Baurecht

Baugenehmigung für Wohnhaus wird erteilt  – Im Fall: Gebot der Rücksichtnahme ist gewahrt

Aktenzeichen  Au 4 K 20.572

Datum:
29.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 18705
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

Sind die landesrechtlichen Vorschriften zu den Abstandsflächen eingehalten, die die Verhinderung einer unzumutbaren einmauernden oder erdrückenden Wirkung beabsichtigen und die ein Mindestmaß an Belichtung, Belüftung und Besonnung des benachbarten Grundstücks sicherstellen, ist das ein Indiz dafür, dass bei einem Baukörper hinsichtlich Größe und Situierung keine Rücksichtslosigkeit in Bezug auf das Nachbargrundstück angenommen werden kann. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen haben die Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die mit der Klage angegriffene Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen war, und trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung, ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244.96 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3).
1. Mangels Anhaltspunkten für einen Verstoß gegen die Art der baulichen Nutzung ergibt sich im Innenbereich (§ 34 BauGB) ein Drittschutz nur über das im Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ enthaltene Gebot der Rücksichtnahme.
Ob sich das Vorhaben darüber hinaus nach dem Maß der baulichen Nutzung, nach der Bauweise und nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn die Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung, über die Bauweise und über die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, sind nach ganz herrschender Meinung nicht nachbarschützend (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1994 – 4 B 53.94 – juris Rn. 4; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – NVwZ 1996, 888; BayVGH, B.v. 29.9.2008 – 1 CS 08.2201 – juris Rn. 1; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 3; B.v. 30.9.2014 – 2 ZB 13.2276 – juris Rn. 4; OVG NW, B.v. 27.10.2016 – 10 B 1040/16 – juris Rn. 11). Soweit die Kläger sinngemäß einen Gebietsgewährleistungsanspruch geltend machen, weil das angefochtene Vorhaben wegen seines Umfangs und der überbauten Grundstücksfläche den vorwiegend von Einfamilienhäusern geprägten Charakter der Umgebung mit Gärten und Grünbereichen verändere, führt dies demzufolge nicht zum Erfolg ihrer Klage. Der Gebietsgewährleistungsanspruch begründet kein Abwehrrecht gegen Mehrfamilienhäuser in einem bisher durch Einfamilienhäuser geprägten Bereich (vgl. OVG NW, B.v. 4.11.2015 – 7 B 744/15 – juris Rn. 5; B.v. 4.7.2014 – 7 B 363/14 – juris). Ebenfalls unberücksichtigt zu bleiben bei der Frage des Einfügens eines Bauvorhabens in die nähere Umgebung hat die Zahl der künftigen Wohneinheiten, da die im Rahmen des § 34 BauGB entweder unmittelbar (§ 34 Abs. 2 BauGB) bzw. sinngemäß heranzuziehende BauNVO bezüglich der Art der Nutzung nur auf den eigentlichen Nutzungstypus abstellt, jedoch keine weitergehende Differenzierung hinsichtlich der Nutzungsintensität vornimmt (zur Verdichtung der Wohnbebauung: OVG NW, B.v. 11.3.2016 – 7 B 1371/15 – juris Rn. 4). Deren Beurteilung bleibt letztlich eine Frage der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme. Nichts anderes ergibt sich aus der von den Klägern bemühten ober- bzw. höchstrichterlichen Rechtsprechung. Vielmehr gelangte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 23. Juni 1995 zu dem Ergebnis, dass Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung durch Bebauungspläne grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion haben (4 B 52.95 – juris -Ls-). Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2018 (4 C 7.17 – juris) setzte sich mit der Frage auseinander, unter welchen Voraussetzungen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung eine nachbarschützende Wirkung zukommt, auch wenn der Plangeber die Schutzrichtung nicht ausdrücklich dem Bebauungsplan zugewiesen hat. Das Vorhaben des Beigeladenen liegt hier aber im unbeplanten Innenbereich, § 34 BauGB. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2016 (4 C 7.15 – juris) befasst sich zwar mit der Frage des Einfügens eines Vorhabens nach dem Maß der baulichen Nutzung in die nähere Umgebung. Allerdings verhält es sich mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zu der hier maßgeblichen Frage des Drittschutzes, weil es in dem Fall um eine Klage des Bauherrn auf Erteilung einer Baugenehmigung ging.
2. Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt nicht zu Lasten der Kläger gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
a) Hinsichtlich der Größe und der Situierung des Baukörpers auf dem Grundstück des Beigeladenen kann keine Rücksichtslosigkeit in Bezug auf das südlich gelegene Wohngrundstück der Kläger angenommen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die landesrechtlichen Vorschriften zu den Abstandsflächen die Verhinderung einer unzumutbaren einmauernden oder erdrückenden Wirkung beabsichtigen und ein Mindestmaß an Belichtung, Belüftung und Besonnung des benachbarten Grundstücks sicherstellen sollen. Sind daher diese Vorschriften eingehalten, bildet dies ein Indiz dafür, dass auch gegen das Gebot der Rücksichtnahme diesbezüglich nicht verstoßen wird (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2326 – juris; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
Danach ist ein Verstoß im vorliegenden Fall nicht gegeben. Das beabsichtigte Mehrfamilienhaus hält unstreitig die landesrechtlich erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Kläger ein.
b) Darüber hinaus kann ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nach der Rechtsprechung nur in Betracht kommen, wenn das Wohngebäude der Kläger durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird, ihm also „abriegelnde“ Wirkung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris; B.v. 25.1.2013 – 15 ZB 13.68 – juris; B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris), insbesondere bei übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zu 2,5-geschossigen Nachbarhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – NVwZ 1987, 34: 3 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen; BayVGH, B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – BayVBl 2009, 751; B.v. 5.7.2011 – 14 CS 11.814 – juris Rn. 21). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlagen in Relation zur Nachbarbebauung.
Gemessen hieran liegt eine erdrückende Wirkung nicht vor. Von dem Neuvorhaben müsste aufgrund der Massivität und Lage eine qualifizierte, handgreifliche Störung auf das Nachbargrundstück ausgehen. Davon kann nach den beigezogenen Unterlagen und unter Berücksichtigung des Parteivortrags keine Rede sein. Wie ausgeführt indiziert die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften, dass aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt ist (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris Rn. 3). Es bestehen auch keine sonstigen Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Auch wenn die bisherige Bebauung nach dem Vortrag der Kläger eher von einer „dörflich aufgelockerten Bauweise“ mit vorwiegend „kleineren Einfamilienhäusern“ und „landwirtschaftlichen Anwesen“ geprägt sein mag, so sprengen Länge und Höhe des geplanten Gebäudes den Rahmen der vorhandenen Bebauung, worauf der Beigeladene insbesondere im Hinblick auf die landwirtschaftlichen Anwesen auf den Grundstücken Fl.Nr., … und … zu Recht hinweist, nicht. Bezogen auf die schon tatsächlich vorhandene Bebauung kann das Vorhaben des Beigeladenen nicht als Fremdkörper bezeichnet werden. Zwar ist der Klägerseite darin zuzustimmen, dass die Sichtachse in Richtung Norden beeinträchtigt wird und dies als Belastung wahrgenommen werden kann. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der unbestreitbaren optischen Dominanz des Bauvorhabens des Beigeladenen in diese Blickrichtung ein weitgehend freier Ausblick in alle übrigen Himmelsrichtungen gegenübersteht. Von einer vollkommenen „Abriegelung“ bzw. „Einmauerung“, die das benachbarte Wohngrundstück gleichsam „erdrücken“ oder „gefängnisartig“ einmauern würde, kann demnach keinesfalls ausgegangen werden. Mithin lässt das Vorhaben subjektivrechtlich die gebotene Rücksichtnahme speziell auf seine in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung nicht vermissen. Die bauliche Verdichtung mag für die Kläger unpassend erscheinen, sie ist deswegen aber noch nicht rücksichtslos. Die städtebaulich erwünschte Nachverdichtung bringt es mit sich, dass die Baugrundstücke umfangreicher als in der Vergangenheit genutzt werden, sofern sie sich in den durch die Umgebungsbebauung vorgegebenen Rahmen einfügen. Es besteht aber kein Anspruch, dass das streitgegenständliche Grundstück wie das eigene Grundstück genutzt oder bebaut wird.
c) Auch der Umstand, dass mit dem Vorhaben ein Mehrfamilienhaus in einer überwiegend durch Einfamilienhäuser und landwirtschaftliche Anwesen geprägten Umgebung verwirklicht werden soll, vermag keine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens zu begründen. Die Zahl der Wohneinheiten stellt ohne eine entsprechende planerische Festsetzung (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB) kein im Rahmen des „Einfügens“ beachtliches Kriterium dar (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.1980 – IV C 98.77 – DVBl. 1981, 97; OVG RhPf, B.v. 29.6.1993 – 1 B 11353/93 – NVwZ 1994, 699).
3. Schließlich führt auch der Hinweis der Kläger auf eine Verschärfung der Grundwassergefahr nicht zum Erfolg der Klage. Da die Baugenehmigung, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO erteilt worden ist, keine wasserrechtlich erforderlichen Genehmigungen ersetzt (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO), sind wasserrechtlich aufgeworfene Fragestellungen bereits nicht Gegenstand der Feststellungswirkung der mit der Klage angegriffenen Baugenehmigung.
Nach allem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Da der Beigeladene einen Antrag gestellt und sich mithin einem Prozesskostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass seine außergerichtlichen Aufwendungen von den Klägern zu tragen sind.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet seine Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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