Dabei muss die Prüfung in allen drei Stufen den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind (vgl. schon BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – a.a.O.).
d) Diese Grundsätze sind auf eine außerordentliche Kündigung wegen Medikamen tenmissbrauchs zu übertragen. Auch der Medikamentenmissbrauch ist wie der Alkoholismus oder Drogenmissbrauch eine Krankheit im medizinischen Sinn (vgl. Zimmermann in Gallner/Mestwerdt/Nägele, KSchR, 7. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 354; Ross/Bufalick in Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017, § 1 KSchG Rn. 123 vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18; vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18). Der Krankheitscharakter der Benzodizepin-Abhängigkeit wird zudem nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Wirkstoff Benzodiazepin zunächst medizinisch indiziert war und der Klägerin verordnet worden ist. Ab der Entwicklung einer Abhängigkeit bestand ein Krankheitswert.
e) Danach ist ein wichtiger Grund für die streitgegenständliche Kündigung gegeben.
aa) Nach Überzeugung der Kammer lag im für die Beurteilung der Kündigung maßgeblichen Zeitpunkt ihres Zugangs im Juli 2019 eine Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin vor. Nach ihrem erstinstanzlichen Vortrag hatte die Klägerin aufgrund der beruhigenden Wirkung von Benzodiazepin in der Vergangenheit langfristig und missbräuchlich das Medikament Lorazepam konsumiert, was ihr erst unter dem Eindruck der Kündigung, der hiermit zusammenhängenden Vorwürfe und den Gesprächen ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten mit dem behandelnden Psychiater und mithin nach Zugang der Kündigung bewusst geworden sei. Diese Einlassung hat die Klägerin zwar in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 24.06.2021 bestritten, indem sie eine Medikamentenabhängigkeit überhaupt infrage gestellt hat. Jedoch bestätigt das von ihr vorgelegte nervenärztliche Attest vom 16.05.2021, dass sie jedenfalls bis Herbst 2020 an einer Benzodiazepin-Abhängigkeit litt. Denn erst im Herbst 2020 soll die Klägerin einen Benzodiazepin-Entzug unternommen und dadurch generalisierte Krampfanfälle erlitten haben (vgl. Anl. K5 = Bl. 543 d. A.).
bb) Durch diese Benzodiazepin-Abhängigkeit war im Zeitpunkt der Kündigung die Prognose gerechtfertigt, die Klägerin biete dauerhaft nicht die Gewähr, in der Lage zu sein, die vertraglich geschuldete Tätigkeit ordnungsgemäß zu erbringen.
Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass eine Benzodiazepin-Abhängigkeit zu einer leichten Sedierung, kognitiven Störungen sowie Konzentrationsschwierigkeiten führen kann. Tatsächlich haben sich solche Nebenwirkungen der Benzodiazepin-Abhängigkeit bei der Klägerin im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung gezeigt. Es war ihr nicht möglich, den Arbeitsauftrag ihrer Kollegin vom 06.06.2019, zur Poststelle zu gehen und sechs frankierte Rückumschläge für einen 20g-Brief unter Angabe der Kostenstelle 3420 ausstellen zu lassen (vgl. Email vom 06.06.2019, Bl. 368 d. A.), nachzuvollziehen und auszuführen. Sie erklärte hierzu in ihrer E-Mail vom 06.06.2019 (vgl. Email vom 06.06.2019, Bl. 369 d. A.):
„Ich verstehe nicht, was ich machen soll bei PS.“
Bei diesem Arbeitsauftrag handelt es sich um eine einfache, aus sich heraus verständliche Anweisung, wie sie auch von neu eingestellten Arbeitskräften, Praktikanten und vergleichbaren Personen verrichtet werden kann. Ist der Klägerin die Erledigung eines solchen Arbeitsauftrags kognitiv nicht möglich, ist nicht vorstellbar, dass sie im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung im Juli 2019 in der Lage gewesen sein sollte, Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“ ordnungsgemäß zu erbringen, wie Vordrucke z. B. Anforderungen, Anmeldungen, Krank- und Gesundmeldungen, Urlaubsanträge u. ä. ausfüllen, Standardbriefe verfassen, einfache Ergebnisprotokolle anfertigen u.a. In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung der Beklagten als zugestanden anzusehen, dass sich die Aufgaben der Klägerin zuletzt nur noch auf das Kopieren, Scannen und Botengänge und damit auf kleinste Ausschnitte der Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“ beschränkten. Da die Klägerin aus eigener Wahrnehmung weiß, welche Tätigkeiten sie verrichtet hat, hätte sie qualifizierte Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“, die sie in den letzten Jahren verrichtet haben will, vortragen können. Für ihren Vortrag kam es nicht darauf an, ob die Beklagte im Einzelnen dargelegt hat, an welchem Tag der Klägerin ein Kopier-, Scan- oder Botenauftrag erteilt worden ist. Insoweit war ihr Bestreiten unzulässig, § 138 Abs. 4 ZPO.
