Arbeitsrecht

Prozesskostenhilfe für Klage gegen Befristung der Wirkungen des Verlusts des Freizügigkeitsrechts eines Unionsbürgers

Aktenzeichen  19 C 15.2217

Datum:
26.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 166
FreizügG/EU FreizügG/EU § 6, § 7 Abs. 2 S. 5

 

Leitsatz

1 Die einer strafrechtlichen Verurteilung eines Unionsbürgers wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und erpresserischem Menschenraub zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten zugrunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung iSv § 6 Abs. 4 FreizügG/EU rechtfertigt. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ist eine Alkoholentwöhnungstherapie noch nicht erfolgreich abgeschlossen und besteht aufgrund einer von einem Sachverständigen festgestellten “tief verwurzelten inneren Disposition” eine erhebliche Rückfallgefahr, ist vom Fortbestand der Wiederholungsgefahr auszugehen. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Fehlt bei einer Befristungsentscheidung eine Abwägung zwischen der konkreten, vom Unionsbürger ausgehenden Gefahr und seinen privaten Belangen, erweist sich eine den prognostisch maximal möglichen Rahmen von 10 Jahren ausschöpfende Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 2 S. 5 FreizügG/EU aller Voraussicht nach als unverhältnismäßig. (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

AN 5 K 15.1426 2015-09-14 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
In Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 14. September 2015 wird dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt *******, ******** bewilligt, soweit er sich mit der Klage gegen die Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung in Nummer II des Bescheides vom 11. August 2015 wendet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, wobei die gesetzlich bestimmte Festgebühr auf 4/5 reduziert wird.

Gründe

Die zulässige Beschwerde hat teilweise Erfolg.
1. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. September 2015 abgelehnt (§ 166 VwGO, § 114 ZPO), soweit sich der Kläger gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland wendet.
Der Senat teilt die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Voraussetzungen für eine Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 FreizügG/EU vorliegen. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen berücksichtigt werden, und diese nur insoweit, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Absatz 1 nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Zudem setzt eine Verlustfeststellung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH – U. v. 22.5.2012 – C-348/09 Rn. 33, 34 – juris). Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
Die vom Kläger begangene Straftat rechtfertigt die Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Die der Verurteilung des Klägers vom 8. Januar 2015 wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und erpresserischem Menschenraub zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten (Landgericht N.-F., U. v. 8.1.2015) zugrunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Der Kläger hat gemeinsam mit einem Mittäter in alkoholisiertem Zustand sein Opfer über einen Zeitraum von etwa zwei Stunden massiv körperlich misshandelt mit dem Ziel, diesem Geld (zuletzt eine Summe von 330 EUR) abzupressen. Laut dem Strafurteil erlitt der Geschädigte eine Brandverletzung am linken Unterschenkel und infolge der eingetretenen Verbrennungen – mindestens des 2. Grades – musste Hautgewebe (etwa 20 cm x 10 cm) transplantiert werden, wovon zeitlebens eine Narbe zurückbleiben und die Haut in diesem Bereich eine erhöhte Sensibilität aufweisen wird. Weiterhin erlitt der Geschädigte einen Nasenbeinbruch, Hämatome an beiden Augen sowie eine Gehirnerschütterung. Darüber hinaus wurde seine rechte Ohrmuschel im Bereich des oberen Drittels nahezu vollständig (bis etwa 2/3) durchtrennt (Länge etwa 2,5 cm), was eine chirurgische Versorgung mit Einzelknopfnähten erforderlich machte. Daneben wurden zwei Pfählungsverletzungen am linken Oberschenkel (Durchmesser ca. 1,2 cm und 1,3 cm) sowie durch die glühenden Zigaretten punktförmige Brandverletzungen am Oberkörper, teilweise mit sich anschließender Blasenbildung, und angesengte Haare am Kopf festgestellt. Die Schläge gegen den Kopf wurden strafrichterlich als eine das Leben gefährdende Behandlung bewertet.
Die körperliche Unversehrtheit des Menschen ist ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut und das Ausmaß der von den Tätern verursachten Verletzungen samt den dabei beim Opfer verursachten erheblichen Schmerzen wiegt besonders schwer. Die zweistündigen Misshandlungen tragen die Züge einer andauernden Folter und offenbaren eine weitgehend enthemmte Gewaltbereitschaft der beiden Täter zur Durchsetzung eigennütziger Ziele. Der Einsatz des Seitenschneiders und glühender Zigarettenstummel sowie das Anzünden von Kleidungsstücken belegen neben den Faustschlägen gegen den Kopf die hohe Gefährlichkeit ihrer Handlungen für die Gesundheit und das Leben des Opfers.
Das persönliche Verhalten des Klägers stellt auch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt; Das im Strafverfahren eingeholte psychologische Gutachten der Sachverständigen L. vom 19. Juni 2014 belegt eine Neigung des Klägers, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. Trotz der Brutalität der Tatausführung geht der Sachverständige nicht von einer sadistischen, sondern lediglich von einer impulsiven und antisozialen Persönlichkeitsdisposition aus, und er vermutet in der Tatsituation ein gegenseitiges Aufschaukeln aufgrund gruppendynamischer Faktoren. Allerdings stellt er beim Kläger eine klinisch relevante Alkoholabhängigkeit sowie einen Betäubungsmittel-Missbrauch (Cannabis, Amphetamine) fest und attestiert ein exzessives Alkoholkonsummuster. Denken, Fühlen und Handeln des Klägers seien auf Alkohol- und Drogenkonsum sowie Alkohol- und Drogenerwerb eingeengt. Es liege eine tief verwurzelte innere Disposition vor, berauschende Substanzen im Übermaß zu konsumieren. Es müsse vom Vorliegen eines Hangs im Sinn des § 64 StGB ausgegangen werden. Nachdem die Erlöse aus dem erpresserischen Handeln in Alkohol hätten umgesetzt werden sollen, ist laut Gutachter ein Zusammenhang zwischen der Alkoholproblematik und der Straftat zu bejahen. Der Kläger sei zwar noch nicht durch schwere Aggressionsdelikte in Erscheinung getreten, doch sei die Suchtproblematik noch nicht überwunden. Bei Fortbestehen der Alkohol- und Betäubungsmittelproblematik sowie bei anderen delinquenzfödernden Situationen (soziale Desintegration, Zusammentreffen mit handlungsbereiten Mittätern) bestehe ein nicht unerhebliches Risiko neuerlicher Straftaten, insbesondere neuerlicher Aggressionsdelikte.
