Arbeitsrecht

Entschädigung für überlange Verfahrensdauer

Aktenzeichen  24 F 19.1034

Datum:
27.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27398
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GVG § 198

 

Leitsatz

1. Eine Verfahrensdauer von rund drei Jahren kann bei einem Berufungszulassungsverfahren von durchschnittlicher Schwierigkeit unangemessen lang sein.  (Rn. 19 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verfahrenslaufzeiten führen nur dann zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.300 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 23. Mai 2019 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte zwei Drittel und der Kläger ein Drittel.
III. Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Das Urteil ist für den Beklagten hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung des Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat teilweise Erfolg.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils infolge unangemessener Verfahrensdauer in Höhe von 2.300 Euro zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit. Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens von knapp 55 Monaten (15.5.2014 bis 12.12.2018) war in einem Umfang von 23 Monaten unangemessen im Sinne von § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
1. Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie wurde nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) sowie innerhalb der Klagefrist von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet hat (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG), erhoben.
2. Die Klage ist begründet, soweit ein immaterieller Entschädigungsanspruch in Höhe von 2.300 Euro geltend gemacht wird.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG).
2.1 Die Dauer des Ausgangsverfahrens war bei der gebotenen Gesamtabwägung im Umfang von 23 Monaten unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
2.1.1 Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgeblich zu berücksichtigen sind die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), die Bedeutung der Sache für die Beteiligten und die Prozessförderung durch das Gericht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; vgl. auch Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 78). Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 18; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 37).
Materieller Bezugsrahmen ist die Gesamtdauer des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder bei verschiedenen Gerichten geführt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 12; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 17). Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; U.v. 14.9.2017 – 2 WA 2.17 D – BVerwGE 159, 366 = juris Rn. 13; vgl. auch BVerfG, B.v. 30.8.2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16 – KommunalPraxis Wahlen 2018, 58 = juris Rn. 18).
2.1.2 Bei dem Ausgangsverfahren handelte es sich um einen eher durchschnittlich schwierigen Fall. Der Schwierigkeitsgrad einer Entscheidung über den allein geltend gemachten Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hängt im Wesentlichen von der Beschaffenheit der in dem angefochtenen Urteil entschiedenen Fragen ab (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 21). Der hier zugrundeliegende Sachverhalt war überschaubar, relativ einfach gelagert und zwischen den Beteiligten unstreitig. Die entscheidungserhebliche Frage, ob der Kläger die für eine Registrierung als Rentenberater in § 12 Abs. 1 Nr. 2 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) vorausgesetzte theoretische und praktische Sachkunde in dem Bereich oder den Teilbereichen des § 10 Abs. 1 RDG, in dem die Rechtsdienstleistungen erbracht werden sollen, nachgewiesen hat, war für sich genommen nicht besonders komplex. Allerdings sind die Verwaltungsgerichte mit Rechtsfragen nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz vergleichsweise selten befasst, weshalb sich die Spruchkörper oft erst in die Thematik einarbeiten müssen.
2.1.3 Das Ausgangsverfahren hat im entschädigungsrechtlichen Sinn keine besondere Bedeutung für die Beteiligten aufgewiesen. Der vorliegende Sachverhalt lässt sich in keine Fallgruppe einordnen, für die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) regelmäßig eine besondere Bedeutung der Betroffenen annimmt (vgl. hierzu etwa EGMR, U.v. 8.6.2006 – 75529/01, Sürmeli/Deutschland – NJW 2006, 2389 Rn. 133; BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 47; vgl. auch Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87/88 f.). Für die wirtschaftliche, berufliche oder persönliche Existenz des Klägers (vgl. BayVGH, U.v. 13.6.2019 – 24 A 18.2049 – juris Rn. 33 m.w.N.) hatte das Verfahren keine maßgebliche Bedeutung. Zwar hängt die beabsichtigte Tätigkeit des Klägers als (entgeltlicher) Rentenberater von der streitigen Registrierung ab; er räumt aber im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 11. September 2019 selbst ein, dass diese Erwerbstätigkeit für ihn als pensionierter Beamter keine existenzielle Bedeutung hat.