Dass es der Klägerin im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unmöglich war, ihre arbeitsvertraglichen Pflichten ordnungsgemäß zu erledigen, kommt auch in der Stellungnahme des Personalrats zum Ausdruck. Er zieht in Kenntnis der bei der Beklagten verwendeten Multifunktionsgeräte aus den in der Anhörung detailliert geschilderten Versäumnissen, Verfehlungen und Schlechtleistungen der Klägerin den Schluss, dass die Klägerin wohl seit langem schon nicht mehr im Stande zu sein scheint, ihre Aufgaben und Tätigkeitsfelder geistig richtig zu erfassen, zu verstehen, abzuspeichern, nachzuvollziehen und in der Folge richtig oder überhaupt ausführen zu können bzw. die Erklärungen/Hilfestellungen dazu verstehen und anwenden zu können. Diese Einschätzung hat die Klägerin, die sich erstinstanzlich mit der Personalratsanhörung auseinandergesetzt hat, nicht als falsch gerügt.
Aufgrund der weiteren (erstinstanzlichen) Behauptung der Klägerin, sie sei in Bezug auf die Grunderkrankung der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie medikamentös eingestellt und in Bezug auf sie bestehe aus Sicht des behandelnden Psychotherapeuten und behandelnden Psychiaters Arbeitsfähigkeit, ist zu folgern, dass die kognitiven Ausfallerscheinungen der Klägerin allein auf ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit zurückzuführen sind. Sie liegen auch langjährig vor, da die Klägerin eine langfristige, missbräuchliche Einnahme von Lorazepam/Benzodiapezin eingeräumt hat. Da es ausschließlich auf die objektiven Verhältnisse bei Zugang der Kündigung ankommt, ist es ohne Belang, dass der Beklagten die im Kündigungszeitpunkt bestehende Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin nicht bekannt war (vgl. BAG, Urteil vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) aa) der Gründe).
Die Klägerin war im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung auch nicht therapiebereit, weshalb nicht zu erwarten war, dass zum Ablauf der sozialen Auslauffrist am 31.12.2020 eine positive Prognose zu stellen war. Nach ihren erstinstanzlichen Angaben (Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 6 = Bl. 391 d. A.) war sich die Klägerin bis Herbst 2020 ihrer Medikamentenabhängigkeit und den Wirkungen der langfristigen, missbräuchlichen Einnahme von Lorazepam/Benzodiapezin „bislang nicht bewusst.“ Erst nach einem Entzug, den sie im Herbst 2020 geplant und unternommen haben will, erwartete die Klägerin eine positive Prognose (vgl. Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 10 = Bl. 395 d. A.). Soweit die Klägerin zweitinstanzlich behauptet hat, sie habe einen Entzug bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung „geplant“, genügt sie der abgestuften Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der krankheitsbedingten Kündigung nicht. So kann der Arbeitgeber bei einer krankheitsbedingten Kündigung wegen Alkoholismus verlangen, dass der Arbeitnehmer die im Kündigungszeitpunkt vorliegende ernsthafte Bereitschaft, eine Alkoholtherapie durchzuführen, nachweist (vgl. BAG, Urteil vom 20.03.2014 – 2 AZR 565/12 – Rn. 20, 21; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 32). Die Klägerin hätte deshalb ihre Bemühungen um eine Therapie zur Überwindung ihrer Benzodiazepin-Abhängigkeit im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung darlegen und vorsorglich unter Beweis stellen müssen. Eines gesonderten gerichtlichen Hinweises bedurfte es insoweit nicht, weil die Klägerin bereits in der Verhandlung vom 24.06.2021 auf die entsprechende Rechtsprechung des BAG hingewiesen worden war.
