Arbeitsrecht

Überlange Dauer eines Berufungszulassungsverfahrens – teilweise erfolgreiche Entschädigungsklage

Aktenzeichen  24 A 18.2049

Datum:
13.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 13899
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GVG § 198
VwGO § 173 S. 2
EMRK Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Das Fristerfordernis des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ist im Wege der teleologischen Reduktion dahin einzuschränken, dass es keine Anwendung findet, wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der Sechsmonatsfrist abgeschlossen wurde. Dann ist die Entschädigungsklage ausnahmsweise vom Moment des Verfahrensabschlusses an zulässig. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Begrenzung der Entschädigungsklage auf eine von mehreren Instanzen ist prozessrechtlich zulässig, auch wenn der materiellrechtliche Bezugsrahmen eines derart beschränkten Begehrens gleichwohl das gesamte gerichtliche Verfahren ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Beurteilung der Frage, ob Verzögerungen auf das Verhalten der Parteien oder des Gerichts zurückzuführen sind, ist zu berücksichtigen, dass der Aspekt der Entscheidungsreife oder des „Ausgeschriebenseins“ einer Sache für die Bewertung der Verzögerung allenfalls relative Bedeutung haben kann. Mit der Entscheidungsreife muss weder sogleich eine dem Staat zuzurechnende Verzögerung eintreten, noch werden mit ihr bestimmte Fristen in Lauf gesetzt, innerhalb derer die Verfahrensdauer noch angemessen ist. Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zuzugestehende Gestaltungszeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der verantwortliche Justizgewährträger ist nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängige Verfahren sofort und ausschließlich nach Entscheidungsreife von einem Richter bearbeitet werden kann. Schon wegen der unterschiedlichen Zahl der Verfahrenseingänge im Laufe der Zeit, muss ein Gericht immer über eine gewisse „Restantenzahl“ verfügen, um einen sinnvollen Ressourceneinsatz zu gewährleisten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.400 Euro zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Kläger und Beklagter tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 von Hundert des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Entschädigungsklage hat teilweise Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils durch die unangemessene Verfahrensdauer in Höhe von 1.400 Euro. Ein Anspruch auf Erstattung des materiellen Schadens, hier der vorgerichtlichen Anwaltskosten, besteht nicht.
I. Die Entschädigungsklage ist zulässig.
1. Nach § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 5 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes – GVG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. April 2019 (BGBl I S. 466), kann eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 der Vorschrift frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden.
Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt (Erhebung der Verzögerungsrüge am 4.4.2018, Erhebung der Entschädigungsklage am 26.9.2018). Die Entschädigungsklage ist gleichwohl zulässig, da die Einhaltung der Wartefrist hier nicht erforderlich war. Das Fristerfordernis des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG ist im Wege der teleologischen Reduktion dahin einzuschränken, dass es keine Anwendung findet, wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der Sechsmonatsfrist abgeschlossen wurde. Dann ist die Entschädigungsklage ausnahmsweise vom Moment des Verfahrensabschlusses an zulässig (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2015 – 5 C 5.14 D – NVwZ-RR 2015, 641 – juris Rn. 17 ff.; B.v. 17.8.2017 – 5 A 2.17 D – NVwZ 2018, 909 Rn. 16; BGH, U.v. 21.5.2014 – III ZR 355/13 – NJW 2014, 2443 Rn. 17, U.v. 17.7.2014 – III ZR 228/13 – NJW 2014, 2588 Rn. 18 m.w.N.; Schenke, NVwZ 2012, 257/261). So verhält es sich hier. Das Verfahren ist ca. viereinhalb Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge durch unanfechtbaren Beschluss beendet worden.
2. Die Begrenzung der Entschädigungsklage auf eine von mehreren Instanzen (hier das Berufungszulassungsverfahren) ist prozessrechtlich zulässig, auch wenn der materiellrechtliche Bezugsrahmen eines derart beschränkten Begehrens gleichwohl das gesamte (verwaltungs-) gerichtliche Verfahren ist (BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 – DVBl 2014, 861).
