Arbeitsrecht

Leistungen, Einkommen, Aufenthaltsrecht, Bescheid, Arbeitnehmer, Arbeitslosigkeit, Arbeit, Widerspruch, Arbeitnehmerstatus, Existenzminimum, Verfahren, Klageverfahren, Arbeitssuche, Sozialversicherung, einstweiligen Rechtsschutzes, einstweiligen Rechtsschutz, Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz

Aktenzeichen  S 8 AS 2674/16

Datum:
20.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 45771
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Ablehnungsbescheid vom 03.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.10.2016 wird aufgehoben, und der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01.07.2016 bis zum 31.01.2017 SGB-II-Leistungen in folgender Höhe zu gewähren:
– für Juli 2016: 912,79 Euro
– für August 2016: 867,73 Euro
– für September 2016: 764,72 Euro
– für Oktober 2016: 931,86 Euro
– für November 2016: 964,00 Euro
– für Dezember 2016: 964,00 Euro
– für Januar 2017: 969,00 Euro.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Streitgegenstand ist die Gewährung von SGB-II-Leistungen für den Zeitraum 01.07.2016 bis 31.01.2017 entgegen dem Ablehnungsbescheid vom 03.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.10.2016.
Die Anfechtungs- und Leistungsklage ist form- und fristgerecht erhoben und auch im Übrigen zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 03.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.10.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat für die Zeit vom 01.07.2016 bis 31.01.2017 einen Anspruch auf Gewährung von SGB-II-Leistungen in gesetzlicher Höhe und damit im tenorierten Umfang.
Die Kammer weist ausdrücklich darauf hin, dass die bereits aufgrund des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 08.11.2016 (Az. S 50 AS 2464/16 ER) im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig an die Klägerin ausbezahlten SGB-II-Leistungen auf die laut Urteilstenor bewilligten Leistungen anzurechnen sind.
Die Klägerin ist im streitgegenständlichen Zeitraum grundsätzlich nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt, da sie das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hat (Nr. 1), erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) ist und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (Nr. 4).
Die Klägerin ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung oder nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b) in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung (textidentisch) von der Leistungsberechtigung nach dem SGB II ausgenommen. Nach dieser Ausnahmeregelung sind vom SGB-II-Leistungsbezug ausgenommen Ausländerinnen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Die Klägerin hat ihr Aufenthaltsrecht für die Zeit vom 01.07.2016 bis zum 31.01.2017 jedoch nicht allein zum Zwecke der Arbeitssuche. Vielmehr hat sie ihr Aufenthaltsrecht aufgrund des Umstandes, dass sie wegen ihrer geringfügigen Beschäftigung bei der Firma E. Arbeitnehmerin im europarechtlichen Sinne ist (01.07.2016 bis einschließlich 02.11.2016) bzw. dieser Arbeitnehmerstatus bis über das Ende des hier streitigen Zeitraums fortwirkt (ab dem 03.11.2016), § 2 Abs. 2 und Abs. 3 Gesetz über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigG/EU).
Nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/Eu haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind unter anderem nach § 2 Abs. 2 Satz 1 FreizügigG/EU Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alternative 1 FreizügigG/EU bleibt das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/EU für Arbeitnehmer unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. War der Unionsbürger weniger als ein Jahr erwerbstätig und wird dann unfreiwillig arbeitslos, bleibt ihm nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügigG/EU das Freizügigkeitsrecht für die Dauer von sechs Monaten erhalten, sofern die zuständige Agentur für Arbeit die unfreiwillige Arbeitslosigkeit bestätigt.
Vorliegend wurde die Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit im Klageverfahren vorgelegt. Danach war der Verlust der Arbeit zum 03.11.2016 bei der Firma E. unfreiwillig. Die Argumentation des Beklagten, der Verlust der Arbeit könne gar nicht unfreiwillig sein, wenn von vornherein wie vorliegend nur ein befristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen worden sei, kann nicht überzeugen. Denn zum einen ist die Feststellung der Agentur für Arbeit hinsichtlich der Freiwilligkeit des Arbeitsverlustes schon nach dem Gesetzeswortlaut von § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU konstitutiv und kann nicht durch Feststellungen des Gerichts ersetzt werden. Zum anderen hat mittlerweile auch das Bundessozialgericht (Urteil vom 17.03.2016, B 4 AS 32/15 R) klargestellt, dass eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses nicht als freiwilliger Arbeitsverlust im Sinne des § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU anzusehen ist. Der Verlust der Arbeit der Klägerin zum 03.11.2016 ist damit als unfreiwillig anzusehen.
Die geringfügige Tätigkeit der Klägerin bei der Firma E. vom 01.07.2016 bis einschließlich 02.11.2016 ist auch als ausreichend anzusehen, um der Klägerin für diese Zeit einen europarechtlichen Arbeitnehmerstatus (sowie ab dem 03.11.2016 sechs Monate – und damit auch bis zum Ende des hier streitigen Zeitraums bis zum 31.01.2017 – eine Fortwirkung dieses Status im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügigG/EU) zu verleihen.
Bereits im Urteil vom 04.06.2009 (C-22/08, C-23/08: Vatsouras, Koupatantze, Leitsatz 1) hat der EuGH dabei klargestellt: Unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit, wie zB die kurze und nicht existenzsichernde geringfügige Beschäftigung des Beschäftigten oder die wenig mehr als einen Monat dauernde Beschäftigung, lässt sich nicht ausschließen, dass diese Berufstätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und somit erlaubt, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft iS von Art. 39 EG zuzuerkennen. Der Begriff „Arbeitnehmer“ iS von Art. 39 EG ist insoweit ein Begriff des Gemeinschaftsrechts, der nicht eng auszulegen ist. Als „Arbeitnehmer“ ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.
In Ausfüllung dieses europarechtlichen Rahmens führt das Bundessozialgericht (Urteil vom 03. Dezember 2015 – B 4 AS 44/15 R, juris, Rn. 26) aus: Der Begriff des Arbeitnehmers in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist, wie die Wortverbindung in dessen Nr. 1 zum FreizügG/EU bereits zeigt, ebenfalls europarechtlich geprägt; durch dieses Gesetz wird die die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Union regelnde RL 2004/38/EG – auf Grundlage der Europäischen Verträge – in das nationale Recht umgesetzt (Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, Vorbemerkung 0.1.2 zum Freizügigkeitsgesetz/EU). Eine kodifizierte Definition des Arbeitnehmerbegriffs findet sich im Europarecht zwar nicht. Es ist daher auf die Ausprägung dessen zurückzugreifen, die er auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH erfahren hat. Die Arbeitnehmereigenschaft wird danach bei der Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit als gegeben angesehen, was gestützt auf objektive Kriterien und in einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen ist (EuGH Rs Ninni-Orasche vom 6.11.2003 – C-413/01 RdNr. 24; EuGH vom 21.2.2013 – C-46/12 RdNr. 39 ff; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl 2013, § 2 FreizügG/EU RdNr. 37; Tewocht in Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand XI/2015, § 2 FreizügG/EU RdNr. 18 ff). Um Arbeitnehmer zu sein, muss die betreffende Person während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dabei sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (EuGH Rs Genc vom 4.2.2010 – C-14/09 RdNr. 27). Dies bedeutet, dass eine Integration in den Betrieb des Arbeitgebers gegeben sein muss, bei der die betreffende Person unter der Weisung oder Aufsicht eines Dritten steht, der die zu erbringenden Leistungen und/oder die Arbeitszeiten vorschreibt und dessen Anordnungen durch den Arbeitnehmer zu befolgen sind (vgl Hoffmann in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl 2008, § 2 FreizügG/EU RdNr. 8). Im Zusammenhang mit dem Hauptzweck des Freizügigkeitsrechts, einen diskriminierungsfreien Zugang zum Arbeitsmarkt des aufnehmenden Mitgliedsstaats zu gewähren, folgt daraus notwendigerweise ein weiter Arbeitnehmerbegriff, der lediglich ein auf ein Mindestmaß Anteilnahme am Wirtschaftsleben des aufnehmenden Mitgliedstaates zielt. Dabei ist es ohne Relevanz, ob das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte Entgelt geeignet ist, das von dem jeweiligen Mitgliedstaat definierte Existenzminimum zu decken. Die Arbeitnehmereigenschaft begründen daher auch nicht existenzsichernde Teilzeittätigkeiten, sofern es sich dabei um „tatsächliche und echte“ Tätigkeiten handelt, wobei – gemessen wiederum am Willen der freizügigkeitsberechtigten Personen, im Wirtschaftsleben tätig zu sein – nur solche Beschäftigungen außer Betracht bleiben, die so einen geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig ungeordnet und unwesentlich darstellen (EUGH, Urteil vom 23. März 1982, Rs. 53/81-Levin, RN 17). Zur Prüfung der Voraussetzungen hat sich das Tatsachengericht auf objektive Kriterien zu stützen und dabei eine Gesamtbetrachtung aller Umstände der Rechtssache vorzunehmen, die die Art der Tätigkeit und des Arbeitsverhältnisses betreffen, wobei (lediglich) Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft ohne Belang sind (EUGH, Urteil vom 6. November 2003, Rs. C-413/01-Ninni-Orasche, RN 27f.; vgl. z. Vorst.: LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11. November 2015, Az.: L 6 AS 197/15 B ER, juris RN 20).
Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin aufgrund der ab dem 01.07.2016 ausgeübten Tätigkeit als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 FreizügigG/EU zu qualifizieren. Sie erbrachte nach Weisung ihres Arbeitgebers (einer Großbäckerei-Kette) für diesen Leistungen, für die sie eine Vergütung erhielt, und erfüllte damit die Wesensmerkmale eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des Unionsrechts. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin in den Betrieb des Arbeitgebers integriert war, unter der Weisung oder der Aufsicht eines Dritten stand, der die zu erbringenden Leistungen und/oder Arbeitszeiten vorschreibt und dessen Anordnungen zu befolgen hatte (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, Az.: B 4 AS 44/15 R, juris RN 26). Die Tätigkeit war nach den vorgelegten Lohnbescheinigungen und den Arbeitsstundennachweisen auf diesen Lohnbescheinigungen dergestalt tatsächlich und echt, dass sie wirklich ausgeübt wurde und eine Vereinbarung über die zu erbringenden Arbeitsleistungen nicht nur zum Schein geschlossen worden ist.
Die Tätigkeit war vor dem Hintergrund dieser sicher erfüllten Kriterien auch nicht aufgrund dessen wirtschaftlich vollkommen untergeordnet oder unwesentlich im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung, dass die Klägerin im Oktober 2016 keine Stunden leistete, das Arbeitsverhältnis nach insgesamt 4 Monaten gekündigt wurde und der ausgezahlte Lohn in den Monaten Juli bis Oktober 2016 164,01 Euro, 220,34 Euro, 349,10 Euro bzw. 140,16 Euro (Nachzahlung für September 2016) betrug und die Klägerin in diesen Monaten 17,12 Stunden, 23,00 Stunden bzw. 36,44 Stunden betrug.
Darauf, dass das Einkommen der Klägerin nicht das Existenzminimum deckte, kann es nach der oben dargestellten Rechtsprechung des EuGH und des Bundessozialgerichts nicht ankommen. Auch der Umstand, dass die Tätigkeit bereits nach 4 Monaten zum 03.11.2016 beendet wurde, kann keine Rolle spielen, denn diese Beendigung erfolgte – so von der Agentur für Arbeit bestätigt – unfreiwillig, s.o..
Das monatliche Durchschnittsgehalt der Klägerin lag für die drei Monate, in denen sie Stunden erbrachte, bei 291,20 Euro. Die Wochenarbeitszeit lag in diesen drei Monaten bei durchschnittlich 5,94 Stunden. Sinn und Zweck der freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen gebieten es, auch geringfügige Beschäftigungen bzw. sog. Minijobs als echte Arbeitsverhältnisse im Sinne des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren, denn entsprechende Helfertätigkeiten sind im Wirtschaftsleben der Bundesrepublik Deutschland weit verbreitet. Es gibt für sie einen relevanten Arbeitsmarkt. Es kommt nicht darauf an, dass es sich vorliegend um eine Teilzeitbeschäftigung handelt, die weniger als unterhalbschichtig ist. Insoweit hat der EUGH (Urteil vom 4. Februar 2010, Az.: C-14/ 09-Genc) die Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Arbeitsleistung von 5,5 Stunden wöchentlich und einem Verdienst von 175 EUR monatlich (zit. nach LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.06.2016 – L 4 AS 193/16 B ER, Rn. 31, juris). Schon ein monatlicher Durchschnittslohn von etwa 175 EUR bei Arbeitnehmern ist daher nach europarechtlichem Maßstab hinreichende Vergütung (ebenso: LSG-Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.06.2016 – L 4 AS 249/16 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11.11.2015 – L 6 AS 197/15 B ER). Das Bundessozialgericht hat eine Beschäftigung mit einem Monatslohn von 250 Euro (anfänglich sogar nur 100 Euro) als ausreichend für die Bejahung des Arbeitsnehmerstatus angesehen (BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R); damit kann das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit einem Durchschnittslohn von 291,00 Euro monatlich nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich eingestuft werden. Auch, dass im Juli 2016 nur 164,01 Euro verdient wurde, kann angesichts des sehr viel höheren Durchschnittslohnes der Klägerin nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Ob den Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung zu folgen ist, die sogar bei einem Durchschnittslohn von ca. 160 Euro angesichts des weit zu fassenden europarechtlichen Arbeitsnehmerbegriffes den Arbeitsnehmerstatus bejahen, kann daher dahinstehen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.10.2016 – L 12 AS 965/15 B ER: 162 Euro ausreichend; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.12.2015 – L 6 AS 2016/15 B ER: 150 Euro ausreichend; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.06.2016 – L 4 AS 294/16 B ER: 160 Euro ausreichend). Die geringfügige Tätigkeit der Klägerin bei der Firma E. ist als Tätigkeit zu qualifizieren, die der Klägerin den Arbeitsnehmerstatus im Sinne von § 2 Abs. 2 und 3 FreizügigG/EU verleiht. Auch die Stundenzahl der Klägerin spricht nicht dagegen, denn diese folgt allein aus dem von der Firma E. allgemein gezahlten Stundenlohn, der den Mindestlohn einhält. Das kann sich nicht zulasten der Klägerin auswirken.
Es ist entgegen der Auffassung des Beklagten rechtlich nicht relevant, ob die Klägerin möglicherweise die (tatsächliche und echte sowie nicht vollkommen untergeordnete oder unwesentliche) Tätigkeit (auch) aufgenommen hat, um den für sie sozialleistungsrechtlich günstigen Arbeitnehmerstatus zu erlangen. Wie schon das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 24. Juni 2016 – L 4 AS 193/16 B ER, Rn. 27 – 33, juris) zutreffend klargestellt hat, kann es auf eine solche bloße Motivlage dann nicht ankommen, wenn wie vorliegend keine Zweifel an der rechtlichen Wirksamkeit des bestehenden Arbeitsverhältnisses bestehen. Anders ist dies etwa dann zu beurteilen, wenn erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Durchführung eines Arbeitsverhältnisses bestehen, etwa, weil keine Überweisungen des Entgelts stattgefunden haben, keine An- und Abmeldungen bei der Sozialversicherung bzw. als Minijob stattgefunden haben, Urlaubsanspruch oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausgeschlossen wurden o.ä. (LSG Nordrhein-Westphalen, Beschluss vom 12.10.2018 – L 6 AS 500/18 B ER, L 6 AS 501/18 B). Dafür bestehen im Falle der Klägerin bei einer Anstellung bei einer bekannten Großbäckerei-Kette aufgrund Formulararbeitsvertrages, bei Anmeldung als Minijob und Abführung der entsprechenden Pauschalen sowie der maschinellen Erstellung regulärer Entgeltabrechnungen keinerlei Anhaltspunkte. Eine bloße Motivlage der Klägerin ist daher unerheblich. Im Rechtssinne kommt es allein darauf an, ob die „tatsächliche und echte“ Tätigkeit (an der vorliegend kein Zweifel besteht) ihrem Umfang nach als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren ist. Eine solche völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit ist hier wie oben dargestellt zu verneinen; die Klägerin ist unabhängig von ihrer möglichen Motivationslage für die Aufnahme der Tätigkeit aufgrund der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorzunehmenden Gesamtschau der objektiv relevanten Kriterien als Arbeitsnehmerin zu qualifizieren.