Die Klägerin kann von der Beklagten auch nicht verlangen, ihr vorab einen Entzug von ihrer Medikamentenabhängigkeit zu ermöglichen. Zwar hat ein Arbeitgeber, der einem alkoholkranken Arbeitnehmer aus personenbedingten Gründen kündigen will, diesem in der Regel nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuvor die Chance zu einer Entziehungskur zu geben. Hierauf kann sich der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) jedoch dann nicht berufen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber in sog. Fehlzeitengesprächen oder im Zusammenhang mit einem BEM vor Ausspruch der Kündigung nicht über seine Alkoholerkrankung unterrichtet und der Arbeitgeber auch aus sonstigen Umständen keine Kenntnis von der Alkoholsucht des Arbeitnehmers hat. Das Verheimlichen der Sucht lässt vielmehr darauf schließen, dass der Arbeitnehmer bis zur Kündigung nicht therapiebereit war (vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18; BAG, Urteil vom 19.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) bb) der Gründe).
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Beklagten die Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung nicht bekannt war. Die Klägerin hat sie erstmals in ihrem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 30.09.2020 und damit gut 1% Jahre nach Zugang der streitgegenständlichen Kündigung eingeräumt. Darüber hinaus hat die Klägerin – insofern unstreitig – mit Schreiben vom 26.10.2017 das Angebot zum BEM, das im Einzelnen zwischen den Parteien streitig ist, abgelehnt und dadurch von der Möglichkeit, die medizinischen Hintergründe ihres Verhaltens und ggf. ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit zu offenbaren, Abstand genommen. Ebenso ist es unstreitig, dass der Betriebsarzt Kontakt zur Klägerin aufgenommen hatte, um sie von einer stationären Rehabilitation zu überzeugen. Wenn die Klägerin in diesem Zusammenhang beanstandet, die Beklagte habe nicht vorgetragen, wegen welcher Erkrankung der Betriebsarzt sie kontaktiert habe, geht ihre Rüge ins Leere. Aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht durfte der Betriebsarzt der Beklagten keine gesundheitlichen Informationen über die Klägerin geben bzw. die Beklagte bei diesem nachfragen. Jedenfalls hat die Klägerin auch diesen Kontakt nicht zum Anlass genommen, um den Betriebsarzt bzw. über ihn die Beklagte darüber zu informieren, dass sie Lorazepam/Benzodiapezin langfristig und missbräuchlich einnimmt. Dieser Wertung steht die Behauptung der Klägerin, ihr sei ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit bis zum Herbst 2020 nicht bewusst gewesen, nicht entgegen. Eine missbräuchliche Verwendung eines Medikaments liegt schon dann vor, wenn die Einnahmevorgaben, die der Klägerin bekannt waren, nicht eingehalten werden. Das hohe Abhängigkeitspotential von Benzodiazepinen ist allgemein bekannt. Nähere Umstände über ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit hat die nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtete Klägerin zudem nicht mitgeteilt, und zwar auch nicht nach Hinweis des Gerichts vom 24.06.2021, dass sie sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht auf die Chance einer Entziehungskur berufen könne, wenn die Beklagte keine Kenntnis von ihrem Medikamentenmissbrauch gehabt hätte.
Soweit die Klägerin im Herbst 2020 einen Entzug von ihrer Benzodiazepin-Abhängigkeit unternommen haben will, ist dies nicht geeignet, die Negativprognose zu korrigieren. Eine nach Zugang einer Kündigung durchgeführte Entziehungsbehandlung und die dadurch bedingte Entwicklung einer Medikamentensucht kann als neuer Kausalverlauf für die bei Zugang der Kündigung anzustellende Prognose nicht berücksichtigt werden. Ist eine neue Ursachenkette begründet, besagt die tatsächliche Krankheitsentwicklung nichts über die Richtigkeit der zum Kündigungszeitpunkt erstellten Prognose aus (vgl. BAG, Urteil vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) aa) der Gründe; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 33). Im Übrigen hat die Klägerin trotz Bestreitens durch die Beklagte weder dargelegt noch unter Beweis gestellt, dass der BenzodiazepinEntzug erfolgreich war.
cc) Aus dem Umstand, dass eine auf Dauer ordnungsgemäße Leistungserbringung durch die Klägerin nicht zu erwarten war, folgt eine erhebliche Beeinträchtigung der betriebliehen Interessen (vgl. BAG, Urteil vom 20.12.2012 – 2 AZR 32/11 – Rn. 29).
