Arbeitsrecht

Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Prozesskostenhilfeantrag, Gesundheitszustand, Klageverfahren, Verfahren, Anordnungsgrund, Frist, Bewilligungsbescheid, Ablehnung, Ausschlussfrist, Studentenwerk, Wiedereinsetzung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Bewilligung Prozesskostenhilfe, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Aktenzeichen  98 F 20.1723

Datum:
4.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 48125
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 24. Juli 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt 6/7, die Klägerin 1/7 der Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages und für den Beklagten hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung des Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.  

Gründe

Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat weit überwiegend Erfolg.
Der Senat legt den mit Schriftsatz vom 28. August 2020 geänderten Klageantrag entsprechend der mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 vorgetragenen Begründung dahingehend aus, dass die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 1.400 Euro verlangt.
1. Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie wurde nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) erhoben. Auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist gewahrt. Zwar hat die Klägerin die Klage nicht innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die das Verfahren beendet hat, erhoben (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO scheidet aus, weil es sich bei der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG um eine materiellrechtliche Ausschlussfrist handelt; jedoch ist diese unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB (Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung) gewahrt, wenn innerhalb dieser Frist ein vollständiger Prozesskostenhilfeantrag gestellt wird und die Klage auf Entschädigung unmittelbar bzw. alsbald nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhoben wird. Im Einzelnen wird auf die Gründe des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 (Az. 98 F 19.2483) verwiesen.
2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils infolge unangemessener Verfahrensdauer in Höhe von 1.200 Euro zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage. Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens von 28 Monaten (19.4.2017 bis 22.8.2019) war in einem Umfang von einem Jahr (12 Monate) unangemessen im Sinne von § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG. Soweit die Klägerin darüber hinaus eine Entschädigung für zwei weitere Monate begehrt, hat ihre Klage in der Sache keinen Erfolg.
Einen Anspruch auf Entschädigung für materielle Schäden hat die Klägerin im Prozesskostenhilfeverfahren nicht geltend gemacht. Insoweit wäre daher auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht gewahrt. Der bloße Hinweis auf weitere berufliche Nachteile durch die Verzögerung im hiesigen Klageverfahren reicht im Übrigen auch nicht aus, um Entschädigung für einen materiellen Nachteil zu begründen.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG).
2.1 Die Dauer des Ausgangsverfahrens war bei der gebotenen Gesamtabwägung im Umfang von 12 Monaten unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
2.1.1 Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgeblich zu berücksichtigen sind die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), die Bedeutung der Sache für die Beteiligten und die Prozessförderung durch das Gericht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; vgl. auch Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 78). Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 18; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 37).
Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; U.v. 14.9.2017 – 2 WA 2.17 D – BVerwGE 159, 366 = juris Rn. 13; vgl. auch BVerfG, B.v. 30.8.2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16 – KommunalPraxis Wahlen 2018, 58 = juris Rn. 18). Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Festlegungen an eine Komplexitätsgrenze. Sie könnten letztlich für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reicht von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im Infrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden können. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 – 1 BvR 2662/06 – NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 – 1 BvR 314/11 – WM 2012, 76). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten – insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens – Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 – 2 BvR 1610/03 – NJW 2005, 3488, B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland – NJW 2001, 211 Rn. 75).
Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zuzugestehende Gestaltungszeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit – genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 39).
Des Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
2.1.2 Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
Bei dem Ausgangsverfahren handelte es sich trotz grundsätzlicher Rechtsfragen hinsichtlich der Überschreitung der Förderungshöchstdauer wegen Behinderung um einen tatsächlich und rechtlich durchschnittlich schwierigen Fall, wie die spätere Aufforderung des Verwaltungsgerichts an das beklagte Studentenwerk zur Abhilfe im Hinblick auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg zeigt, auf die die Klägerin bereits bei Klageerhebung hingewiesen hatte.
