Arbeitsrecht

Auswirkungen eines Studiums auf den gewöhnlichen Aufenthalt

Aktenzeichen  5 C 16.664

Datum:
14.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 53483
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 166
StAG § 10 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Bei dem gewöhnlichen Aufenthalt iSd § 10 Abs. 1 S. 1 StAG handelt es sich um ein durch bestimmte Merkmale geprägtes tatsächliches Verhältnis, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach objektiven Kriterien festzustellen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Auswirkung eines Studiums im Ausland auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinn des § 10 Abs. 1 S. 1 StAG wirft schwierige tatsächliche und rechtliche Fragen auf. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 K 16.254 2016-03-17 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. März 2016 wird aufgehoben. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L., A., beigeordnet.

Gründe

I. Die Klägerin, eine im Jahr 1988 in A. geborene türkische Staatsangehörige, begehrt Prozesskostenhilfe für eine Verpflichtungsklage auf Einbürgerung.
Die Klägerin studiert seit Oktober 2010 an der Universität in Wien Betriebswirtschaftslehre. Dort unterhält die Klägerin auch eine Wohnung. Zuletzt wurde ihr mit Bescheid der Ausländerbehörde vom 22. Dezember 2014 zum Zweck des längeren Auslandsaufenthalts eine Frist zur Wiedereinreise in die Bundesrepublik ohne Erlöschen ihrer Niederlassungserlaubnis bis 31. März 2017 eingeräumt. Auf den Einbürgerungsantrag der Klägerin teilte ihr die Beklagte mit Schreiben vom 10. November 2015 mit, man gehe davon aus, dass sie aufgrund ihres Auslandsstudiums ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Bundesgebiet habe. Die Klägerin erhielt Gelegenheit, Nachweise vorzulegen, die etwas anderes belegten. Eine Antwort der Klägerin ging, auch nach einer Erinnerung vom 8. Dezember 2015, nach Aktenlage nicht bei der Beklagten ein.
Mit Bescheid vom 15. Januar 2016 lehnte die Beklagte den Einbürgerungsantrag ab und führte unter anderem aus, die Klägerin habe keine Belege für den Bestand eines gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet vorgelegt. Dagegen ließ die Klägerin am 19. Februar 2016 Klage erheben. Sie trug vor, dass sie maximal vier Monate im Jahr an der Universität in Wien studiere, während sie die restliche Zeit in A. bei ihrer Familie verbringe und wohne. Für ihre Klage begehrt sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung.
Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag mit Beschluss vom 17. März 2016 abgelehnt. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Klägerin habe weder im behördlichen Verfahren noch im bisherigen Klageverfahren Nachweise dafür vorgelegt, dass sie trotz ihres Studiums in Wien nach wie vor ihren Lebensmittelpunkt in A. habe.
Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe weiter. Sie fügte dem Beschwerdeschriftsatz eine von ihr erstellte Aufenthaltsübersicht seit Januar 2014 sowie eidesstattliche Versicherungen ihrer Familienangehörigen und eines Nachbarn zu ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet bei. Das Verwaltungsgericht half der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Senat zur Entscheidung vor. Die Beklagte ist der Beschwerde entgegengetreten.
II. Der Senat sieht nach seinem Ermessen davon ab, die Sache zur neuerlichen Abhilfeprüfung an das Verwaltungsgericht zurückzugeben (vgl. dazu Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 148 Rn. 8a), und entscheidet selbst über die Beschwerde. Diese ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung ihres Rechtsanwalts für die Klage im ersten Rechtszug (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO).
1. Die Verpflichtungsklage auf Einbürgerung bietet entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dafür genügt eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolges, wobei im Hinblick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Zur Gewährung von Prozesskostenhilfe ist es einerseits nicht erforderlich, dass der Prozesserfolg schon gewiss ist. Andererseits darf die Prozesskostenhilfe verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, B. v. 13.3.1990 – 2 BvR 94/88 u. a. – BVerfGE 81, 347/357). Hinreichend ist die Erfolgsaussicht jedenfalls dann, wenn die Entscheidung von einer schwierigen, ungeklärten Rechtsfrage abhängt oder wenn der vom Beteiligten vertretene Rechtsstandpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit der Beweisführung besteht.
a) Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG. Danach ist ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, auf Antrag einzubürgern, wenn die in den Nummern 1 bis 7 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Nach ständiger Rechtsprechung (zuletzt BVerwG, U. v. 26.4.2016 – 1 C 9.15 – juris Rn. 12 ff. m. w. N.) hat ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn er nicht nur vorübergehend, sondern auf unabsehbare Zeit hier lebt, so dass eine Beendigung des Aufenthalts ungewiss ist. Dies ist der Fall, wenn er hier nach den tatsächlichen Verhältnissen seinen Lebensmittelpunkt, also den Schwerpunkt seiner Bindungen insbesondere in familiärer oder beruflicher Hinsicht hat (vgl. Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, 5. Aufl. 2010, § 10 StAG Rn. 22; Geyer in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 10 StAG Rn. 7). Bei dem gewöhnlichen Aufenthalt handelt es sich um ein durch bestimmte Merkmale geprägtes tatsächliches Verhältnis, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach objektiven Kriterien festzustellen ist (Berlit in GK-StAR, Stand Juni 2016, § 10 Rn. 92 m. w. N.).
Die Auswirkung eines Studiums im Ausland auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG wirft schwierige tatsächliche und rechtliche Fragen auf. Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Rechtsprechung zu § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG a. F. davon aus, dass ein Ausländer, der außerhalb der Bundesrepublik nicht nur einen begrenzten Teil seiner Ausbildung, sondern ein vollständiges Hochschulstudium absolviert, das Land aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund verlässt (BVerwG, U. v. 11.12.2012 – 1 C 15.11 – NVwZ-RR 2013, 338 Rn. 16 für ein drei Jahre dauerndes Studium). Dies leitet das Gericht aus der Annahme her, dass bei Aufnahme eines vollständigen Studiums der Lebensmittelpunkt an den Studienort verlegt wird. Diese Rechtsprechung hat der erkennende Senat auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinn des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG übertragen (BayVGH, U. v. 11.2.2015 – 5 B 14.2090 – DVBl 2015, 857 Rn. 21; bestätigt durch BVerwG, U. v. 26.4.2016 – 1 C 9.15 – juris Rn. 15). Unter welchen Voraussetzungen die Annahme einer Verlagerung des Lebensmittelpunkts ins Ausland widerlegt werden kann, ist in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt. Jedenfalls lässt sich eine feste Zeitspanne, bei deren Überschreitung stets von einem nicht mehr vorübergehenden Grund auszugehen wäre, nicht abstrakt benennen. Vielmehr bedarf es für die Beurteilung neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts einer Berücksichtigung aller objektiven Gesamtumstände (BVerwG, U. v. 11.12.2012 – 1 C 15.11 – NVwZ-RR 2013, 338 Rn. 16).
b) Hieran gemessen ist die Frage, ob die Klägerin trotz ihres Studiums in Wien ihren gewöhnlichen Aufenthalt in A. hat, derzeit offen und im Hauptsacheverfahren klärungsbedürftig. Der Rechtsstandpunkt der Klägerin, dass ihr Studium in Wien aufgrund der Gesamtumstände nicht zu einer Verlagerung ihres Lebensmittelpunkts ins Ausland geführt hat, erscheint zumindest vertretbar. Auch die Behörden und das Verwaltungsgericht sind nach ihrem Rechtsstandpunkt davon ausgegangen, dass es sich bei der Verlegung des Lebensmittelpunkts an den Studienort um eine Vermutung handelt, die anhand der tatsächlichen Umstände des Falls widerlegt werden kann. Dementsprechend hat die Beklagte der Klägerin im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zur Vorlage entsprechender Nachweise gegeben. Die Ablehnung des Einbürgerungsantrags wurde maßgeblich mit der Nichtvorlage von Nachweisen zu ihrem Lebensmittelpunkt begründet. Gleiches gilt für die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags durch das Verwaltungsgericht.
Anhand der nunmehr mit der Beschwerde im Prozesskostenhilfeverfahren vorgelegten Unterlagen ist die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme jedenfalls in Betracht zu ziehen. Aus der von der Klägerin selbst erstellten Aufenthaltsübersicht geht hervor, dass sie sich im Jahr 2014 für acht Monate, im Jahr 2015 für 8 ⅓ Monate und im angefangenen Jahr 2016 für die Hälfte der Zeit in der Bundesrepublik aufgehalten habe. In den eidesstattlichen Versicherungen ihres Bruders, ihrer Mutter, ihrer Schwester und eines (ehemaligen) Nachbarn werden Aussagen zu ihren gewöhnlichen Lebensumständen, insbesondere zu ihren familiären und sonstigen Bindungen getroffen, die der Klärung und gegebenenfalls einer Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren bedürfen.
2. Die subjektiven Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind ausweislich der dem Verwaltungsgericht vorgelegten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin erfüllt.
3. Eine Kostenentscheidung und eine Streitwertfestsetzung sind entbehrlich. Kosten werden nach § 166 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.


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