Baurecht

Abweichung von der erforderlichen Abstandsfläche

Aktenzeichen  W 4 K 16.737

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art.  59 Abs. 1 Nr. 2, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BauGB BauGB § 34

 

Leitsatz

Ein besonderer Einzelfall, der eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen rechtfertigt, ergibt sich jedenfalls aus der Lage der betroffenen Grundstücke in einem Altort, wo nur verschwindend wenig Gebäude gerade an der Ortsdurchgangsstraße die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstücksgrenzen einhalten. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Nachdem die Parteien ihr Einverständnis erklärt haben, konnte das Gericht vorliegend über den Rechtsstreit ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Anfechtungsklage der Kläger ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gegenstand des Verfahrens ist allein die mit Bescheid des Landratsamts M. vom 15. Juni 2016 genehmigte Erneuerung des Dachstuhls und Einbau einer Wohnung ins Dachgeschoss.
Nach Überzeugung der Kammer verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung keine drittschützenden Rechte der Kläger, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22).
Im vorliegenden Fall wurde ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO durchgeführt. In dessen Rahmen sind neben den bauplanungsrechtlichen Vorschriften die Anforderungen des Abstandsflächenrechts nur zu prüfen, soweit Abweichungen nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO beantragt wurden, was hier der Fall gewesen ist (vgl. BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – juris Rn. 33).
Die Überprüfung der nachbarschützenden Vorschrift des Art. 6 BayBO ergibt, dass Abstandsflächen zulasten der Kläger nicht verletzt sind, weil jedenfalls diesbezüglich die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO vorliegen. Die Kläger können sich vorliegend insbesondere nicht auf eine Verletzung ihrer Rechte durch die Gewährung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO berufen.
Denn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind gegeben. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlichrechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind. Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, muss es im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird. Es müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 63 Rn. 12 m. w. N.). Voraussetzung für einen atypischen Sachverhalt ist also, dass Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23).
Die erforderliche Atypik für eine Abweichung hält die Kammer insbesondere auch unter Berücksichtigung des Eindrucks, den sie im Rahmen des Augenscheins erhalten hat, vorliegend zweifellos für gegeben.
Die Besonderheit des Falles, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber dem Grundstück der Kläger rechtfertigt, ergibt sich jedenfalls aus der Lage der betroffenen Grundstücke im Altort von E …, Ortsteil S… Dort halten – wenn überhaupt – nur verschwindend wenig Gebäude gerade an der Ortsdurchgangs Straße die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstücksgrenzen ein, was sowohl der Augenschein, wie auch die vorgelegten Katasterauszüge nachweisen. Jedwede bauliche Veränderung der bestehenden Anwesen ist in solchen Lagen aber geeignet, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 34; BayVGH v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23). Soll in diesem Bereich eine zeitgemäße, den Wohnungsbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen.
Zu Recht verweist der Beklagte im Hinblick auf die Besonderheit des Falls aber auch darauf, dass das im Eigentum der Kläger befindliche Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. …0 an sämtliche Grundstücksgrenzen angrenzt. Die Wohnhäuser E…straße …7 und …3 befinden sich ebenfalls an bzw. in Grenznähe. Nichts anderes gilt für die Wohngebäude E …straße …9, …71, …75 und …77.
Weiterhin ist festzuhalten, dass bereits in der Baugenehmigung durch das Landratsamt Obernburg am Main vom 5. Juli 1965 schon eine Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächentiefen in südwestliche Richtung zum Grundstück Fl.Nr. …1 sowie in nordöstlicher Richtung zum Grundstück Fl.Nr. …3/1 erteilt wurde. Somit ging schon damals das Landratsamt Obernburg am Main folglich von einer Konstellation aus, die atypisch ist und die eine Abweichung rechtfertigt.