Es ist offenkundig, dass die Klägerin im Zustand leichter Sedierung mit kognitiven Störungen einschließlich Konzentrationsschwierigkeiten ihre arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten als Sekretärin nach der Richtposition „Sekretärin B“ nicht erfüllen kann. Sie muss danach nicht nur Stenogramme aufnehmen, sondern auch in formgerechte, fehlerfreie Schriftstücke übertragen. Gleiches gilt für das Übertragen von Direktdiktaten in Arbeitsunterlagen. Darüber hinaus obliegt ihr das Ausfüllen von Vordrucken wie Anforderungen, Anmeldungen, Krank- und Gesundmeldungen, Urlaubsanträge u.ä. und das Verfassen von Standardbriefen und -mitteilungen. Auch die weiteren, von der Beklagten angeführten Tätigkeiten kann die Klägerin nicht verrichten. Dies ergibt sich aus den dokumentierten Beanstandungen von Arbeitsaufträgen in der Vergangenheit, auch wenn Einzelheiten streitig sein mögen, vor allem aber aus dem Auftrag vom 06.06.2019, sechs frankierte Rückumschläge aus der Poststelle zu holen, zu dem die Klägerin erwiderte, sie verstehe nicht, was sie bei der Poststelle tun solle. Die kognitiven Einschränkungen, die der Erledigung der Arbeiten einer Sekretärin nach der Richtposition „Sekretärin B“ entgegenstehen, hat zudem der Personalrat beschrieben.
Eine andere Möglichkeit, die Klägerin zu beschäftigen, bestand nach dem Vorbringen der Beklagten nicht. Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Sedierung der Klägerin verbunden mit kognitiven Störungen (Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit, Konzentrationsmängel, Vergesslichkeit etc.) es ausschließe, sie anderweitig einzusetzen und zu beschäftigen. Erstinstanzlich hat die Klägerin keine Tätigkeit genannt, die sie in einem solchen Zustand verrichten könne. Vielmehr hat sie erklärt, dass zur Arbeitsfähigkeit zwingend ein Medikamentenentzug erforderlich und nach einem erfolgreichen Entzug von der Benzodiazepin-Abhängigkeit ein weiterer erfolgreicher Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu erwarten sei (vgl. Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 6 und 10). Bis dahin schloss folglich auch die Klägerin eine ordnungsgemäße Erbringung der vertraglich geschuldeten Tätigkeiten aus. Soweit die Klägerin zweitinstanzlich rügt, der Vortrag der Beklagten zu anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten sei unsubstanziiert, setzt sie sich zum einen in Widerspruch zu ihren erstinstanzlichen Einlassungen, ohne diesen Widerspruch aufzulösen; zum anderen hätte die Klägerin im Rahmen der sekundären Darlegungs- und Beweislast darlegen müssen, zu welchen konkreten Leistungen sie mit den gesundheitlichen Einschränkungen aufgrund einer Benzodiazepin-Abhängigkeit in der Lage war. Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, kann die Beklagte dies aufgrund ihres eigenen Wissensstandes nicht wissen und damit auch alternative Beschäftigungsmöglichkeiten nicht eruieren. Auch das von der Klägerin vorgelegte nervenärztliche Attest vom 16.05.2021 trifft hierzu keine Aussage. Der Beklagten obliegt insoweit im Hinblick auf ein BEM keine erhöhte Darlegungslast. Die Klägerin behauptet nicht, dass die Voraussetzungen eines BEM im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vorlagen, und stellt es im Übrigen unstreitig, dass in ihrem Fall ein BEM kein geeignetes Mittel war. Eine Pflicht der Beklagten aus Tarifziffer 275.2 MTV, der Klägerin eine zumutbare Änderung ihres bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten, ist aus den gleichen Gründen zu verneinen.
f) Schließlich ergibt die Abwägung der beiderseitigen Interessen, dass die Belange des Beklagten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf der sozialen Auslauffrist überwiegen.
Für die Prüfung, ob der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist, ist nicht auf die Dauer der fiktiven Kündigungsfrist, sondern auf die tatsächliche künftige Vertragsbindung abzustellen (vgl. BAG, Urteil vom 04.02.1993 – 2 AZR 469/92 – unter II. 3. a) der Gründe). Insoweit hat der Beklagte unbestritten vorgetragen, dass eine Weiterbeschäftigung der Klägerin bis zum Renteneintritt mit einer Kostenbelastung von ca. 1,7 Mio. € (Stand Juni 2019, Ermittlung aus dem Bruttogehalt zzgl. Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers sowie Einberechnung fiktiver Tariferhöhungen) einhergeht. Zusätzlich erwirtschaftete Anwartschaften der Altersvorsorge sind darin nicht enthalten. Dem steht gegenüber, dass die Klägerin nach der im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung anzustellenden Prognose in Zukunft die geschuldete Arbeitsleistung als Sekretärin nach Richtposition „Sekretärin B“ oder eine ihren Fähigkeiten angepasste Arbeitsleistung nicht mehr erbringen kann. Das auf Leistung und Gegenleistung beruhende Arbeitsverhältnis wäre sinnentleert, und zwar im Hinblick auf das relativ junge Lebensalter der Klägerin von 00 Jahren für eine Restdauer von über 00 bis zu ihrer Verrentung. Dieses relativ junge Lebensalter spricht umgekehrt dafür, dass der Klägerin die Kündigung zumutbar ist. Es dürfte ihr grundsätzlich möglich sein, auf dem von Arbeitgebern nachgefragten Arbeitsmarkt in A-Stadt wieder eine Anstellung zu finden. Dabei geht die Klägerin von der Wiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit fest aus. Unterhaltspflichten bestehen unstreitig nur für ein 00 Jahre altes Kind. Für das zweite Kind hat die Klägerin ihre Unterhaltspflicht nicht belegt. Soweit die Klägerin darauf verweist, ihr geschiedener Ehemann leiste keine Unterhaltszahlungen, kann sich dieser Umstand nicht zu Lasten der Beklagten auswirken. Ggf. hätte die Klägerin einen Unterhaltsvorschuss bei der zuständigen Verwaltungsbehörde zu beantragen. Zu Gunsten der Beklagten ist zudem zu werten, dass die Medikamentenabhängigkeit der Klägerin unstreitig nicht in einem betrieblichen Zusammenhang steht. Auch hat sich die Beklagte über Jahre bemüht, die Leistungsdefizite der Klägerin durch eine Reduzierung der Aufgaben auf Kopien, Scannen und Botengänge, auszugleichen. Dies steht nach den vorstehenden Ausführungen fest. Selbst bei diesen Aufgaben wurde die Klägerin ausweislich der vorgelegten Unterlagen (vgl. Email vom 06.06.2019 zum Auftrag des Abholens von sechs Rückumschlägen aus der Poststelle, Bl. 369 d. A.) begleitet, bis sie schließlich auch derartige Aufträge nicht ausführen konnte. Letztlich leitet sich die Unzumutbarkeit der Kündigung nicht daraus ab, dass sich die Klägerin seit dem 27.06.2019 in einer stationären Behandlung befand. Die Klägerin hat Gründe und Dauer dieser Behandlung nicht vorgetragen, so dass sie entgegen der Auffassung des Personalrats im Rahmen der Interessenabwägung nicht berücksichtigt werden kann.
g) Die von dem Beklagten gewählte soziale Auslauffrist, die der tarifvertraglichen or dentlichen Kündigungsfrist entspricht, hat die Klägerin nicht beanstandet.