Der Umstand, dass sich der Kläger seit dem 6. Juli 2015 einer Therapie zur Alkoholentwöhnung unterzieht, ist nicht geeignet, die sachverständig festgestellte Wiederholungsgefahr auszuschließen. Einerseits mangelt es bereits an einem erfolgreichen Abschluss der Therapie und andererseits besteht angesichts der vom Sachverständigen festgestellten „tief verwurzelten inneren Disposition“ eine ganz erhebliche Rückfallgefahr. Der Kläger hat sich nach eigenen Angaben im Zeitraum von 1999 bis 2001 einer suchtmedizinischen Behandlung unterzogen, die keinen dauerhaften Erfolg gehabt hat. Nachdem der Kläger bereits einmal rückfällig geworden ist, ist bei ihm von einer erhöhten Rückfallgefahr auszugehen. Der Kläger geht selbst von der allgemeinen Lebenserfahrung aus, wonach eine Alkoholentwöhnung bei starker Abhängigkeit kein leichtes Unterfangen ist, und davon, dass oftmals eine Entziehungstherapie noch nicht ausreichend ist, um Alkoholkonsum dauerhaft zu vermeiden. Allein der Umstand, dass das Strafgericht dem Kläger den Weg zu einer weiteren Therapie geöffnet hat, bringt die bestehende erhebliche Wiederholungsgefahr nicht in Wegfall.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte und das Verwaltungsgericht die familiäre Situation des Klägers falsch bewertet hätten. Der Darstellung der Beklagten im angefochtenen Bescheid, dass er einen vierjährigen (jetzt fünfjährigen) Sohn hat, der bei seiner Mutter in Deutschland aufwächst, und zu dem er wegen seines Trinkverhaltens jeglichen Kontakt abgebrochen hat, setzt der Kläger seine familiengerichtlichen Bemühungen im Hinblick auf das Sorgerecht für das Kind und seinen Umgang mit dem Kind entgegen. Laut einer Vereinbarung vom 11. März 2015 vor dem Familiengericht sind die Eltern übereingekommen, dass der Kläger in sechsmonatigen Abständen einen Erziehungsbericht und in dreimonatigen Abständen ein Lichtbild erhält. Der Kläger ist außerdem berechtigt, in dreimonatigen Abständen einen Brief zu schreiben, den die Mutter dem Kind vorliest; über eine vereinbarte Erziehungsberatung soll mit Blick auf das Kindeswohl die Art und Weise persönlicher Kontakte geklärt werden. Weder aus Sicht des minderjährigen Kindes noch aus Sicht des Klägers liegt eine persönliche Beziehung von einem Gewicht vor, welche die Verlustfeststellung als unverhältnismäßig oder unzulässig erscheinen lassen würde. Sowohl während der Inhaftierung des Klägers als auch während seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt fand und findet kein persönlicher Umgang zwischen Vater und Kind statt; in der zwischen den Eltern vereinbarten Form kann der Kontakt auch von Polen aus gepflegt werden. Der Vortrag im Klageverfahren, der Kläger habe in Polen keine sozialen Bindungen, ist unzutreffend. Nach den Angaben im Strafverfahren leben seine Eltern in Polen und hat er zu ihnen regelmäßigen Kontakt. Er ist durchschnittlich zweimal im Jahr nach Polen gefahren und hat dort auch Urlaube verbracht.
Ergänzend kann auf die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen im angefochtenen Beschluss vom 14. September 2015 Bezug genommen werden (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
2. Bezüglich der Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU in Nr. II des Bescheides besteht eine für die Gewährung von Prozesskostenhilfe ausreichende Erfolgsaussicht der Klage. Mit dem Zeitraum von 10 Jahren hat die Beklagte den Zeitraum vollständig ausgeschöpft, der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht bei einer Befristungsentscheidung prognostisch überblickt werden kann, ohne spekulativ zu werden (vgl. BVerwG, U. v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris). Eine die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in diesem Punkt rechtfertigende Abwägung der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr und seiner privaten Belange vor dem Hintergrund der für die Wirkungen der Verlustfeststellung in Frage kommenden Zeitspanne findet sich weder in der Entscheidung der Beklagten noch in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auch die Deliktsart zu berücksichtigen, die Tatsache, dass der Kläger – abgesehen von einer Verurteilung wegen Diebstahls zu 25 Tagessätzen Geldstrafe (Amtsgericht N., U. v. 24.11.2009) – strafrechtlicher Ersttäter ist und dass das Sachverständigengutachten bei gegebener Alkoholisierung in der Tatsituation ein gegenseitiges Aufschaukeln aufgrund gruppendynamischer Faktoren annimmt. Außerdem ist zu bedenken, dass der Kläger derzeit aufgrund strafrichterlicher Anordnung in einer Entziehungsanstalt behandelt wird. Insgesamt spricht viel dafür, dass die vollständige Ausschöpfung des zehnjährigen Prognosehorizonts nicht verhältnismäßig ist.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 161 Abs. 1, § 155 Abs. 1 VwGO analog; der Teilstattgabe hat der Senat durch eine Ermäßigung der gesetzlich bestimmten Festgebühr auf 4/5 (zur Aufteilung vgl. BVerwG, U. v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – juris) Rechnung getragen (§ 3 Abs. 2 GKG i. V. m. KV Nr. 5502). Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO). Einer Streitwertfestsetzung bedurfte es im Hinblick auf § 3 Abs. 2 GKG i. V. m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG nicht.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).


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