Nicht zu beanstanden durch die Kammer ist unter Berücksichtigung des Gesamtbildes, das das Gericht im Rahmen des Augenscheins erlangt hat, schließlich die weitere Begründung des Landratsamts M., die erforderliche Atypik ergebe sich auch aus der Asymmetrie des vorher bestandenen Dachstuhls, zumal dieser Umstand von den Klägern auch nicht substantiiert in Frage gestellt wurde. Ein gerader Dachstuhl in fachgerechter Ausführung kann unter Berücksichtigung der vorher vorhandenen Asymmetrie nur dann durchgehend gerade errichtet werden, wenn der Kniestock in einzelnen Bereichen weiter erhöht wird.
In der Zusammenschau aus Lage des Grundstücks im dicht bebauten Altortbereich und seinem Schnitt mit dem verfügbaren Raum leitet die Kammer daher vorliegend einen atypischen Sachverhalt ab.
Ob sich daneben die erforderliche Atypik auch darauf stützen lässt, dass das angrenzende Grundstück Fl.Nr. …1 mit einem Geh- und Fahrtrecht belastet ist, was vom Klägervertreter ausführlich diskutiert und verneint wird, bedarf nach alldem keiner Entscheidung.
Die Abweichung ist auch unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar, Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO.
Gemessen am Schutzzweck der Abstandsvorschriften, nämlich ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude sowie Brandschutz und Wohnfrieden zu gewährleisten (vgl. Dhom in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 63 Rn. 42), führt die Erteilung einer Abweichung nicht zu für die Kläger schlechthin untragbaren Verhältnissen, wie der Augenscheinstermin ergeben hat. Insbesondere konnte die Kammer nicht erkennen, dass tatsächlich eine Verschlechterung der bisherigen Situation für die Kläger eingetreten ist. Schlechthin untragbare Verhältnisse sind jedenfalls nicht zu befürchten und werden klägerseits auch nicht substantiiert geltend gemacht.
Schließlich fügt sich das Vorhaben auch nach der Art seiner Nutzung – unbestritten – in die maßgebliche nähere Umgebung ein, wie der Augenschein gezeigt hat. Es ist insbesondere nicht rücksichtslos.
Bei Wohnbauvorhaben ist eine Verletzung des in § 34 BauGB verankerten Rücksichtnahmegebots ausgeschlossen, wenn sich das Vorhaben nach seiner Art oder nach seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (vgl. BVerwG v. 11.1.1999, 4 B 128/98 – juris Rn. 6). Ob das Rücksichtnahmegebot verletzt ist, hängt nicht davon ab, ob die landesrechtlichen Abstandsflächen eingehalten sind (BVerwG a.a.O.). Maßgeblich erscheint für die Kammer hier allein die Frage, ob durch das Bauvorhaben eine „erdrückende Wirkung“ gegenüber der nordöstlichen Gebäudewand der Kläger erzeugt wird. Die zu der Problematik einer „erdrückenden Wirkung“ veröffentlichte Rechtsprechung (vgl. Überblick bei Troidl, BauR 2008, 1829) macht deutlich, dass die Situation auf dem Grundstück der Kläger offensichtlich noch nicht durch jene Unzumutbarkeit geprägt ist, die im Einzelfall eine solche Annahme rechtfertigen könnte. Die Hauptkriterien für die Beurteilung einer „erdrückenden Wirkung“ sind die Höhe des Vorhabens, seine Länge und die Distanz, hilfsweise das Erscheinungsbild des Vorhabens (vgl. hierzu Troidl, BauR 2008, 1829 [1843]). Nach herkömmlicher Rechtsprechung hat eine bauliche Anlage erdrückende Wirkung zudem nur dann, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse und ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ Anlage aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls und gegebenenfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandsflächen derart übermächtig ist, dass das – erdrückte – Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden“ Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. BayVGH v. 6.10.2015 – 2 NE 15.1612, juris Rn. 21, m.w.N.). Für die Annahme einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist aber grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5; BayVGH v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9). Gerade an letzterem scheitert vorliegend aber, wie sich auch aus den im Rahmen des Augenscheins gefertigten Bildern ergibt, eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme.
Nach alldem war die Klage, da weitere substantiierte Einwendungen klägerseits nicht vorgetragen wurden und auch die Kammer solche nicht erkennen kann, mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entspricht der Billigkeit, den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, weil dieser sich mit Antragstellung dem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben