Baurecht

Baugenehmigung für Wohnhaus mit Flachdach – Unwirksame örtliche Gestaltungssatzung

Aktenzeichen  M 1 K 17.5315

Datum:
11.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
CELEX – , 62018CC0019
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 14 Abs. 1 S. 1, S. 2
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
BauGB § 34 Abs. 1, Abs. 2
BBauG 1979 § 34 Abs. 2
BayBO Art. 59 S. 1, Art. 68 Abs. 1 S. 1, Art. 81 Abs. 1 Nr. 1
BauNVO § 5 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3
VGemO Art. 4 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1 Eine Satzung nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO kann grundsätzlich nicht für das gesamte Gemeindegebiet erlassen werden, weil es hierfür regelmäßig mangels Einheitlichkeit der einzelnen Ortsteile am Schutzbedürfnis fehlt. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
2 Auch selbständige örtliche Bauvorschriften müssen das Ergebnis einer sachgerechten Abwägung aller im Einzelfall berührten und erheblichen Belange sein. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter Aufhebung des Bescheids vom 15. September 2017 wird der Beklagte verpflichtet, die unter dem 27. April 2017 beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Der Beklagte ist verpflichtet, den Klägern die unter dem 27. April 2017 beantragte Baugenehmigung zu erteilen, weil deren Ablehnung rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Kläger haben gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung. Die beantragte Errichtung des Wohnhauses mit Flachdach und einer Doppelgarage verstößt nicht gegen die Vorschriften, die im hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahren (Art. 59 BayBO) zu prüfen sind.
1. Bauplanungsrechtlich ist das Vorhaben gemäß § 34 Abs. 1, Abs. 2 BauGB zulässig.
a) Nach den übereinstimmenden Beurteilungen der Verfahrensbeteiligten ist das Grundstück FlNr. 1048/1 Gem. … im städtebaulichen Innenbereich belegen. Die Ortsabrundungssatzung nach § 34 Abs. 2 Bundesbaugesetz (BBauG) vom 7. Juli 1978 in der Änderungsfassung vom 5. April 1979, in deren Geltungsbereich das Grundstück liegt, verweist für die planungsrechtliche Zulässigkeit ebenfalls auf die Voraussetzungen von § 34 BBauG/BauGB. Die Eigenart der näheren Umgebung entspricht – ebenfalls unstreitig – einem faktischen Dorfgebiet. Es wurde auch von keiner Seite in Zweifel gezogen, dass sich das geplante Wohnhaus samt Doppelgarage nach Art (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 BauNVO) und Maß der baulichen Nutzung, nach Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Dies lässt sich für das Gericht anhand der Luftbilder nachvollziehen; insbesondere finden sich in der näheren Umgebung für die beabsichtigte Grundfläche von 26,00 m x ca. 8,50 m durchaus vergleichbare Objekte.
b) Dass das Ortsbild nach § 34 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB (das sog. „große Ortsbild“) durch das Bauvorhaben beeinträchtigt wäre, wird von keiner Seite vorgetragen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dies so wäre.
c) Die Erschließung des Grundstücks in Form der Zufahrt, der Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung ist gesichert (vgl. Stellungnahme der Gemeinde, Behördenakt S. 5-6).
2. Dem Vorhaben steht auch nicht die Satzung, die der Gemeinderat am 8. Juni 2017 als örtliche Bauvorschrift nach Art. 81 Abs. 1 BayBO beschlossen hat und die im Genehmigungsverfahren zu prüfen ist (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c) BayBO), entgegen. Zwar widerspricht das Bauvorhaben mit der Flachdachausführung § 2 der Satzung, wonach Dächer der Hauptgebäude als gleichseitig geneigte Satteldächer, Walmdächer oder Krüppelwalmdächer mit einer Neigung von 15 bis 48 Grad auszuführen sind und Flachdächer ausdrücklich nicht zugelassen sind. Die Satzung ist jedoch unwirksam.
a) Die Satzung ist formell rechtmäßig, insbesondere ist die Gemeinde trotz ihrer Mitgliedschaft in der Verwaltungsgemeinschaft nicht am Erlass örtlicher Bauvorschriften gehindert, Art. 4 Abs. 2 Satz 1 VGemO.
Zwar ist davon auszugehen, dass der Gemeinderatsbeschluss vom 4. Mai 2017, mit dem die Verwaltung beauftragt wurde, eine Satzung unter den gestalterischen Vorgaben des Gemeinderats auszuarbeiten, in nichtöffentlicher Sitzung gefasst wurde, ohne dass hierfür ein Grund im Sinne des Art. 52 Abs. 2 GO ersichtlich ist. Dass es sich um eine nichtöffentliche Sitzung handelte, ergibt sich aus der Niederschrift vom 12. Juni 2017 („in der letzten nichtöffentlichen Sitzung“) sowie aus dem Umstand, dass ausweislich des Sitzungsprotokolls des öffentlichen Teils der Sitzung vom 4. Mai 2017 (auf der gemeindlichen Internetseite abrufbar) die Satzung gerade nicht Gegenstand der Beratung und Beschlussfassung der öffentlichen Sitzung war. Insoweit dürfte der von der Beigeladenen vorgelegte „Auszug aus der Niederschrift über die öffentliche Sitzung Nr. 3 des Gemeinderats … am 4. Mai 2017“ mit dem TOP 3 „Baugestaltung von Wohnhäusern im Gemeindebereich von … – Grundsatzdiskussion und ggf. Beschlussfassung“ unrichtig sein. Da jedoch der maßgebliche Beschluss des Gemeinderats vom 8. Juni 2017 über den Erlass der Satzung in öffentlicher Sitzung erging, ist dem Vorgenannten im Hinblick auf die formelle Rechtmäßigkeit der Satzung nicht weiter nachzugehen.
b) Die Satzung ist jedoch materiell rechtswidrig. Sie ist weder zur Erhaltung noch zur Gestaltung des Ortsbilds von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt und ist mit höherrangigem Recht nicht vereinbar.
aa) Ermächtigungsgrundlage für den Erlass örtlicher Bauvorschriften ist Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO. Hiernach können besondere Anforderungen an die äußere Gestaltung baulicher Anlagen zur Erhaltung und Gestaltung von Ortsbildern getroffen werden.
Bedenken im Hinblick auf die Rechtssetzungsermächtigung, die den Ländern in Abgrenzung zum Bauplanungsrecht des Bundes eingeräumt ist, bestehen nicht, weil die hier streitige Satzung mit ihren Regelungen zu Dachformen und -eindeckfarben Anforderungen an die äußere Gestalt baulicher Anlagen stellt und damit baugestalterische Absichten hat, was typischerweise in den Bereich des (Länder-)Bauordnungsrechts fällt.
bb) Die Erhaltung steht im Vordergrund, wenn die Regelung das vorhandene Ortsbild prägende Gestaltungselemente aufgreift und diese festschreibt, damit sich neue bauliche Anlagen in das überkommene Bild einfügen (BayVGH, U.v. 2.2.2012 – 1 N 09.368 – juris Rn. 27; König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 81 Rn. 17). Hingegen soll auf der Gestaltung das Schwergewicht liegen, wenn die Vorschriften durch die Festsetzung bestimmter Eckdaten (z.B. auch Dachformen und Dacheindeckung) zum Entstehen eines von dem Betrachter als charakteristisch wahrgenommenen Ortsbildes beitragen sollen (König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 81 Rn. 17). Die Unterscheidung der beiden Satzungsformen ist nicht trennscharf. Es können auch die Zwecke der Erhaltung und Gestaltung gleichzeitig verfolgt werden (Molodovsky in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 11. AL Okt. 2015, Art. 81 Rn. 21); auch bei der Gestaltung kann die Gemeinde das Vorhandene als Maßstab nehmen.
Mit diesem Instrument sind die Gemeinden nicht auf die Abwehr verunstaltender Anlagen beschränkt, sondern können positive Gestaltungspflege betreiben. Dabei ist die Gestaltung baulicher Anlagen zugunsten des Ortsbildes ein öffentliches Anliegen, das Ausdruck der Eigentumsbindung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist und prinzipiell zu einer Einschränkung privater Eigentümerbefugnisse führen kann. Zur Erhaltung des Ortsbild muss die Frage nach dessen Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit beantwortet werden (BayVGH, B. v. 3.11.2009 – 2 ZB 09.564 – juris Rn. 8; Decker in Simon/Busse, BayBO, Art. 81 Rn. 96; Molodovsky in Molodovsky /Famers/Waldmann, BayBO, 11. AL Okt. 2015, Art. 81 Rn. 23). Insoweit können Bauten, Straßen, Plätze oder Ortsteile geschützt werden, wenn sie geschichtliche oder künstlerische Bedeutung haben, wenn sie von städtebaulicher Bedeutung sind oder ein Bau- oder Naturdenkmal darstellen (Decker in Simon/Busse, BayBO, Art. 81 Rn. 98). Eine solche Eigentumsbindung ist „erforderlich“, wenn sie eine angemessene Abwägung der Belange des Einzelnen und der Allgemeinheit erkennen lässt, d.h., wenn sie gerechtfertigt ist, um das Eigentum gegen übergeordnete oder gleichgeordnete kollidierende Werte abzugrenzen (BayVGH, U.v. 25.6.1990 – 15 N 88.626 – n.v.). Die Gemeinden haben dabei einen beträchtlichen gestalterischen Spielraum und dürfen im Rahmen der positiven Pflege der Baukultur auch einen strengen ästhetischen Maßstab anlegen (BayVGH, U.v. 11.9.2014 – 1 B 09.2014 – juris Rn. 24).
(1) Die Satzung ist bereits deswegen rechtswidrig, weil die Gemeinde keine jedenfalls überschlägige Bestandsaufnahme durchgeführt hat.
Zwar bedarf es nicht grundsätzlich einer umfassenden Ortsbildanalyse (BayVGH, U.v. 11.9.2014 – 1 B 14.170 – juris Rn. 21; VG München, U.v. 21.6.2016 – M 1 K 15.1496 unter ausdrücklicher Aufgabe der vorherigen Rechtsprechung). Es ist vielmehr eine Frage des Einzelfalls, ob und gegebenenfalls in welcher Tiefe eine Bestandsaufnahme erforderlich ist, um Grundlage für eine verhältnismäßige Satzungsregelung zu sein. Angesichts des geäußerten gemeindlichen Willens, am Vorhandenen anzuknüpfen, bedarf es hier jedenfalls einer kursorischen Aufnahme dessen, was im Gemeindegebiet vorhanden ist. Denn ist Beweggrund einer Regelung, das Bestehende fortzuschreiben, muss Klarheit über diesen Bestand herrschen. Nur dann kann eine Regelung, die hierauf basierend differenzierte Vorgaben zur Dachgestaltung macht, gerechtfertigt sein. Es ist dem Beklagten zwar zuzugeben, dass es sich bei der Beigeladenen mit rund 1500 Einwohnern um eine kleine Gemeinde handelt. Doch herrscht hier die Besonderheit vor, dass die acht Ortsteile auf ca. 12,73 km² verstreut sind und deutlich voneinander getrennt sind. Im Hinblick auf die relative Weitläufigkeit des Gemeindegebiets und die verstreute Lage der einzelnen Gemeindeteile ist jedenfalls eine überschlägige Bestandsaufnahme erforderlich. Dass diese erfolgt ist, ist den vorgelegten Akten nicht zu entnehmen. Die Kammer konnte sich auch nach den Äußerungen in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugen, dass eine derartige zielgerichtete Ortsbesichtigung unternommen worden ist.
(2) Ferner lässt der gemeindliche Gestaltungswille Erwägungen dazu vermissen, warum das gesamte Gemeindegebiet den Gestaltungsvorschriften unterworfen sein soll und genügt daher dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht.
Eine Satzung nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO kann grundsätzlich nicht für das gesamte Gemeindegebiet erlassen werden, weil es hierfür regelmäßig mangels Einheitlichkeit der einzelnen Ortsteile am Schutzbedürfnis fehlt (Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL 2018, Art. 81 Rn. 117 m.w.N.). Denn Anknüpfungspunkt für Satzungen nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO ist das Ortsbild, das Grundlage eines Konzepts ist und das eigens für die Ausgestaltung eines konkreten, überschaubaren Ortsteils zu erarbeiten ist. Anknüpfungspunkt sind daher die jeweiligen örtlichen Verhältnisse des von der Regelung betroffenen Gebietes. Räumlicher Geltungsbereich und Satzungszweck stehen daher in einer Wechselbeziehung zueinander und können nicht isoliert voneinander betrachtet werden (Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL 2018, Art. 81 Rn. 117). In diesem Sinne entschied der Bayerische Verfassungsgerichtshof (E.v. 23.1.2012 – Vf. 18-VII-09 – juris), dass berücksichtigt werden muss, dass das Gebiet einer Gemeinde in der Regel aus verschiedenen Bereichen besteht, deren Ortsbild unterschiedlich schutzwürdig ist, und kam zu einer teilweisen Verfassungswidrigkeit einer (Werbeanlagen-)Satzung, weil der Normgeber bei einzelnen Verboten nicht nach den Gegebenheiten der verschiedenen Gemeindebereiche differenziert hat. Allerdings ist im Einzelfall nicht ausgeschlossen, dass aus ortsgestalterischen Gründen in kleineren Gemeinden Verbote für das gesamte Gemeindegebiet erlassen werden können, um auf diese Weise auf das örtliche Erscheinungsbild Einfluss zu nehmen (BayVGH, U.v. 11.9.2014 – 1 B 14.169 – juris Rn. 25; VG München, U.v. 21.6.2016 – M 1 K 15.1496 – juris Rn. 46).
Trotz der geringen Gemeindegröße ist hier einzustellen, dass jeder der acht Ortsteile der Gemeinde eine bauliche Selbständigkeit aufweist, die jedenfalls nicht auf den ersten Blick die Zugehörigkeit der einzelnen Ortsteile zu einer gemeinsamen politischen Gemeinde erkennen lässt. Die Gemeinde unterliegt hier einem erhöhten Darlegungsgebot, warum die einzelnen Ortsteile des Schutzes durch die Satzung bedürfen. Anhand der – nach den obigen Darlegungen erforderlichen – überschlägigen Bestandsaufnahme sind Überlegungen anzustellen, für welche Ortsteile die Satzung mit ihren Regelungen zur Dachgestaltung Geltung beanspruchen soll. Tunlicherweise ist hier auf die spezifischen örtlichen Gegebenheiten einzugehen und etwa die vorhandenen baulichen Anlagen ebenso wie die Lage in der Umgebung (beispielsweise Baudenkmäler, Einsehbarkeit durch Hängigkeit des Geländes, Nähe zur Autobahn) in die Entscheidung über den Erlass gestalterischer Vorschriften einzustellen.
(3) Voraussetzung ist weiterhin, dass mit der Regelung eine gebietsspezifische gestalterische Absicht verfolgt wird, die dem Geltungsbereich der Satzung ein besonderes Gepräge verleiht, also an die Besonderheiten des zu schützenden Gebietes anknüpft (Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL 2018, Art. 81 Rn. 100 f.). Das Ziel einer einheitlichen Gestaltung allein um der Einheitlichkeit willen rechtfertigt nach Auffassung der Kammer den Erlass einer Gestaltungssatzung nicht (so auch VG München, U.v. 5.5.2004 – M 8 K 04.392 – juris Rn. 126; ähnlich: BayVGH, U.v. 25.6.1990 – 15 N 88.626 – n.v., Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL 2018, Art. 81 Rn. 100 m.w.N.). Es muss noch ein weiterer, tragfähiger Erwägensgrund der Gemeinde für die gestalterischen Anforderungen hinzutreten, um die Gestaltungsfreiheit des Bauherrn und Architekten in verhältnismäßiger Weise beschränken zu können. Bereits in der Entscheidung vom 21. Juni 2016 (M 1 K 15.1496 – juris Rn. 47) hat die Kammer eine Gestaltungssatzung, die auf die Wahrung der Einheitlichkeit der Dachlandschaft abzielte, für rechtmäßig gehalten und dabei als tragfähigen Erwägensgrund anerkannt, dass mit der betreffenden Satzung der traditionelle alpenländische Baustil gewahrt werden soll. Für die Richtigkeit dieser Ansicht finden sich auch Hinweise in der obergerichtlichen Rechtsprechung. Nach der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. November 2009 (2 ZB 09.564 – juris Rn. 8) ist gar Voraussetzung auch für eine Gestaltungssatzung, dass ein erhaltenswertes Ortsbild vorhanden ist. Die dort streitige Satzung wurde für wirksam erachtet, weil ein Stadtbild vorhanden war, das angesichts der besonderen Hanglage am Ufer eines Sees, das von überall her gut einsehbar war, als schützenswert angesehen wurde. Das Anknüpfen an das bestehende Stadtbild war nach Auffassung des Gerichts insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich bei der betreffenden Gemeinde um ein Fremdenverkehrsgebiet handelt, nicht zu beanstanden (B.v. 3.11.2009 – 2 ZB 09.564 – juris Rn. 11). Die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Februar 2012 (1 N 09.368 – juris Rn. 28) lässt es – allerdings für unselbständige Gestaltungsvorschriften in einem Bebauungsplan – genügen, dass die vorherrschenden Dachformen fest- bzw. vorgeschrieben werden, um das überkommene Ortsbild zu erhalten. In späteren Entscheidungen hingegen (U. v. 11.9.2014 – 1 B 14.169, 1 B 14.170 – juris Rn. 26) für den Fall des satzungsmäßigen Ausschlusses von aufgeständerten Solaranlagen auf Dächern wird für die Rechtfertigung der Satzung nicht nur auf die vorhandenen traditionellen Dachformen im Gemeindegebiet Bezug genommen, sondern ausdrücklich auch auf den Charakter der Gemeinde als Fremdenverkehrsort abgestellt. Der rechtlichen Beurteilung wird also zugrunde gelegt, dass die Gemeinde einen tragfähigen Erwägensgrund für die gestalterischen Anforderungen in selbständigen Bauvorschriften vorweisen muss.
Aus den vorgelegten Satzungsunterlagen ergibt sich kein gemeindlicher Erwägensgrund, der über den Wunsch nach der Wahrung der Einheitlichkeit unter Fortschreibung des Vorhandenen hinausginge. Ebensowenig wurde dargelegt, dass … mit seinen Ortsteilen ein erhaltenswertes Ortsbild aufweist, dessen Schutzes es bedarf. Als maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der tatsächlichen Umstände ist auf den des Satzungserlasses abzustellen (Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL Oktober 2018, Art. 81 Rn. 80). Hiernach erschöpft sich der Satzungszweck darin, „das Erscheinungsbild der gewachsenen Ortschaften mit dem prägenden Bild der Dachlandschaften mit Satteldächern“ zu wahren. Der vom Bürgermeister in der mündlichen Verhandlung nachgetragene Gesichtspunkt, man wolle mittels der Satzung den „dörflichen Charakter“ bewahren, trägt die Satzung ebensowenig. Selbst wenn man diesem Aspekt mehr Aussagekraft beimisst als lediglich der Wunsch nach Bewahrung des überkommenen Ortsbildes, ist die dörfliche Prägung primär ein städtebaulicher Ansatz (vgl. auch § 5 BauNVO). Entscheidend für den dörflichen Charakter einer Gemeinde sind insbesondere die vorhandenen Nutzungsarten (insbesondere Landwirtschaft und Wohnen) und auch die flächenmäßige geringere Ausdehnung der Besiedelung. Die Gestaltung der Dachformen wäre nach Auffassung des Gerichts für die Frage der dörflichen Prägung nicht entscheidend.
(4) Die Gemeinde konnte nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen, dass sie im Rahmen der Abwägung den privaten Interessen hinreichend Rechnung trug. Die Gemeinde hätte sich im Rahmen des Satzungsverfahrens mit dem anhängigen Bauantrag der Kläger auseinandersetzen müssen.
Unzweifelhaft kann die Gemeinde einen anhängigen Bauantrag zum Anlass nehmen, in ein Normerlassverfahren einzutreten und kann dabei auch Regelungen treffen, um das beantragte Vorhaben zu verhindern. Doch es müssen alle vom Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange untereinander und gegeneinander gerecht abgewogen werden. Denn auch selbständige örtliche Bauvorschriften müssen das Ergebnis einer sachgerechten Abwägung aller im Einzelfall berührten und erheblichen Belange sein. Dabei leitet sich das Erfordernis einer Abwägung vor allem aus dem Charakter örtlicher Bauvorschriften als Inhalts- und Schrankenbestimmung i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG her, wonach verfassungsrechtlich gegenüber der Eigentumsgarantie beständige Gestaltungen des Inhalts und der Schranken des Eigentums durch örtliche Bauvorschriften auf sachgerechten Erwägungen beruhen und eine angemessene Abwägung der Belange des Einzelnen und der Allgemeinheit erkennen lassen müssen (vgl. nur Decker in Simon/Busse, BayBO, 131. EL Oktober 2018, Art. 81 Rn. 17, 74 m.w.N.). Dabei können auch beim Erlass örtlicher Bauvorschriften in der Form der selbständigen Satzung die von der Rechtsprechung zu § 1 Abs. 7 BauGB entwickelten Anforderungen an den Abwägungsvorgang und an das Abwägungsergebnis entsprechend herangezogen werden (Simon/Busse/Decker, 131. EL Oktober 2018, BayBO Art. 81 Rn. 75). Das Abwägungsgebot bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (seit BVerwG, Urt. v. 12.12.1969 – 4 C 105.66 – BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 29), dass eine Abwägung überhaupt stattgefunden haben muss, dass in die Abwägung die nach Lage der Dinge relevanten Belange einzustellen sind, dass die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange nicht verkannt werden darf und dass der Ausgleich zwischen diesen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange nicht außer Verhältnis steht.
Zwar besteht keine Verpflichtung der Gemeinde, selbständige örtliche Bauvorschriften zu begründen. Aus den Satzungsunterlagen muss sich auch nicht ohne weiteres der Abwägungsvorgang ergeben (so die wohl überwiegende Meinung, vgl. Decker in Simon/Busse, 131. EL Oktober 2018, BayBO Art. 81 Rn. 83 m.w.N.). Ob und in welchem Umfang die Satzungsunterlagen Aufschluss über die Überlegungen des Gemeinderates geben müssen, ist vielmehr eine Frage des Einzelfalles (BVerwG, B.v. 3.11.1992 – 4 NB 28.92 – juris Rn. 7 zu gestalterischen Festsetzungen im Bebauungsplan). Es ist allerdings Sache der Gemeinde, im Einzelnen den Nachweis zu erbringen, dass den Abwägungsgrundsätzen Rechnung getragen wurde.
Hier konnte nicht dargelegt werden, dass den o.g. Grundsätzen Rechnung getragen wurde. Zwar muss die Gemeinde gewiss nicht bezogen auf jedes einzelne Grundstück im avisierten Geltungsbereich der Satzung Überlegungen anstellen. Doch waren die Kläger spätestens mit Bekanntwerden ihres Bauantrags von der Satzungsregelung auch für die Gemeinde erkennbar betroffen. Selbst wenn bei der nicht-öffentlichen Gemeinderatssitzung am 4. Mai 2017 der am 2. Mai 2017 eingegangene Bauantrag noch nicht bekannt gewesen sei sollte, wäre es jedenfalls bei der folgenden Gemeinderatssitzung am 8. Juni 2017 möglich und erforderlich gewesen, sich mit den Belangen der Kläger, also mit den näheren Umständen des anhängigen Bauantrags und etwaigen Mehrkosten für den Bauherrn auseinanderzusetzen.
Das Gericht konnte sich in Ansehung der Niederschriften der Gemeinderatssitzungen nicht davon überzeugen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Bauantrag der Kläger erfolgte. Vielmehr gab der Bürgermeister der Beigeladen in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich an, dass man im Gemeinderat über den Bauantrag der Kläger nicht gesprochen habe. Damit ist den Abwägungsgrundsätzen nicht in hinreichendem Maße Rechnung getragen worden.
(6) Nach den oben dargelegten grundsätzlichen Mängeln bei der Rechtfertigung der gestalterischen Vorgaben kommt es auf die in der Satzung eingeräumte Möglichkeit einer Abweichung im Einzelfall (§ 4 der Satzung) nicht mehr an.
Die Satzung ist demgemäß unwirksam und kann dem Bauvorhaben nicht entgegengehalten werden.
3. Da im Hinblick auf weitere Vorschriften, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, keine Bedenken bestehen, ist die Baugenehmigung antragsgemäß zu erteilen.
Die Kostenentscheidung folgt § 154 Abs. 1 VwGO. Da die Beigeladene keinen eigenen Antrag gestellt hat, werden ihr keine Kosten auferlegt (§ 154 Abs. 3 VwGO). Ihre außergerichtlichen Kosten trägt die Beigeladene selbst, denn es entspräche nicht der Billigkeit, sie der unterliegenden Partei aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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