2. Schließlich ist die außerordentliche Kündigung auch nicht wegen Versäumung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam. Gemäß § 626 Abs. 2 BGB beginnt die Zwei-Wochen-Frist, innerhalb derer eine außerordentliche Kündigung zu erklären ist, mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Bei der hier vorliegenden dauernden Unfähigkeit, die vertraglichen Dienste zu erbringen, handelt es sich um einen Dauertatbestand, bei dem es für die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist ausreicht, dass er in den letzten zwei Wochen vor Ausspruch der Kündigung angehalten hat (vgl. BAG, Urteil vom 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 14; Urteil vom 25.03.2004 – 2 AZR 399/03 – unter C II. 2. der Gründe). Das in Rede stehende Leistungsunvermögen der Klägerin infolge ihrer Medikamentenabhängigkeit verwirklichte sich bis zum Ausspruch der Kündigung mit Schreiben vom 12.07.2019 jeden Tag neu (vgl. BAG, Urteil vom 29.11.2009 – 2 AZR 272/08 – Rn. 16). Danach hat die Beklagte die Zwei-Wochen-Frist gewahrt.
3. Das Kündigungsrecht der Beklagten ist nicht nach § 242 BGB verwirkt.
a) Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Anspruch oder Recht verwirkt, wenn der Be rechtigte längere Zeit untätig geblieben ist und dadurch den Eindruck erweckt hat, er wolle das Recht nicht mehr geltend machen, sein Vertragspartner sich auf den dadurch geschaffenen Vertrauenstatbestand eingestellt hat und es ihm deshalb nicht zugemutet werden kann, sich auf das verspätete Begehren des Berechtigten zu berufen. § 626 Abs. 2 BGB ist ein gesetzlich bzw. tariflich konkretisierter Verwirkungstatbestand. Sinn der Kündigungserklärungsfrist ist es, für den betroffenen Arbeitnehmer rasch Klarheit darüber zu schaffen, ob sein Arbeitgeber einen Sachverhalt um Anlass für eine außerordentliche Kündigung nimmt (vgl. BAG, Urteil vom 05.06.2008 – 2 AZR 234/07 – Rn. 17).
b) Danach hat die Beklagte ihr Kündigungsrecht nicht verwirkt. Die Beklagte war – wie ausgeführt – nach § 626 Abs. 2 BGB berechtigt, das Arbeitsverhältnis krankheitsbedingt wegen Medikamentenmissbrauchs der Klägerin zu kündigen. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin konnte sich auch deshalb nicht bilden, weil die Beklagte die Minderleistung der Klägerin seit 2012 nicht in Kenntnis des Kündigungsgrundes Medikamentenmissbrauchs hingenommen hat. Soweit die Klägerin darauf verweist, sie habe, nachdem sie sich in einem unkündbaren Arbeitsverhältnis mit der Beklagten befindet, darauf vertraut, weiterhin das entsprechende Einkommen für ihre Familie erzielen zu können, begründet sich ihr Vertrauen auf einem Irrtum. Die Klägerin war nach Tarifziffer 275.1 nicht schlechthin unkündbar, sondern nur ordentlich unkündbar. Dies konnte sie ohne Weiteres dem Wortlaut der Tarifnorm entnehmen.
4. Die streitgegenständliche Kündigung ist nicht wegen fehlerhafter Anhörung des Per sonalrats unwirksam, Art. 77 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 BayPVG.
Selbst wenn, wie die Klägerin erstinstanzlich meinte, die Beklagte den Personalrat vorrangig zu einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen angehört hat, so war der Personalrat dennoch in der Lage, sich ein Bild über die beabsichtigte Kündigung und deren Begründung zu machen. Die Beklagte hat in ihrer Anhörung, S. 6, den Personalrat „um Zustimmung zu einer außerordentlichen aus verhaltensbedingten, alternativ krankheitsbedingten wichtigen Gründen“ gebeten und hinsichtlich der krankheitsbedingten Gründe das ihr Bekannte mitgeteilt, nämlich das sich die Klägerin seit Jahren in medizinischer und psychologischer Behandlung befinde und dass eine Besserung nicht eingetreten sei. Tatsächlich hat der Personalrat den geschilderten Sachverhalt ausweislich seiner Stellungnahme auch zutreffend und richtig verstanden. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin die ordnungsgemäße Personalratsanhörung auch nicht mehr bestritten.
5. War die Kündigung nach allem wirksam, hat die Klägerin keinen Anspruch auf vor läufige Weiterbeschäftigung (vgl. BAG, Beschluss vom 27.02.1985 – GS 1/84 -).
III.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.
IV.
Es bestand kein Grund im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben