Baurecht

Baueinstellungsverfügung wegen Abweichung von den genehmigten Bauvorlagen

Aktenzeichen  M 8 S 15.4988

Datum:
25.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 75 Abs. 1

 

Leitsatz

Für die Rechtmäßigkeit der Baueinstellungsverfügung grundsätzlich unerheblich, ob die planabweichende Ausführung des Bauvorhabens zu einem Verstoß gegen das materielle Baurecht führen wird, denn es kommt bei dem Erlass einer Baueinstellungsverfügung gerade nicht darauf an, ob die planabweichende Bauausführung im konkreten Fall genehmigungsfähig ist. Die Regelung des Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 a BayBO rechtfertigt sich daraus, dass es für Abweichungen von den genehmigten Bauvorlagen grundsätzlich der vorherigen (Tektur-)Genehmigung bedarf und der Bauaufsichtsbehörde die Möglichkeit gegeben werden soll, vor Abschluss eines solchen Genehmigungsverfahrens die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindern zu können. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom … Oktober 2015 verfügte sofort vollziehbare Baueinstellung und Androhung eines Zwangsgeldes.
Mit Bescheid vom … April 2015 erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Baugenehmigung nach Plan-Nr. … für die Errichtung einer Dachgaube, eines Doppelparkers und für die Vergrößerung des Balkons auf der Südseite der westlichen Doppelhaushälfte …-straße 146 b, Fl.Nr. …, Gemarkung … Das Vorhabengrundstück ist mit einem Doppelhaus bebaut, dessen Haushälften profilgleich aneinander angeschlossen sind. Nach den genehmigten Plänen ist unter anderem die Errichtung eines 2,20 m tiefen und 4,345 m langen Balkons im Dachgeschoss des Anwesens …-straße 146 b genehmigt. Mit den Handeintragungen vom 26. Februar 2015 wurde die Balkonbrüstung 30 cm nach Norden zurück versetzt, so dass das Geländer auf eine Tiefe von 1,90 m gegenüber der 2,20 m tiefen Bodenplatte des Balkons zurückspringen soll. Der Balkon ist von der westlichen Gebäudekante um 1,60 m nach Osten eingerückt. In diesem Bereich beträgt der Abstand der südlichen Außenwand des Gebäudes zu der südlichen Grundstücksgrenze abgegriffen 5,30 m. Die Oberkante der Balkonbrüstung liegt nach den genehmigten Bauvorlagen auf einer Höhe von abgegriffen 3,60 m.
Bei der Ortskontrolle vom 1. Oktober 2015 stellte die Antragsgegnerin fest, dass an dem Gebäude des Antragstellers mit dem Bau des Balkons begonnen wurde. Auf den bei der Ortskontrolle gefertigten Bildern ist erkennbar, dass zum Zeitpunkt der Kontrolle an den Außenkanten – insbesondere an der Vorderkante – der Bodenplatte des Balkons Halterungen für ein Balkongeländer angebracht waren.
Daraufhin verfügte die Antragsgegnerin am … Oktober 2015 telefonisch sofortige Baueinstellung. Mit Bescheid vom … Oktober 2015 bestätigte die Antragsgegnerin unter Ziffer 1 des Bescheids die telefonisch verfügte Einstellung der Bauarbeiten am Südbalkon der Doppelhaushälfte …-straße 146 b. Mit Ziffer 2 des Bescheids wurde für den Fall der Fortsetzung der Bauarbeiten trotz des ausgesprochenen Verbots ein Zwangsgeld in Höhe von 3.000,- Euro angedroht. In Ziffer 3 des Bescheids ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehbarkeit der Baueinstellungsverfügung. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, die Rechtsgrundlage für die mündliche Baueinstellungsverfügung sei Art. 75 BayBO. Danach sei die Antragsgegnerin befugt, die Einstellung der Bauarbeiten anzuordnen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlichrechtlichen Vorschriften errichtet, geändert, abgebrochen oder beseitigt würden. Die mündliche Baueinstellungsverfügung sei in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens notwendig gewesen, da nur auf diese Weise ordnungsgemäße Zustände hergestellt werden könnten. Die schriftliche Bestätigung der mündlichen Baueinstellungsverfügung erfolge nach Art. 37 Abs. 2 Satz 2 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG).
Die Antragsgegnerin handele in pflichtgemäßem Ermessen, da sie unter Abwägung aller „Für und Gegen“ den Baueinstand als geeignetes Mittel sehe. Der Baueinstand sei notwendig, da bei der planabweichenden Fertigstellung des Balkons die Abstandsflächen zum Nachbargrundstück nicht eingehalten würden.
Die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung werde angeordnet, weil das öffentliche Interesse an einer geordneten Bebauung ein sofortiges Einschreiten gegen die widerrechtliche Baumaßnahme erfordere. Aus diesem Grund sei auch eine Anhörung nach Art. 28 BayVwVfG unterblieben (Art. 28 Abs. 2 Ziffer 1 BayVwVfG).
Mit Schriftsatz vom 6. November 2015, beim Gericht am selben Tag eingegangen, erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom … Oktober 2015. Mit Schreiben vom 9. November 2015 stellten die Bevollmächtigten des Antragstellers den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6. November 2015 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … Oktober 2015 wiederherzustellen.
Zur Begründung des Antrages wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe mit der Ausführung des Balkons gemäß der Baugenehmigung vom … April 2015 begonnen. Die Balkonplatte weise eine Tiefe von 2,20 m auf. Ferner habe der Antragsteller begonnen, eine Balkonumwehrung anzubringen.
Die Vollziehungsanordnung sei ohne vorherige Anhörung des Antragstellers ergangen. Diese sei ferner nicht mit ausreichender Begründung versehen worden. Auf Seite 2 des Bescheids sei formelhaft auf das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung hingewiesen worden. Eine Vollziehungsanordnung müsse mit einer auf den konkreten Fall abgestellten und nicht lediglich formelhaften schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes versehen werden. Eine Bezugnahme auf die Begründung des Grundverwaltungsaktes sei nicht ersichtlich.
Die Einstellungsverfügung vom … Oktober 2015 sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Die Grundverfügung erfülle nicht die formellen Voraussetzungen, die an einen Verwaltungsakt zu stellen seien. Auch bezüglich der Baueinstellungsverfügung habe die erforderliche Anhörung des Betroffenen nicht stattgefunden. Außerdem liege keine hinreichende Begründung vor. Es werde nur sehr allgemein die Nichteinhaltung der Abstandsflächen zum Nachbargrundstück moniert. Es fehlten die Angaben dazu, worauf sich die Verletzung der Abstandsflächen konkret begründe und in welcher Höhe eine Verletzung des Abstandsflächenrechts erfolge. Durch die Begründung des Verwaltungsaktes müsse dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zum einen das Handeln der Verwaltungsbehörde zu verstehen und zum anderen auf den Verwaltungsakt reagieren zu können. Dies gebe die Begründung der Baueinstellungsverfügung vom … Oktober 2015 nicht her.
Die Einstellungsverfügung sei auch deshalb rechtswidrig, da gerade keine Verletzung von Abstandsflächenvorschriften vorliege. Der Antragsteller halte sich bei der Ausführung seines Vorhabens an die Angaben des Baugenehmigungsverfahrens. Insofern dürfe der Antragsteller darauf vertrauen, dass der Bau des Balkons soweit in Ordnung gewesen sei. Der Antragsteller sei davon ausgegangen, dass im Baugenehmigungsverfahren die Abstandsflächenvorschriften geprüft worden seien. In der Baugenehmigung fehle ein expliziter Hinweis darauf, dass die Abstandsflächenvorschriften nicht geprüft würden. Insofern habe der Antragsteller darauf vertrauen dürfen, dass eine Baugenehmigung bedeute, dass ein Vorhaben auch tatsächlich so erstellt werden dürfe. Es sei darauf hinzuweisen, dass der unmittelbar an die Südseite des Balkons angrenzende Nachbar nichts gegen den Balkon einzuwenden habe.
Im Übrigen sei bei der Berechnung der Abstandsfläche von der Höhe des Balkons auszugehen. Werde die Abstandsfläche von der Höhe des Balkonbodens gemessen, so liege keine Überschreitung vor. Die Höhe des Balkonbodens betrage 2,76 m.
Sofern die Abstandsfläche entgegen der Ansicht des Antragstellers von der Höhe des Geländers bemessen werde, so weise der Antragsteller darauf hin, dass anstelle des bisher vorhandenen Geländers eine Schiebegeländerkonstruktion angebracht werde, mit der sich das Geländer bei Bedarf zurückschieben lasse, so dass die Abstandsflächen in diesem Falle auch gewahrt seien. Dieses Schiebegeländer werde mit Glasflächen ausgestattet. Es liege demnach keine Verletzung der Abstandflächenvorschriften vor. Für das Abstandsflächenrecht maßgebliche Gesichtspunkte der Belüftung, Belichtung und Befriedung seien nicht beeinträchtigt.
Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass mit der Verwendung des beschriebenen Schiebegeländers die Möglichkeit bestehe, den Balkon zumindest bis zu einer Tiefe von 1,5 m zu nutzen, ohne dass die Vorschriften des Abstandsflächenrechts berührt würden. Unter der Voraussetzung, dass der Antragsteller die beschriebene Schiebegeländerkonstruktion anbringe, sei es gerechtfertigt, diesen Zustand bis zur endgültigen Entscheidung im Klageverfahren hinzunehmen.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2015 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrages führte die Antragsgegnerin aus, in der Begründung der Baueinstellungsverfügung sei sowohl auf die formelle Illegalität sowie auf die materielle Illegalität wegen des Abstandsflächenverstoßes abgestellt worden. Diese Umstände führten im Rahmen der Abwägung dazu, die Baueinstellung auszusprechen, um die Vollendung eines erkennbar bauordnungswidrigen Zustandes zu unterbinden. Der Sofortvollzug sei sodann maßgeblich damit begründet worden, dass die Verhinderung baurechtswidriger Zustände im öffentlichen Interesse läge und die Schaffung eines derartigen Zustandes mit dem Sofortvollzug verhindert werden könne.
Es sei bereits fraglich, ob vor der Anordnung des Sofortvollzuges überhaupt eine Anhörung gesetzlich vorgeschrieben sei. Dies sei nach zutreffender herrschender Meinung zu verneinen, weil es sich bei der Anordnung des Sofortvollzuges nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG handele, sondern einen unselbstständigen Annex zur Grundverfügung. Selbst wenn jedoch grundsätzlich von einem Anhörungserfordernis auszugehen wäre, wäre eine solche im konkreten Fall gemäß Art. 28 Abs. 2 Ziff. 1 BayVwVfG entbehrlich, da sie mit dem Charakter des Sofortvollzuges als wesentlicher Teil einer Gefahrenabwehrmaßnahme nicht vereinbar wäre. Der Sofortvollzug diene letztlich gerade dazu, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit – hier durch Schaffung eines baurechtswidrigen Zustands – effektiv zu unterbinden. Ohne Anordnung des Sofortvollzuges könnte bis zur Bestandskraft der Baueinstellung weitergebaut werden und der baurechtswidrige Zustand perpetuiert bzw. verfestigt werden.
Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs genüge den rechtlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach sei im Rahmen der Begründung das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung darzulegen. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass ein besonderes öffentliches Interesse bereits in der Beachtung des formellen Baurechts zu sehen sei. Im Übrigen sei ein besonderes Interesse jedenfalls auch in der Verhinderung baurechtswidriger Arbeiten bzw. der Verhinderung der Schaffung baurechtswidriger Zustände zu sehen.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sei dem Begründungserfordernis im Rahmen des Sofortvollzugs jedenfalls dann genüge getan, wenn die Bescheidsgründe den Gesetzesverstoß in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht darlegten, da sich letztlich das besondere Interesse am Sofortvollzug bereits aus der Art der Verwaltungsmaßnahme – Baueinstellung – ergebe (vgl. BayVGH, B. v. 24.10.1977 – 213 II 76).