2.1.4 Das Verhalten Verfahrensbeteiligter oder Dritter hat nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt. Dass der Kläger die Verzögerungsrüge erst ungefähr zwei Jahre und neun Monate nach Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung erhoben hat, ist nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen. Ein unzulässiges „Dulden und Liquidieren“ (vgl. hierzu BFH, U.v. 29.11.2017 – X K 1/16 – BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132 = juris Rn. 43; BT-Drs. 17/3802 S. 20; Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 198 Rn. 16) liegt hier nicht vor. Der Kläger hat zunächst auf die Ankündigung des Gerichts mit Schreiben vom 28. Mai 2018, im dritten Quartal 2018 über den Berufungszulassungsantrag zu entscheiden, vertraut. Seine Geduld im Vertrauen auf diese Zusage soll nicht „bestraft“ werden (vgl. BT-Drs. 17/3802 S. 21).
2.1.5 Der Antrag auf Zulassung der Berufung war etwa Mitte März 2016 entscheidungsreif. Nach Eingang der Antragserwiderung des Beklagten am 27. Januar 2016 war der Zulassungsantrag ausreichend aufbereitet. Allerdings war dem Kläger hierzu noch rechtliches Gehör einzuräumen, sodass die Sache erst nach Ablauf eines Zeitraums, innerhalb dessen eine Gegenäußerung des Klägers zu erwarten gewesen wäre, entscheidungsreif war (vgl. BayVGH, U.v. 13.6.2019 – 24 A 18.2049 – juris Rn. 37); dies war vorliegend etwa Mitte März 2016. In der Folgezeit hat der Verwaltungsgerichtshof bis zur Zustellung der Sachentscheidung an den Kläger (12.12.2018) keine weitere Handlung vorgenommen, um die Erledigung des Berufungszulassungsverfahrens zu fördern. Dieser Zeitraum beträgt 33 Monate.
Das Gericht hat seine Pflicht, den Prozess zu fördern und innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu entscheiden, aber nicht in den gesamten 33 Monaten verletzt. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und dass ihm – auch vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) – ein Gestaltungsspielraum zusteht, wann und wie es eine Sache in Abstimmung mit anderen Sachen entscheidet oder sonst fördert. Hiermit wird des Weiteren dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Entscheidung zur Sache für deren rechtliche Durchdringung Zeit benötigt, um dem rechtsstaatlichen Postulat gerecht zu werden, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands vorzunehmen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 2 WA 1.17 D – NJW 2019, 320 = juris Rn. 32; U.v. 29.2.2016 – 5 C 31.15 D – NJW 2016, 3464 = juris Rn. 24). Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Verfahrenslaufzeiten führen deshalb nur dann zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 – NVwZ 2013, 789 – juris Rn. 40; BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 – juris Rn. 42).
Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Denn zur Begründung des Entschädigungsanspruchs reicht nicht jede Abweichung von der optimalen Verfahrensführung aus (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2015 – 5 C 5.14 D – NVwZ-RR 2015, 641 = juris Rn. 44; B.v. 26.9.2016 – 5 B 3.16 D – juris Rn. 13). Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Verfahrensdauer in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, B.v. 26.9.2016 – 5 B 3.16 D – juris Rn. 13; U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 39).
2.1.6 Unter Gewichtung und Abwägung der zuvor erörterten Kriterien erscheint es angemessen, dem Verwaltungsgerichtshof für das Berufungszulassungsverfahren ab Entscheidungsreife (Mitte März 2016) einen Zeitraum von zehn Monaten für seine Entscheidung über den Zulassungsantrag zuzugestehen. Das Verfahren war von eher durchschnittlicher Schwierigkeit. Allerdings handelte es sich um ein Rechtsgebiet, mit dem das Gericht nur selten befasst ist, weshalb sich alle Mitglieder des Spruchkörpers erst in die Thematik einarbeiten mussten. Daraus ergibt sich eine im Einzelfall gerechtfertigte richterliche Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit von zehn Monaten. Erst danach entstand hier für den Kläger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine „gewisse Schwere der Belastung“ (vgl. oben unter 1.5).