Die Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin ist als relativ hoch zu bewerten, weil es um die Sicherstellung ihrer Ausbildung und ihres Lebensunterhalts ging, auch wenn dieser, wie die Höhe der späteren Bewilligung von Ausbildungsförderung zeigt, in erheblichem Umfang bereits anderweitig sichergestellt war und die Klägerin auch die Möglichkeit gehabt hätte, einen einstweiligen Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO auch im Hinblick auf Vorausleistungen wegen ausbleibenden Unterhalts ihres Vaters zu stellen. Die Begründung der Klägerin, warum sie davon abgesehen hat, solche Anträge zu stellen, ist nicht überzeugend. Über Sozial- und sonstige Förderleistungen, die der Sicherstellung des Lebensunterhalts oder einer Berufsausbildung dienen, die ohne sie nicht gewährleistet wäre, wird üblicherweise im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entschieden, da ein rechtskräftiges Urteil in einem Klageverfahren in solchen Fällen nicht rechtzeitig ergehen kann und daher ein Anordnungsgrund für einen einstweiligen Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO besteht. Ein einstweiliger Rechtsschutzantrag hätte das Verwaltungsgericht gezwungen, sich früher mit einem materiellrechtlichen Anspruch der Klägerin unter Prüfung der von der Klägerin angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg zu befassen. Er wäre daher keineswegs aussichtslos gewesen.
Das Verhalten Verfahrensbeteiligter oder Dritter hat nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt.
2.1.3 Entscheidungsreif war die Verwaltungsstreitsache etwa einen Monat nach Eingang der Stellungnahme des Beklagten im Februar 2018. Bereits davor war das Verwaltungsgericht jedoch über einen längeren Zeitraum untätig, da es die Stellungnahme, die binnen eines Monats nach Zustellung der Klage erbeten worden war, nicht angemahnt hat. Der Gesamtzeitraum bis zur Entscheidungsreife, in der eine Untätigkeit des Gerichts nicht maßgeblich ist, ist hier auch aufgrund des späteren weiteren Schriftverkehrs mit etwa vier Monaten anzusetzen. Gründe, das Verfahren faktisch auszusetzen, bis der Bayerische Verwaltungsgerichtshof über die Prozesskostenhilfebeschwerde im Verfahren Az. 12 C 17.2421 entschieden hat, sind nicht erkennbar. Im dortigen Verfahren ging es um die Anrechnung von Vermögen der Klägerin, im hiesigen Verfahren um die Frage der Weiterförderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer. Dass sich für die Entscheidung dieser Verwaltungsstreitsache ein Präjudiz aus der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hätte ergeben können, ist nicht ersichtlich.
Wegen der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin hätte das Verfahren eher vorgezogen werden müssen. Das Gericht hat seine Pflicht, den Prozess zu fördern und innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu entscheiden, aber nicht in den gesamten noch verbleibenden 24 Monaten verletzt. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und dass ihm – auch vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) – ein Gestaltungsspielraum zusteht, wann und wie es eine Sache in Abstimmung mit anderen Sachen entscheidet oder sonst fördert. Verfahrenslaufzeiten führen deshalb nur dann zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 – NVwZ 2013, 789 – juris Rn. 40; BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 – juris Rn. 42). Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt.
Davon ausgehend, dass etwa vier Monate für die Herstellung der Entscheidungsreife notwendig waren, ist dem erstinstanzlichen Gericht unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache und der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin ein Gestaltungsspielraum von 12 Monaten einzuräumen, in den hier aber auch der Zeitraum des „Abhilfeverfahrens“, beginnend mit dem Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019 bis zur Erledigungserklärung der Parteien am 22. August 2019 (gut drei Monate) enthalten ist. Die sich danach errechnende, sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Klageverfahrens beträgt daher 12 Monate, für den die Klägerin immaterielle Entschädigung beanspruchen kann.
2.2 Die Klägerin hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann.
2.2.1 Dass die Klägerin Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren – wie hier – unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist vorliegend nicht widerlegt.
2.2.2 Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 34 m.w.N.). Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung des durchschnittlich schwierigen Falles nicht ausreichend.
2.2.3 Die Entschädigungssumme für die unangemessene Verfahrensverzögerung von 12 Monaten beträgt 1.200 Euro. Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen.
2.2.4 Die Festsetzung eines höheren (Monats-)Betrags nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ist nicht angezeigt; es liegt kein atypischer Sachverhalt vor. Die Entschädigung für den immateriellen Nachteil beinhaltet gerade die Belastung der Klägerin in finanzieller und psychischer Hinsicht. Anhaltspunkte für die Angemessenheit eines niedrigeren Betrags liegen nicht vor.
3. Soweit der Entschädigungsanspruch begründet ist, hat die Klägerin entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ab Eintritt der Rechtshängigkeit Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 46; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 14 und 17). Rechtshängigkeit trat hier jedoch erst mit der Klageerhebung am 24. Juli 2020, und nicht bereits mit der Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch künftig zu erhebende Klage ein. Daher war die Klage auch insoweit abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 GVG und §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
5. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
I. Der Streitwert wird auf 1.400 Euro festgesetzt.
II. In Ergänzung des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Az. 98 F 19.2483) wird der Klägerin Rechtsanwalt Dr. S., Neumarkt i.d.Opf., beigeordnet.
Gründe:
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 3 Satz 1, § 43 GKG. Wird in einer Entschädigungsklage ein bestimmter Betrag im Klageantrag nicht genannt oder ein Mindestbetrag angegeben, so kommt es darauf an, welchen Betrag der Kläger nach seiner Begründung für angemessen hält. Die Klägerin hat hier eine Entschädigung in Höhe von mindestens 1.200 Euro beantragt und in der Begründung ausgeführt, sie halte eine Entschädigung für eine Verzögerung von 14 Monaten angemessen. Das ergibt ein Betrag von 1.400 Euro, der daher maßgeblich ist.
Da die Klägerin nunmehr einen Prozessbevollmächtigten benannt hat, war in Ergänzung des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 dieser der Klägerin beizuordnen.


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