II. Die Klage hat Erfolg, soweit ein Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils in Höhe von 1.400 Euro geltend gemacht wird.
1. Eine Entschädigung ist hier nicht nach § 198 Abs. 3 Satz 1 und 2 GVG ausgeschlossen. Danach erhält ein Verfahrensbeteiligter eine Entschädigung nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat, wobei die Verzögerungsrüge erst erhoben werden kann, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 4. April 2018, eingegangen am 6. April 2018, ausdrücklich unter Bezugnahme auf die gesetzlichen Grundlagen eine Verzögerungsrüge erhoben. Die Besorgnis bestand, weil der Zulassungsantrag vom 31. Juli 2015 zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Jahre beim Verwaltungsgerichtshof anhängig war.
2. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Der durch eine unangemessene Verfahrensdauer eingetretene immaterielle Nachteil ist nach Maßgabe des § 198 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 3 GVG mit 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt die Regelung eine zeitanteilige Berechnung zu (BVerwG, U.v. 26.2.2015 a.a.O. Rn. 55; vgl. auch BT-Drs. 17/3802 S. 20).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Dauer des vom Kläger in Bezug genommenen Gerichtsverfahrens war unangemessen. Hierdurch hat er einen immateriellen Nachteil erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann und in Höhe von 1.400 Euro zu entschädigen ist.
Gegenstand des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs ist das Berufungszulassungsverfahren vom Zeitpunkt der Stellung des Antrags am 31. Juli 2015 bis zu dessen Beendigung durch den Beschluss vom 16. August 2018, zugestellt am 22. August 2018 (vgl. § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbs. 1 GVG).
Die Dauer des Berufungszulassungsverfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof war bei der gebotenen Gesamtabwägung in einem Umfang von 19 Monaten unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG. Materiellrechtlicher Bezugsrahmen eines Entschädigungsanspruchs, der allein bezüglich der Dauer des Verfahrens in einer von mehreren Instanzen geltend gemacht wird, ist jedoch das gesamte verwaltungsgerichtliche Verfahren im Ausgangsrechtsstreit. Das führt hier zu einer Verringerung der entschädigungspflichtigen Zeit im Umfang von fünf Monaten. Denn das Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit etwa fünf Monate früher erledigt, als es dies bei Berücksichtigung des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums hätte tun müssen, um das Verfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen.
a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Wie die Verwendung des Wortes „insbesondere“ zeigt, werden damit die Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, beispielhaft und ohne abschließenden Charakter benannt (BT-Drs. 17/3802 S. 18). Mit der gesetzlichen Festlegung, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), hat der Gesetzgeber bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Die Ausrichtung auf den Einzelfall folgt nicht nur in deutlicher Form aus dem Wortlaut des Gesetzes („Umstände des Einzelfalles“), sondern wird durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 17/3802 S. 18). Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles sowie unter Berücksichtigung der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer zu beurteilen (vgl. etwa EGMR, U.v. 11.1.2007 – Nr. 20027/02, Herbst/Deutschland – NVwZ 2008, 289 Rn. 75; E.v. 22.1.2008 – Nr. 10763/05 – juris Rn. 43 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, B.v. 20.9.2007 – 1 BvR 775/07 – NJW 2008, 503; B.v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10 – juris Rn. 11 und B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 – NVwZ 2013, 789). Schematische zeitliche Vorgaben für die Angemessenheit sind daher ausgeschlossen.
Für die Beurteilung, ob die Verfahrensdauer angemessen ist, verbietet es sich in der Regel auch, von Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder auf statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, keine zeitlichen Festlegungen zu treffen, ab wann ein Verfahren „überlang“ ist, schließt für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit grundsätzlich einen Rückgriff auf Orientierungs- oder Richtwerte aus. Die Orientierung an einer – wie auch immer ermittelten – (statistisch) durchschnittlichen Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren erweist sich auch deshalb als bedenklich, weil eine solche Laufzeit stets auch Ausdruck der den Gerichten jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen ist, also insbesondere von den bereitgestellten personellen und sächlichen Mitteln abhängt. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer darf jedoch grundsätzlich nicht von der faktischen Ausstattung der Gerichte abhängig gemacht werden (vgl. BVerfG, B.v. 12.12.1973 – 2 BvR 558/73 – BVerfGE 36, 264). Denn eine Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder des konkreten Ausgangsgerichts bzw. Spruchkörpers ist für die Bemessung des richterlichen Gestaltungsspielraums ohne Belang. Sie gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat zurechnen lassen muss und die er zu beseitigen hat (BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 28 m.w.N.). Dies wäre aber im Ergebnis der Fall, wenn für die Ermittlung der angemessenen Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 GVG auf eine durchschnittliche Laufzeit abgestellt wird (vgl. Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG Rn. 87; Ziekow, DÖV 1998, 941). Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Festlegungen auch an eine Komplexitätsgrenze. Sie könnten letztlich für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reicht von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im Infrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden können. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
b) Die Verfahrensdauer ist daher unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – in der Fassung vom 22.10.2010, BGBl II S. 1198, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
aa) Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 – 1 BvR 2662/06 – NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 – 1 BvR 314/11 – WM 2012, 76). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten – insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens – Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht – auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit – ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 – 2 BvR 1610/03 – NJW 2005, 3488, B.v. 1.10.2012 – 1 BvR 170/06 – NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland – NJW 2001, 211 Rn. 75).
bb) Bei der Beurteilung der Frage, ob Verzögerungen auf das Verhalten der Parteien oder des Gerichts zurückzuführen sind, ist zu berücksichtigen, dass der Aspekt der Entscheidungsreife oder des „Ausgeschriebenseins“ einer Sache für die Bewertung der Verzögerung allenfalls relative Bedeutung haben kann. Mit der Entscheidungsreife muss weder sogleich eine dem Staat zuzurechnende Verzögerung eintreten, noch werden mit ihr bestimmte Fristen in Lauf gesetzt, innerhalb derer die Verfahrensdauer noch angemessen ist. Der Begriff der Entscheidungsreife kennzeichnet lediglich den Zeitpunkt, in welchem der für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendige Tatsachenstoff aufgeklärt und den Beteiligten in hinreichender Weise rechtliches Gehör gewährt worden ist. Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zuzugestehende Gestaltungszeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit – genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 39).
Der verantwortliche Justizgewährträger ist nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängige Verfahren sofort und ausschließlich nach Entscheidungsreife von einem Richter bearbeitet werden kann. Vielmehr muss ein Rechtsuchender damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Verfahren zu bearbeiten hat. Insofern ist ihm eine gewisse Wartezeit zuzumuten. Schon wegen der unterschiedlichen Zahl der Verfahrenseingänge im Laufe der Zeit, muss ein Gericht immer über eine gewisse „Restantenzahl“ verfügen, um einen sinnvollen Ressourceneinsatz zu gewährleisten, da Richter nicht nach Bedarf berufen und abberufen werden können (vgl. BayVGH, U.v. 10.12.2015 – 23 A 14.2252 – juris Rn. 36 m.w.N.).