Im Bescheid vom … Oktober 2015 habe die Beklagte in der Begründung zu Ziffer 1 sowohl die tatsächlichen Gründe für die Baueinstellung als auch die entsprechenden rechtlichen Erwägungen dargelegt. Damit sei dem Begründungserfordernis insbesondere mit den Ausführungen in der Begründung zu Ziffer 3 des Bescheids ohne weiteres Genüge getan. Im Übrigen könne die Beklagte ihre Erwägungen betreffend das besondere Interesse auch im jetzigen Stadium noch ergänzen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit beruhe einerseits auf der Tatsache, dass die Baueinstellung anderenfalls ihren Sinn und Zweck verfehlen würde. Wäre es dem Antragsteller gestattet bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache weiterzubauen, wäre der Eintritt des baurechtswidrigen Zustandes aller Voraussicht nach erfolgt. Die Baueinstellung als Mittel der Abwehr einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit, namentlich die geschriebene Rechtsordnung in Form der Bayerischen Bauordnung, würde ins Leere gehen. Der Sofortvollzug sei hier insbesondere auch erforderlich im Rechtssinne, weil der Grund für die Anordnung der Baueinstellung nicht nur in dem Verstoß gegen formelles Bauordnungsrecht liege, sondern auch gerade darin, ein weiterbauen und damit den Eintritt der materiellen Baurechtswidrigkeit wegen des Verstoßes gegen Art. 6 BayBO zu verhindern.
Weiterhin wurden die Überlegungen zur Rechtmäßigkeit des Sofortvollzugs vertieft.
Im Übrigen sei die Baueinstellung formell rechtmäßig. Eine Anhörung sei gemäß Art. 28 Abs. 2 Ziffer 1 BayVwVfG entbehrlich. Die im Bescheid angegebene Begründung sei im Übrigen ausreichend um die Baueinstellung zu rechtfertigen. Sie lasse insbesondere die maßgeblichen Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin erkennen, die die Antragsgegnerin im Übrigen auch jederzeit im Verfahren ergänzen könne.
Die Baueinstellungsverfügung sei auch materiell rechtmäßig. Die Baueinstellung sei schon deswegen statthaft, weil ein genehmigungspflichtiges Vorhaben planabweichend ausgeführt werde. Bei dem Balkon handele es sich nicht um ein verfahrensfreies Bauvorhaben sondern um einen Teil einer genehmigungspflichtigen Gesamtbaumaßnahme. Die planabweichende Errichtung ergebe sich aus den Feststellungen des technischen Außendienstes der Antragsgegnerin, der bei der Ortskontrolle auch am tiefsten Teil des Balkons eine außen angebrachte Aufhängung für die Umwehrung festgestellt habe, die nicht darauf schließen lasse, dass der in den genehmigten Plänen dargestellte Rücksprung des Geländers tatsächlich ausgeführt werden solle. Nach der Rechtsprechung genüge es für die Feststellung einer planabweichenden Baumaßnahme bereits, dass objektive Anhaltspunkte vorlägen, die es als wahrscheinlich erscheinen ließen, dass alsbald eine Baurechtswidrigkeit eintrete.
Hinzu komme, dass mit der wohl geplanten tatsächlichen Bauausführung auch ein Verstoß gegen das materielle Bauordnungsrecht verbunden wäre, da ein an der Außenkante des Balkons angebrachtes Geländer – selbst wenn es nur mit Glaspanelen bestückt werde – eine wandgleiche Wirkung erzeugen würde und damit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO auch auf dieses Geländer anzuwenden wäre.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.
1. Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat eine Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese entfällt kraft Gesetzes bei den in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO aufgeführten Maßnahmen und des Weiteren nach Nr. 4 der Bestimmung, wenn die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Das besondere Vollziehungsinteresse ist in diesem Falle schriftlich zu begründen (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wurde, wiederherstellen, wenn das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts überwiegt. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn der erlassene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da dann an dessen sofortiger Vollziehung ein öffentliches Interesse nicht bestehen kann. Dagegen überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das private Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist und ein besonderes Vollziehungsinteresse hinzutritt. Wenn sich bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung dagegen weder die offensichtliche Rechtswidrigkeit noch die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung feststellen lässt, hängt der Ausgang des Verfahrens vom Ergebnis einer vom Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung ab.
Vorliegend ist nach Auffassung des Gerichts davon auszugehen, dass die angefochtene Baueinstellungsverfügung rechtmäßig ist, ein besonderes Vollziehungsinteresse besteht und auch die Zwangsgeldandrohung nicht zu beanstanden ist.
2. Die Baueinstellungsverfügung findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde die Bauarbeiten u a. einstellen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlichrechtlichen Vorschriften errichtet werden, insbesondere, wenn bei der Ausführung eines Vorhabens von den genehmigten Bauvorlagen abgewichen wird (Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 Lit. a) BayBO).
Für eine Baueinstellung ist damit allein die formelle Illegalität, insbesondere das Bauen ohne die erforderliche Baugenehmigung, ausreichend. Auf die Frage, ob ein Vorhaben genehmigungsfähig ist, kommt es nicht an. Eine Baueinstellung setzt voraus, dass objektiv konkrete Anhaltspunkte gegeben sind, die es wahrscheinlich machen, dass ein dem öffentlichen Recht widersprechender Zustand geschaffen wird (BayVGH, B. v. 02.07.2007 – 14 CS 07.1313 – juris Rn. 14).
2.1 Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung hat ergeben, dass die angegriffene Baueinstellungsverfügung formell- und materiellrechtlich nicht zu beanstanden ist.
2.1.1 Die am … Oktober 2015 mündlich ergangene und mit Bescheid vom … Oktober 2015 schriftlich bestätigte Baueinstellungsverfügung (Art. 37 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG) ist formell rechtmäßig.
Vorliegend konnte von einer Anhörung nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG abgesehen werden, weil eine sofortige Entscheidung wegen der drohenden Fortsetzung der Bauarbeiten und damit wegen Gefahr in Verzug notwendig erschien, Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG. Dies ergibt sich daraus, dass die Ausführung des Bauvorhabens zum Zeitpunkt der Ortskontrolle am 1. Oktober 2015 ausweislich der in den Akten befindlichen Fotos bereits ein Stadium erreicht hat, in dem offensichtlich nur wenige Zwischenschritte bis zur vollständigen Fertigstellung des Balkons erforderlich waren. Der Fortschritt der Bauarbeiten war an den bereits angebrachten Halterungen für das Balkongeländer deutlich erkennbar.
Auch die Begründung der Baueinstellungsverfügung erscheint nach summarischer Prüfung ausreichend. Gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG ist ein schriftlicher sowie schriftlich bestätigter Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen. Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Diesen formellen Anforderungen an die Begründung des Verwaltungsakts ist bereits genügt, wenn die Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält, die die Behörde tatsächlich zu ihrer Entscheidung bewogen haben (Art. 39 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG).
Die Antragsgegnerin hat zur Begründung der Baueinstellungsverfügung ausgeführt, bei einer Ortskontrolle des Bauvorhabens des Antragstellers sei festgestellt worden, dass bei der Ausführung des Bauvorhabens von der erteilten Baugenehmigung abgewichen werde. Ferner hat die Antragsgegnerin nachvollziehbar dargelegt, aus welchen tatsächlichen Umständen sie auf eine planabweichende Bauausführung schließt. In rechtlicher Hinsicht hat die Antragsgegnerin die einschlägigen Rechtsgrundlagen für die formlose Baueinstellung sowie die schriftliche Bestätigung der Verfügung angegeben. Der Bescheid vom … Oktober 2015 enthält auch Gesichtspunkte, die die Antragsgegnerin bei der Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens zu einem Einschreiten nach Art. 75 Abs. 1 BayBO bewogen haben, nämlich die Gefahr der Verfestigung des baurechtswidrigen Zustands durch Fortsetzung der Bauarbeiten, da bei Fertigstellung des Balkons ein Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht zu befürchten sei.
Diese Begründung der Baueinstellungsverfügung genügt den rechtlichen Anforderungen des Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG.
2.1.2 Die streitgegenständliche Baueinstellungsverfügung genügt nach summarischer Prüfung auch den materiellen Voraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 BayBO. In den genehmigten Plänen der Baugenehmigung vom … April 2015 mit Handeintragungen vom 26. Februar 2015 ist die vordere (südliche) Balkonbrüstung gegenüber der Bodenplatte des Balkons um 0,3 m zurückversetzt dargestellt. Danach soll das südliche Geländer auf einer Tiefe von 1,90 m – gemessen von der südlichen Außenwand – angebracht werden. Vorliegend sind konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die tatsächliche Bauausführung des streitgegenständlichen Balkons der genehmigten Planung widerspricht und damit die Schaffung eines rechtswidrigen Zustands beabsichtigt ist. Auf den bei der Ortskontrolle vom 1. Oktober 2015 gefertigten Fotos ist erkennbar, dass an den Außenkanten der Bodenkonstruktion des Balkons – insbesondere auf der Vorderkante – Metallhalterungen für ein Balkongeländer angebracht wurden. Diese Fotoaufnahmen lassen zweifelsfrei darauf schließen, dass die Balkonbrüstung an der vorderen Kante des Balkonbodens und damit auf einer Tiefe von 2,20 m angebracht werden sollte. Damit wird die genehmigte Tiefe, auf der die Balkonbrüstung gemäß den Bauvorlagen angebracht werden sollte, um 0,3 m überschritten und es liegt folglich ein Widerspruch zu den genehmigten Bauvorlagen vor.
Dabei ist für die Rechtmäßigkeit der Baueinstellungsverfügung grundsätzlich unerheblich, ob die planabweichende Ausführung des Bauvorhabens zu einem Verstoß gegen das materielle Baurecht führen wird, denn – wie bereits oben ausgeführt – kommt es bei dem Erlass einer Baueinstellungsverfügung nach Art. 75 Abs. 1 BayBO gerade nicht darauf an, ob die planabweichende Bauausführung im konkreten Fall genehmigungsfähig ist. Die Regelung des Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 Lit. a) BayBO rechtfertigt sich daraus, dass es für Abweichungen von den genehmigten Bauvorlagen grundsätzlich der vorherigen (Tektur-)Genehmigung bedarf und der Bauaufsichtsbehörde die Möglichkeit gegeben werden soll, vor Abschluss eines solchen Tekturgenehmigungsverfahrens die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindern zu können (BayVGH, B. v. 04.10.2007 – 26 ZB 07.758 – juris Rn. 2).
2.2 Der Erlass einer Baueinstellungsverfügung nach Art. 75 BayBO steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Die Antragsgegnerin hat vorliegend das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Ermessensfehler sind nicht erkennbar. Der streitgegenständliche Bescheid lässt erkennen, dass die Antragsgegnerin von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht und sich nach Abwägung aller für und gegen die Baueinstellung sprechenden Umstände für die Verfügung des Baueinstands entscheiden hat. Bei der Entscheidung ist die Antragsgegnerin insbesondere davon ausgegangen, dass durch die tatsächliche Ausführung des Bauvorhabens nicht nur formell, sondern auch materiell baurechtswidrige Zustände geschaffen werden. Aus dem Sinn und Zweck der Regelung des Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 Lit. a) BayBO folgt, dass selbst dann, wenn das – formell rechtswidrige – Bauvorhaben möglicherweise materiell rechtmäßig ist, die Einstellung der Bauarbeiten grundsätzlich pflichtgemäßer Ermessensausübung entspricht, da damit gerade die Einhaltung der Baugenehmigungspflicht gesichert werden soll (BayVGH, B. v. 04.10.2007 – 26 ZB 07.758 – juris Rn. 2). Im vorliegenden Fall handelt es sich zwar um eine geringfügige Abweichung von der genehmigten Planung, diese würde jedoch zu einer Abstandsflächenüberschreitung nach Süden und damit sogar zu einem Verstoß gegen das materielle Baurecht führen. Der streitgegenständliche Balkon ist von der westlichen Gebäudekante um 1,60 m nach Osten eingerückt. Der Abstand der südlichen Außenwand zur südlichen Grundstücksgrenze auf der Höhe der westlichen Balkonkante beträgt abgegriffen 5,30 m. Bei einer Tiefe des Balkons von 2,20 m und einer Höhe von abgegriffen 3,60 m, gemessen von dem fiktiven Fußbodenpunkt bis zur Oberkante des Balkongeländers, kommt die Abstandsfläche mit einer Tiefe von 0,50 m auf dem Nachbargrundstück Fl.Nr. … zu liegen. Der Verstoß gegen Art. 6 BayBO würde – entgegen der Ansicht des Antragstellers – auch dann vorliegen, wenn die Balkonbrüstung transparent oder als verschiebbares Geländer ausgestaltet wird. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes hängt die Frage des Vorliegens einer Außenwand oder eines Außenwandteils grundsätzlich nicht von der Ausgestaltung der Wand ab. Nur dann, wenn bei natürlicher Betrachtungsweise die Wirkung einer Wand nicht gegeben ist, kann von einer Abstandsflächenpflicht nicht mehr ausgegangen werden (BayVGH, B. v. 8.8.2001 – 2 ZS 01.1331 – juris Rn. 5). Der Eindruck eines Außenwandteils wird bei einer Balkonbrüstung dadurch vermittelt, dass diese die Fläche des Balkons von allen Seiten nach Außen abschließt. Nichts anderes gilt, wenn der Balkon mit einem verschiebbaren bzw. öffenbaren Geländer versehen wird, weil in diesem Fall auf den Normalzustand des Geländers – geschlossen – abzustellen ist.
Nach alldem ist von einer fehlerfreien Ermessensausübung der Antragsgegnerin auszugehen.
3. Es besteht vorliegend auch ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Baueinstellungsverfügung. Insbesondre sind keine formellen Fehler der Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ersichtlich.
3.1 Soweit der Antragsteller geltend macht, vor dem Erlass der Anordnung der sofortigen Vollziehung sei die erforderliche Anhörung des Betroffenen entsprechend Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG unterblieben, begründet dies nicht die formelle Rechtswidrigkeit des Sofortvollzuges. Eine Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes ist nicht erforderlich (vgl. Schmidt in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl., § 80 Rn. 41 m. w. N.). Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG findet auf die Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine Anwendung, da es sich bei dieser Anordnung nicht um einen Verwaltungsakt handelt. Eine entsprechende Anwendung des Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG scheitert zunächst an der fehlenden planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes. § 80 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO regeln die formellen Voraussetzungen einer Vollziehbarkeitsanordnung abschließend (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 18.01.2007 – 10 ME 44/07 – juris Rn. 5). Weiter fehlt es an der Vergleichbarkeit der Interessenlagen zwischen beiden Fallkonstellationen. Während die Anhörung nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG der Sicherung des materiellen Rechts des Betroffenen dient, nämlich dem Betroffenen zu ermöglichen, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen der beabsichtigten Regelung des Verwaltungsakts zu äußern, handelt es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung um eine verfahrensrechtliche Nebenentscheidung zum Verwaltungsakt, die jederzeit – sofern ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht – getroffen werden kann (vgl. OVG Lüneburg, a.a.O).
3.2 Entgegen der Ansicht des Antragstellers genügt die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Baueinstellungsverfügung im Bescheid vom … Oktober 2015 den formalen Anforderungen, die nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO an die Begründung zu stellen sind. Bei Baueinstellungen ergibt sich das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schon aus der Art der getroffenen Verwaltungsmaßnahme. Das Ziel der Baueinstellungsverfügung, die Fortführung der gesetzeswidrigen Bauarbeiten zu verhindern, hätte ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erreicht werden können (BayVGH, B. v. 18.2.2000 – 2 ZS 00.458 – juris Rn. 2). Die Begründung des Sofortvollzuges ist demnach rechtlich nicht zu beanstanden.
3.3 Im Übrigen besteht ein öffentliches Interesse daran, dass die Baueinstellungsverfügung sofort und nicht erst nach rechtskräftigem Abschluss von Rechtsbehelfsverfahren vollziehbar ist. Da die formellen und materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer Baueinstellungsverfügung nach Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Lit a) BayBO vorliegend erfüllt sind, überwiegt das öffentliche Interesse an der Verhinderung der Entstehung baurechtswidriger Zustände das Interesse des Antragstellers an der Fortsetzung der Bauarbeiten.
4. Für die Rechtswidrigkeit der in Ziffer 2 des Bescheids vom … Oktober 2015 ausgesprochenen Androhung des Zwangsgeldes in Höhe von 3.000,- Euro für den Fall der Fortsetzung der Bauarbeiten trotz der Baueinstellungsverfügung bestehen keine Anhaltspunkte. Insbesondere ist die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes, das innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens liegt (vgl. Art. 31 Abs. 2 Satz 1 VwZVG), nicht zu beanstanden.
5. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs.1 VwGO abzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Ziff. 9.4 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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