Hinsichtlich der ab diesem Zeitpunkt eingetretenen überlangen Verfahrensdauer muss sich der Kläger nicht die außerordentlich hohe Belastung des 21. Senats des Verwaltungsgerichtshofs mit asylrechtlichen Verfahren im entscheidungserheblichen Beurteilungszeitraum entgegenhalten lassen. Für die Frage, ob die Verfahrensdauer angemessen ist, kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat. Die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer impliziert dementsprechend auch keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter (vgl. BT-Drs. 17/3802 S. 19). Der Staat kann sich zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen; vielmehr muss er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden können (vgl. BVerfG, B.v. 22.3.2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16 – juris Rn. 17; EGMR, U.v. 25.2.2000 – 29357, Gast und Popp/Deutschland – NJW 2001, 211 Rn. 75). Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Es obliegt in ihrem Zuständigkeitsbereich den Ländern, für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt (vgl. BVerfG, B.v. 13.8.2012 – 1 BvR 1098/11 – BayVBl 2013, 210 = juris Rn. 19 m.w.N.). Als strukturelle Mängel, die sich der Staat zurechnen lassen muss und die er zu beseitigen hat, haben in diesem Zusammenhang sowohl eine etwaige Überlastung des betroffenen Spruchkörpers als auch etwa längerfristige Erkrankungen eines Richters außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2017 – 5 A 2/17 D – NVwZ 2018, 909 = juris Rn. 34). Die außerordentlich hohe Belastung des 21. Senats mit asylrechtlichen Verfahren im maßgeblichen Zeitraum (11.12.2015 bis 12.12.2018) war kein unvorhersehbarer Zufall oder schicksalhaftes Ereignis. Vielmehr war zu erwarten, dass sich der massive Anstieg der Zahl der erstinstanzlichen Asylklagen mit zeitlicher Verzögerung auch in der Berufungsinstanz fortsetzt.
2.1.7 Die sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Berufungszulassungsverfahrens im Umfang von 23 Monaten ist im Rahmen der gebotenen Abwägung auf Grundlage der Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens als materieller Bezugsrahmen nicht zu erhöhen. Die Verfahrensdauer in der ersten Instanz ist nicht zu beanstanden. Das verwaltungsgerichtliche Klageverfahren war nicht vor Mitte Januar 2015 entscheidungsreif; erst dann war absehbar, dass sich der Beklagte zum ergänzenden Klagevorbringen vom 18. Dezember 2014 nicht mehr äußern wird. Eine Verfahrensdauer für die Terminierung, Vorbereitung, Verhandlung und Urteilsabfassung von ca. zehn Monaten ab Entscheidungsreife und von insgesamt 18 Monaten ist angesichts des dem Gericht zuzubilligenden Gestaltungsspielraums einschließlich der ihm zustehenden Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit nicht zu beanstanden.
2.2 Der Kläger hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann. Die Entschädigungssumme beträgt 2.300 Euro.
2.2.1 Dass der Kläger Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren – wie hier – unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist vorliegend nicht widerlegt.
2.2.2 Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 34 m.w.N.). Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung des eher durchschnittlich schwierigen Falles (vgl. oben unter 2.1.2) nicht ausreichend. Dass dem Verfahren für die Beteiligten entschädigungsrechtlich keine besondere Bedeutung zukommt (vgl. oben unter 2.1.3), vermag das Gewicht des immateriellen Nachteils infolge der Verzögerung nicht entscheidend zu mindern.
2.2.3 Die Entschädigungssumme für die unangemessene Verfahrensverzögerung von 23 Monaten beträgt 2.300 Euro.
Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt die Regelung eine zeitanteilige Berechnung zu (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2015 – 5 C 5.14 D – NVwZ-RR 2015, 641 = juris Rn. 55; vgl. auch BT-Drs. 17/3802 S. 20).
Die Festsetzung eines höheren Betrags nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ist vorliegend – auch nach Auffassung des Klägers – nicht angezeigt; auch Anhaltspunkte für die Angemessenheit eines niedrigeren Betrags sieht der Senat nicht.
3. Eine Entschädigung für materielle Nachteile wurde weder ausdrücklich beantragt noch sind solche dargelegt worden oder ersichtlich.
4. Soweit der Entschädigungsanspruch begründet ist, hat der Kläger entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ab Eintritt der Rechtshängigkeit Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 46; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 14 und 17).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 GVG und §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
6. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


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