cc) Des Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
c) Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
aa) Das Berufungszulassungsverfahren wies hier eine überdurchschnittliche materiell-rechtliche Schwierigkeit bzw. Komplexität auf, worauf der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 19. Oktober 2018 zu Recht hingewiesen hat. Es handelte sich materiell-rechtlich um einen Streitfall aus dem Recht der berufsständischen Altersversorgung der Rechtsanwälte und Steuerberater, einem in der verwaltungsgerichtlichen Praxis eher selten vorkommenden Rechtsgebiet, in das sich der zuständige Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs als Spruchkörper erst einarbeiten musste. Daran ändert auch nichts, wie vom Kläger geltend gemacht, dass der Senat bereits ein Verfahren des Klägers mit ähnlichem Streitgegenstand im Jahr 2013 bearbeitet hat, zumal an der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs drei andere Richter beteiligt waren als an dem streitgegenständlichen Beschluss. Der Tatbestand des Urteils des Verwaltungsgerichts zeigt auch die umfangreiche Vorgeschichte des Streitfalls auf, deren Kenntnis zum Verständnis des Verfahrens erforderlich war. Bereits in der ersten Instanz warf der Fall zahlreiche materielle Rechtsfragen auf, die sich auf das intertemporal anzuwendende Recht, die korrekte Berechnung der Höhe der Versorgungsbezüge, die zutreffende Rechtsgrundlage und die Vereinbarkeit des sog. Pro-Rata-Berechnung mit höherrangigem Recht (Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, bezogen haben. Auch war über die Frage der Nichtigkeit mehrfach geänderten Satzungsrechts zu entscheiden. Zudem hat das Verwaltungsgericht über drei bedingt gestellte Beweisanträge entschieden. In der 14-seitigen Zulassungsbegründung machte der Kläger zum einen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sowohl wegen Verstoßes gegen einfaches Recht als auch gegen Verfassungsrecht (Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG) und zum anderen Verfahrensfehler wegen Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht geltend.
bb) Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter hat im Berufungszulassungsverfahren nicht zu einer Verzögerung geführt. Dass der Kläger die Verzögerungsrüge erst zwei Jahre und acht Monate nach Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung erhoben hat, ist nicht zu seinen Lasten zu berücksichtigen. Von einem „Dulden und Liquidieren“ (vgl. hierzu BFH, U.v. 29.11.2017 – X K 1/16 – BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rn. 43) kann hier nicht gesprochen werden, weil der Kläger etwa ein Jahr nach Entscheidungsreife des Berufungszulassungsverfahrens bereits angefragt hat, wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist, und diese Anfrage vor Erhebung der Verzögerungsrüge noch einmal wiederholt hat, wobei ihm eine Entscheidung in der zweiten Jahreshälfte 2017 in Aussicht gestellt wurde.
cc) Hinsichtlich der Bedeutung des Verfahrens für den Kläger geht der Senat von Folgendem aus: Als besonders bedeutsam sind Verfahren einzuordnen, die für die wirtschaftliche, berufliche oder persönliche Existenz eines Beteiligten von maßgeblicher Bedeutung sind (vgl. Ott, a.a.O., § 198 GVG Rn. 107). Beteiligte können aus diesem Grunde ein gerechtfertigtes Interesse an einem schnellen Ausgang des Verfahrens haben (vgl. OVG LSA, U.v. 25.7.2012 – 7 KE 1/11 – juris Rn. 54).
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Person, die im Alter von „Mitte 40“ berufsunfähig wird, ein gesteigertes Interesse daran hat, dass die Frage, ob sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 786,42 Euro oder eine solche in Höhe von monatlich 3578,85 Euro erhält, schnell geklärt wird. Dass das Verfahren auch existenziell im Hinblick auf seinen Lebensunterhalt gewesen wäre, trägt der Kläger in den Ausgangsverfahren jedoch nicht vor. Seine finanziellen Verhältnisse sind insoweit unbekannt; jedenfalls hat er keinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt.
Hinsichtlich der Bedeutung des Verfahrens für den Kläger kann auch berücksichtigt werden, dass die Erfolgsaussichten der Klage sowohl objektiv als auch aus Sicht des Klägers, also bei einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“, als nicht hoch einzuschätzen waren. Der Kläger war als Steuerberater erst seit 1. November 2008 Mitglied bei der Versorgungskammer. Laut deren Bescheid vom 8. Januar 2011 hatte er monatliche Pflichtbeiträge in Höhe von 1094,50 Euro zu leisten. Damit dass er aufgrund seines Ruhegeldantrags wegen dauernder Berufsunfähigkeit vom 23. August 2011 bereits eine Rente in Höhe von 3578,85 Euro erhalten könnte, war, auch wenn insbesondere bei Berufsunfähigkeit Besonderheiten gelten können, selbst aus Laiensicht nicht zu rechnen. Nach der Bedeutung des Rechtsstreits für den Kläger musste die Entscheidung über seinen Antrag auf Zulassung der Berufung daher nicht vorgezogen werden.
d) In der Zusammenschau zwischen der Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger und der Komplexität der Sach- und Rechtslage eines aus einem selten vorkommenden Rechtsgebiet stammenden Falls durfte die Verwaltungsstreitsache länger zurückgestellt werden als andere überdurchschnittlich schwierige Streitsachen aus Rechtsgebieten, mit denen das Gericht ständig befasst ist, zumal ein Spruchkörper zu entscheiden hatte, sich also mehrere Richter in die Sach- und Rechtslage einarbeiten mussten, wofür ein gewisses – zusammenhängendes – Zeitfenster erforderlich ist. Hier hat der Verwaltungsgerichtshof nach Eingang der Antragserwiderung vom 13. Oktober 2015 am 16. Oktober 2015 bis zum Beginn der Erarbeitung der Entscheidung vom 16. August 2018 keine verfahrensfördernden Maßnahmen ergriffen, ohne dass sachliche Gründe hierfür vorgelegen hätten. Dieser Zeitraum ist auch für ein überdurchschnittlich schwieriges Verfahren unangemessen lang.
Entscheidungsreife trat hier etwa Mitte November 2015 ein. Zum Schriftsatz der dortigen Beklagten vom 13. Oktober 2015 war dem Kläger rechtliches Gehör zu gewähren, zumal in der Antragserwiderung auch eine mangelnde Darlegung der Zulassungsgründe behauptet wurde. Die Sache war daher erst nach Ablauf eines Zeitraums entscheidungsreif, innerhalb dessen eine Replik des Klägers zu erwarten gewesen wäre.
Der Zeitraum von Mitte November 2015 bis zur Zustellung der Entscheidung am 22. August 2018 beträgt ca. 33 Monate. Dem Gericht ist – wie dargelegt – ein Gestaltungsspielraum bei der Verfahrensführung zuzugestehen. Einerseits benötigt es eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und der Komplexität der Rechtssache angemessen ist; andererseits ist zu berücksichtigen, dass gleichzeitig eine Reihe weiterer Streitsachen zu bearbeiten und voranzutreiben ist. Angesichts dessen und der hier vorliegenden Komplexität der Streitsache aus einem eher selten vorkommenden Rechtsgebiet, in das sich die Mitglieder des Spruchkörpers einarbeiten mussten, und angesichts der dargestellten Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist die Grenze des gerichtlichen Gestaltungsspielraums im Berufungszulassungsverfahren des Klägers hier bei 14 Monaten erreicht, zumal die Entscheidungsreife der Streitsache relativ schnell eintrat. Erst dann entstand hier für den Kläger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die erforderliche „gewisse Schwere der Belastung“ durch die Verfahrensdauer.
e) Die sich danach errechnende, sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Berufungszulassungsverfahrens im Umfang von neunzehn Monaten ist im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung mit Blick auf das erstinstanzliche Verfahren um fünf Monate zu reduzieren. Denn das Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit etwa fünf Monate früher erledigt, als es dies bei Berücksichtigung des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums hätte tun müssen, um das Verfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen.
Materiellrechtlicher Bezugsrahmen eines Entschädigungsanspruchs, der allein bezüglich der Dauer des Verfahrens in einer von mehreren Instanzen geltend gemacht wird, ist das gesamte verwaltungsgerichtliche Verfahren im Ausgangsrechtsstreit. Ob sich die Verfahrensdauer in einer von mehreren Instanzen als angemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG darstellt, ist materiellrechtlich unter Berücksichtigung der Gesamtdauer des gerichtlichen Verfahrens von dessen Einleitung in der ersten Instanz, hier durch Klageerhebung am 5. Mai 2014, bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in der letzten Instanz, hier durch Beschluss vom 16. August 2018, zugestellt am 22. August 2018, zu ermitteln (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 a.a.O. Rn. 16 f. und 61). Denn auch um dies feststellen zu können, ist grundsätzlich die materiellrechtliche Voraussetzung zu prüfen, ob – mit Blick auf die Gesamtverfahrensdauer – durch die zügige Behandlung der Sache in einer Instanz eine etwaige Überlänge in einer anderen (vorangegangenen oder nachfolgenden) Instanz ganz oder teilweise kompensiert werden kann.
Die beim Verwaltungsgericht am 5. Mai 2014 erhobene Klage war nach Austausch mehrerer Schriftsätze der Parteien bei mehreren Fristverlängerungsanträgen auch des Klägers und dem mehrfachen Verlangen auf weiterer Aktenvorlage Anfang Januar 2015 entscheidungsreif. Zum Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 12. Dezember 2014 war der dortigen Beklagten rechtliches Gehör zu gewähren, zumal der Kläger nach wie vor vom Beklagten weitere Aktenvorlage verlangte und dieses Begehren nach Ladung zur mündlichen Verhandlung mit Schriftsatz vom 5. Februar 2015 wiederholte. Die Zustellung des Urteils an die Klagepartei erfolgte am 6. Juli 2015. Der Zeitraum von der Entscheidungsreife bis zur Zustellung der Entscheidung betrug daher ca. sechs Monate. Das Verfahren war auch für das Verwaltungsgericht überdurchschnittlich schwierig. Hierzu und zur Bedeutung des Verfahrens für den Kläger wird auf die Ausführungen unter II. 2. c) verwiesen.
Die Verfahrensführung des Verwaltungsgerichts vom Eingang der Klage bis zum Eintritt der Entscheidungsreife hat hier zu keiner ungerechtfertigten Verzögerung geführt. Ein Zeitraum von acht Monaten von Klageeingang bis zur Entscheidungsreife ist angesichts der Komplexität der Streitsache nicht ungewöhnlich lang, so dass sich daraus keine besondere Pflicht des Verwaltungsgerichts ergab, die Bearbeitung des Falls vorzuziehen.
Angesichts der Komplexität der Materie, der Tatsache, dass das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchführen musste und die Absetzung des Urteils, zumal der Kläger drei bedingte Beweisanträge gestellt hatte, eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, ist dem Verwaltungsgericht zur vorbereitenden Bearbeitung, Durchführung der mündlichen Verhandlung, Entscheidungsfindung und Entscheidungsabsetzung einschließlich Zustellung grundsätzlich ein Gestaltungsspielraum von zwölf Monaten zuzugestehen. Im Hinblick darauf, dass das Verwaltungsgericht unter Beteiligung der Vorsitzenden Richterin bereits zweieinhalb Jahre vorher „mit dem Fall“ befasst war, hält der Senat hier einen verkürzten Gesamtgestaltungszeitraum von elf Monaten für angemessen. Da die Entscheidung bereits ca. sechs Monate nach Entscheidungsreife zugestellt wurde, hat das Verwaltungsgericht den Gestaltungsspielraum nicht ausgeschöpft, sondern das Verfahren ca. fünf Monate früher erledigt. Daher können fünf Monate auf die überlange Dauer des Berufungszulassungsverfahrens beim Verwaltungsgerichtshof (19 Monate) angerechnet werden, was insgesamt zu einer unangemessenen Dauer des Gesamtverfahrens von 14 Monaten führt.
3. Nach § 198 Abs. 2 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach dieser Vorschrift insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Ob eine solche Feststellung ausreichend im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. (BVerwG, U.v. 27.2.2014 – 5 C 1.13 D – Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 3 Rn. 34 m.w.N.). Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG). Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG).
a) Dass der Kläger Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren – wie hier – unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist hier nicht widerlegt. Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung nicht ausreichend.
b) Nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 1.200 Euro nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Auch eine derartige Billigkeitsentscheidung ist hier nicht veranlasst.
In diese wird regelmäßig einzustellen sein, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Bedeutung hatte, ob dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt (BT-Drs. 17/3802 S. 20). Darüber hinaus kann zu berücksichtigen sein, von welchem Ausmaß die Unangemessenheit der Dauer des Verfahrens ist und ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war (vgl. EGMR, U.v. 29.9.2011 – Nr. 854/07 – juris Rn. 41). Hier ist als Ergebnis einer umfassenden Einzelabwägung eine Wiedergutmachung auf andere Weise, insbesondere wegen der erheblichen Verfahrensverzögerung von 14 Monaten, nicht ausreichend. Deshalb kann hier dahingestellt bleiben, ob im Fall einer unangemessenen Verfahrensdauer die Entschädigung die Regel und die bloße Feststellung im Sinne von § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG die Ausnahme ist (vgl. BSG, U.v. 21.2.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL – juris Rn. 45 f.) oder ob weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine anderweitige Vermutungsregelung gilt (vgl. BFH, U.v. 17.4.2013 – X K 3/12 – BeckRS 2013, 95036 Rn. 57).
c) Nach § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 1 GVG kann das Entschädigungsgericht in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung aussprechen, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Weil es hierfür nicht notwendig eines Antrags bedarf (§ 198 Abs. 4 Satz 2 GVG), hat das Entschädigungsgericht grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen, ob es diese Feststellung trifft. Bei diesem Ausspruch handelt es sich, wie systematisch aus § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG zu folgern ist, um eine Form der „Wiedergutmachung auf andere Weise“, die „neben die Entschädigung“ treten kann. Ob das Entschädigungsgericht diese Feststellung zusätzlich zur Entschädigung (vgl. BTDrucks 17/3802 S. 22) trifft, ist in sein Ermessen („kann“) gestellt. Ein schwerwiegender Fall im Sinne von § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 1 GVG liegt hier nicht vor.
III. Die Klage ist unbegründet, soweit beantragt wurde, dem Kläger eine Entschädigung für materielle Nachteile nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG zu gewähren. Die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs gegenüber dem jeweils haftenden Rechtsträger stellen zwar einen materiellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG dar (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 a.a.O.). Der Anspruch steht dem Kläger hier jedoch deshalb nicht zu, weil er den Entschädigungsanspruch nicht bei der insoweit zuständigen Stelle oder der vertretungsberechtigten Person des Schuldners (Beklagten) geltend gemacht hat.
Das Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 17. September 2018 mit der Entschädigungsforderung ist an die Landesanwaltschaft Bayern gerichtet worden. Diese ist jedoch nicht die zuständige Behörde, der gegenüber Ansprüche auf Entschädigung außergerichtlich oder vorprozessual geltend gemacht werden können. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus der Vorschrift des § 4 der Verordnung über die Landesanwaltschaft Bayern (LABV) über die Vertretung der Staatskasse, die von vornherein nur für Verfahren kostenrechtlicher Art, nicht aber für Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff. GVG gilt. Zuständig für die außergerichtliche oder vorprozessuale Abwicklung von Entschädigungsansprüchen nach § 198 GVG ist im Bereich der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit das jeweilige Gericht, bei dem die behauptete unangemessene Verfahrensverzögerung eingetreten ist.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
V. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


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