Aufgrund der nach der Rechtsprechung des EuGH und des Bundessozialgerichts gebotenen Gesamtschau aller das Arbeitsverhältnis betreffenden Umstände, insbesondere des regulären Arbeitsverhältnisses (Minijob) aufgrund Formularvertrages unter Abführung der Minijob-Pauschalen, der Integration in den Betrieb einer bekannten Großbäckerei-Kette, der regelgerechten Entgeltabrechnungen sowie des zwar nicht übermäßig umfangreichen, aber mit durchschnittlich knapp 300 Euro monatlich auch nicht vollkommen unerheblichen Einkommens der Klägerin bei mindestlohnkonformer Stundenzahl dazu, ist – angesichts der gebotenen weiten europarechtlichen Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in § 2 Abs. 2 und 3 FreizügigG/EU – der Arbeitnehmerstatus der Klägerin aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Firma E. zu bejahen. Damit greift der Ausschluss von SGB-II-Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung oder nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b) in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung (textidentisch) nicht.
Der Klägerin sind damit für die Zeit vom 01.07.2016 bis zum 31.01.2017 SGB-II-Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Diese berechnen sich wie folgt:
„Von Juli bis Dezember 2016 beträgt der monatliche Bedarf (§ 19 Abs. 1 SGB II) der Klägerin 964 Euro (Voller Regelbedarf von 404 Euro (§ 20 SGB II) und volle Kosten der Unterkunft und Heizung von 560 Euro (§ 22 SGB II)). Im Januar 2017 beträgt der Bedarf 969 Euro (Erhöhung des Regelbedarfs auf 409 Euro ab dem 01.01.2017). Darauf ist in den Monaten Juli bis Oktober 2016 folgendes Einkommen anzurechnen (§ 11 SGB II) und daher sind SGB-II-Leistungen jeweils wie folgt zu bewilligen, da die Klägerin jeweils in dieser Höhe hilfebedürftig ist (§ 9 Abs. 1 SGB II):
– Juli 2016: anzurechnendes Einkommen von 51,21 Euro (164,01 Euro unbereinigtes Erwerbseinkommen, zu bereinigen um 100,00 Euro nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II und um 12,80 Euro nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II), daher zu bewilligen: 912,79 Euro;
– August 2016: anzurechnendes Einkommen von 96,27 Euro (220,34 Euro unbereinigtes Erwerbseinkommen, zu bereinigen um 100,00 Euro nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II und um 24,07 Euro nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II), daher zu bewilligen: 867,73 Euro;
– September 2016: anzurechnendes Einkommen von 199,28 Euro (349,10 Euro unbereinigtes Erwerbseinkommen, zu bereinigen um 100,00 Euro nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II und um 49,82 Euro nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II), daher zu bewilligen: 764,72 Euro;
– Oktober 2016: anzurechnendes Einkommen von 32,14 Euro (140,16 Euro unbereinigtes Erwerbseinkommen, zu bereinigen um 100,00 Euro nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II und um 8,02 Euro nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II), daher zu bewilligen: 931,86 Euro.“
Im November und Dezember 2016 sowie im Januar 2017 floss der Klägerin jeweils kein Erwerbseinkommen und auch kein sonstiges Einkommen mehr zu. Ihr sind in diesen Monaten daher jeweils SGB-II-Leistungen in Höhe des vollen Bedarfs zu gewähren.
Über den Hilfsantrag (Klageantrag zu 2.) war aufgrund des Obsiegens der Klägerin bereits im Hauptantrag (Klageantrag zu 1.) nicht mehr zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache. Eine Abweichung aus Veranlassungsgesichtspunkten vom Grundsatz, dass die unterliegende Partei die außergerichtlichen Kosten zu tragen hat, kommt vorliegend nicht in Betracht: Zwar wurde die Bestätigung der Agentur für Arbeit, dass das Arbeitsverhältnis unfreiwillig beendet wurde, erst im Laufe des Klageverfahrens vorgelegt und nicht bereits im Widerspruchsverfahrens. Eine Vorlage bereits im Widerspruchsverfahren war jedoch nicht möglich, da das Arbeitsverhältnis erst zum 03.11.2016 gekündigt wurde, das Widerspruchsverfahren aber bereits mit Widerspruchsbescheid vom 26.10.2016 beendet worden war. Eine Vorlage der Bestätigung der Agentur für Arbeit war bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens also noch gar nicht möglich.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben