Baurecht

Baugenehmigung für zwei Mehrfamilienhäuser und Verletzung des Rücksichtnahmegebots

Aktenzeichen  M 1 K 18.1046

Datum:
26.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28049
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
BayBO Art. 59 S. 1, Art. 81 Abs. 1
BauNVO § 15

 

Leitsatz

1. Die Erfordernisse zum Maß der baulichen Nutzung dienen grundsätzlich – wie auch diejenigen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zur Bauweise – nur der städtebaulichen Ordnung, nicht aber auch dem Schutz des Nachbarn. Da sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke haben, ist zum Schutz der Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichender Prüfungsmaßstab.  (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine die Unzumutbarkeit begründende „erdrückende“ oder „abriegelnde“ Wirkung des Bauvorhabens auf das Grundstück eines Nachbarn kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht. Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude (u.a. aus diesem Grund Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch geplante Mehrfamilienhäuser hier verneint). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar, Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet.
Der Kläger wird durch die angefochtene Baugenehmigung vom 5. Februar 2018 in der Gestalt der Tekturgenehmigung vom 23. März 2018 nicht in drittschützenden Rechten, die zum Prüfprogramm im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO gehören, verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (st. Rspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – juris -; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Eine Verletzung drittschützender Normen durch eine Entscheidung der Bauaufsichtsbehörde kommt dabei nur insoweit in Betracht, als die Feststellungswirkung dieser Entscheidung reicht. Soweit das Prüfprogramm der Behörde aufgrund entsprechender gesetzlicher Normen – hier durch Art. 59 BayBO – eingeschränkt ist, scheidet infolgedessen eine Verletzung außerhalb dieses Prüfprogramms liegender drittschützender Normen zu Lasten eines Nachbarn aufgrund der entsprechenden Beschränkung der Feststellungswirkung der bauaufsichtlichen Entscheidung aus (vgl. Wolf in Simon/Busse, BayBO, Stand März 2018, Art. 59 Rn. 107 f.)
Der angefochtene Bescheid erging im Wege eines vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO, weil es sich bei dem Vorhaben nicht um einen Sonderbau im Sinne von Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt. Im Hinblick auf die danach zum Prüfprogramm gehörenden nachbarschützenden Vorschriften ist die erteilte Baugenehmigung nicht zu beanstanden. Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen war, trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung.
1. Daher kann es vorliegend offenbleiben, ob die Errichtung der mit der Baugenehmigung zugelassenen Mehrfamilienhäuser gegen das Abstandsflächenrecht des Art. 6 BayBO verstößt. Die Vorschrift war zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses (vgl. Schmidt in Eyermann, 14. Aufl. 2014, VwGO § 113 Rn. 53) nicht Gegenstand des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens. Erst ab 1. September 2018 erstreckt sich das Prüfprogramm wieder auf die Einhaltung der Abstandsflächen, vgl. Art. 59 S. 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO n.F.; geändert durch das Gesetz zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018 (GVBl. 2018, 523). Auch hatte die Beigeladene keinen Antrag auf Abweichung bezüglich der einzuhaltenden Abstandsflächen gestellt, der das Abstandsflächenrecht zum Prüfgegenstand gemacht hätte (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 2, Art. 63 BayBO).
2. Auf der Grundlage des hier somit ausschließlich relevanten planungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO) kommt die Annahme einer Nachbarrechtsverletzung nur dann in Betracht, wenn das Bauvorhaben zu Lasten des Klägers gegen das städtebauliche Gebot der Rücksichtnahme verstieße. Das ist nicht der Fall.
a) Die Bedenken der Klagepartei, dass sich das streitbefangene Vorhaben der Beigeladenen hinsichtlich seiner Ausmaße nicht in die nähere Umgebung einfüge, dies zu bodenrechtlich beachtlichen Spannungen führe, rücksichtslos sei und daher gegen nachbarschützende Rechte verstoße, greifen nicht durch:
Die Erfordernisse zum Maß der baulichen Nutzung dienen grundsätzlich – wie auch diejenigen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zur Bauweise – nur der städtebaulichen Ordnung, nicht aber auch dem Schutz des Nachbarn. Da sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke haben, ist zum Schutz der Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichender Prüfungsmaßstab (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 1.12.2011 – 14 CS 11.2577 – juris Rn. 24). Das allgemeine Rücksichtnahmegebot ist im hier maßgeblichen unbeplanten Innenbereich – abhängig vom Gebietscharakter – entweder Bestandteil des Tatbestandsmerkmals des „sich Einfügens“ nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB oder findet sich über § 34 Abs. 2 BauGB in § 15 BauNVO zum Ausdruck gebracht. Das Gebot ist in beiden Varianten nur verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt würde (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Dass die Auswirkungen des streitigen Bauvorhabens auf das Grundstück des Klägers die Grenze der Zumutbarkeit überschreiten würden und somit rücksichtslos wären, ist nicht ersichtlich. Denn eine die Unzumutbarkeit begründende „erdrückende“ oder „abriegelnde“ Wirkung des Bauvorhabens auf das Grundstück des Klägers ist nicht gegeben. Eine solche Wirkung kommt nach der Rechtsprechung vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 32ff.: zwölfgeschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zum Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – DVBl 1986, 1271: drei 11,50 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem Wohnanwesen; BayVGH, B.v. 16.10.2012 – 15 ZB 11.1016 – juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, U.v. 2.6.2015 – 8 S 1914/14 – juris Rn. 64; eine erdrückende Wirkung verneinend: BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 7). Ausdrücklich statuiert der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in der Entscheidung vom 11. Mai 2010 (2 CS 10.454 – juris Rn. 5), dass für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes kein Raum ist, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude.
An diesen Grundsätzen gemessen hat das Bauvorhaben gegenüber dem klägerischen Wohnhaus keine erdrückende Wirkung. Bei eine Firsthöhe der streitgegenständlichen Wohnhäuser von 9,92 m kann davon im Verhältnis zum klägerischen Wohnhaus, das nach Angaben der Beklagten – die klägerseits unwidersprochen blieben – eine größere Firsthöhe von 12,25 m aufweist, nicht gesprochen werden. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass die geplanten Baukörper durch die bauliche Zurücksetzung der obersten „Penthaus“- Ebene noch weniger massiv wirken. Zudem liegen zwischen dem Haus B des Vorhabens der Beigeladenen und dem klägerischen Haus in geringster Entfernung ca. 12 m. Ohne dass es im Übrigen darauf ankäme geht nach Auffassung des Gerichts der Hinweis auf einen „faktischen Gesamtwohnkomplex“ mit einer Breite von insgesamt 41,90 m fehl, weil es sich tatsächlich um zwei getrennte Wohngebäude, die mit einem deutlichen Abstand von ca. 7,50 m zueinander geplant sind, handelt. Eine „erdrückende“ oder „abriegelnde“ Wirkung geht nach alledem von dem Vorhaben nicht aus.
b) Auch die Bedenken, dass das Vorhaben gegen eine faktische Baulinie verstoße, verhelfen der Klage nicht zum Erfolg. Ob hier die Bebauung auf den Grundstücken FlNrn. 163/4 und 163/2 überhaupt eine faktische Baulinie vermittelt, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls entfaltet eine faktische Baulinie keinen Drittschutz. Ob Regelungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen nachbarschützend sind oder ausschließlich städtebauliche Aussagen treffen, beurteilt sich nach ihrer Zweckbestimmung; diese lässt sich nur im Fall der Festsetzung in einem Bebauungsplan nachvollziehen. Im Fall einer faktischen Baulinie ist hierfür kein Raum, da es an einer für die drittschützende Wirkung maßgeblichen planerischen Entscheidung der Gemeinde fehlt (SächsOVG, B. v. 20.10.2005 – 1 BS 251/05 -, juris Rn.5; VGH Bad.-Württ., B. v. 15.11.1994, – 8 S 2937/94 – juris Rn. 3).
3. Zwar kann der Denkmalschutz drittschützende Wirkung haben und ein erhöhtes Maß an Rücksichtnahme für sich beanspruchen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 4 C 3/08 – juris Rn. 21 ff. zu § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 BauGB; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 11.3.2014 – OVG 10 S 13.12 -, juris; VG Berlin, U.v. 19.11.2014 – 19 K 385/12 – juris Rn. 66ff.). Doch soweit die Klagepartei im Schriftsatz vom … März 2018 vorträgt, ihr Haus stünde unter Denkmalschutz, finden sich hierfür keine weitergehenden Anhaltspunkte. In den amtlichen Karten der Bayerischen Vermessungsverwaltung findet sich für das Grundstück des Klägers kein Eintrag eines Baudenkmals. Dementsprechend ging die Beklagte nicht vom Vorliegen eines Denkmals aus, als sie bei der Beteiligung der Fachstellen weder den Kreisheimatpfleger noch das Bayerischen Landesamt für Denkmalschutz beteiligte. Ausreichend substantiierte Tatsachen dafür, dass es sich um ein Denkmal handeln könnte, werden durch die Klagepartei nicht vorgetragen. Die unter 2. a) angeführten Höhenentwicklungen und die Entfernungen zwischen dem Gebäude des Klägers und den streitgegenständlichen Vorhaben legen die Annahme eine Beeinträchtigung im Übrigen auch nicht nahe.
3. Soweit die Klagepartei rügt, dass das Bauvorhaben gegen die örtlichen Bauvorschriften der Beklagten vom 15. September 1992 verstoße, in welchen sich die Stadt in der Präambel unter Punkt 1.4 ein „Ortsbild voralpiner Prägung mit landschaftsgebundenen Bauten“ auferlegt habe, kann dies der Klage ebenso wenig zum Erfolg verhelfen. Dies gilt auch im Hinblick auf die erteilten – von der Klagepartei nicht weiter thematisierten – Abweichungen von Nr. 7 der örtlichen Bauvorschriften, die die Dachform und Dachneigung betreffen.
Örtliche Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO sind grundsätzlich nicht drittschützend (Decker in Simon/Busse, BayBO, Stand 129. EL März 2018, Art. 81 Rn. 314; BayVGH, B.v. 29.8.2006 – 15 CS 06.1943 – juris Rn. 15; VGH München, B.v. 18.3.2005 – 1 CS 05.118 – juris Rn. 14). Ausdrücklich entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für den Fall von Festsetzungen über die Dachneigung und Dachgauben, dass auch diese im Allgemeinen rein städtebaulicher Natur sind (BayVGH, B.v. 10.1.2000 – 27 ZB 97.1931 – juris Rn. 3) und deshalb regelmäßig keine nachbarschützende Wirkung haben. Dass die Beklagte bei Erlass der Satzung drittschützende Wirkung beabsichtigte, ist nicht ersichtlich. Aus der Präambel zu den örtlichen Bauvorschriften, wonach u.a. das „Straßen-, Orts- und Landschaftsbild der Stadt […] verbessert werden [soll]“, ergibt sich, dass die Stadt vielmehr rein städtebauliche Ziele verfolgt.
4. Der Kläger kann sich ebenso wenig auf etwaige Verpflichtungen der Beklagten berufen, die sie im Rahmen des Tourismuskonzepts „Alpine Pearls“ übernommen haben mag, da auch hier keine drittschützenden Regelungen erkennbar sind.
5. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entspricht mit Blick auf § 162 Abs. 3 VwGO der Billigkeit, dass der Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt, weil diese sich durch Stellung des Klageabweisungsantrags ihrerseits einem Kostenrisiko (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) ausgesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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