Baurecht

Befreiung für Wintergarten, Überschreitung des Bauraums, Rückwärtige Baugrenze, Grundzüge der Planung (hier: berührt)

Aktenzeichen  M 8 K 20.5468

Datum:
25.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11114
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung der von ihm beantragten Baugenehmigung, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich nicht genehmigungsfähig. Es widerspricht den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans (Bauraum). Eine Befreiung von den Festsetzungen kommt nicht in Betracht, da das Vorhaben die Grundzüge der Planung berührt.
1. Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Im hier einschlägigen, vereinfachten Genehmigungsverfahren ist u.a. die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB zu prüfen (Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO).
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens bestimmt sich vorliegend im Hinblick auf das vorhandene, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitete Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen, da keine weitergehenden bauplanungsrechtlichen Festsetzungen vorhanden sind, nach § 34 BauGB.
Im Geviert wurden mehrere zwar städtebaulich korrespondierende, jedoch voneinander unabhängige Bauräume ausgewiesen, die jeweils ein oder mehrere Grundstücke betreffen. Für das Vorhaben beachtlich ist dabei allein der Bauraum entlang der … Straße (* … Straße 14 – 22).
1.1. Diese bauplanerische Festsetzung beansprucht zweifelsohne nach wie vor Gültigkeit. Für eine zwischenzeitlich – etwa durch eine entgegenstehende bauliche Entwicklung – eingetretene Funktionslosigkeit ist nichts dargetan und nichts ersichtlich.
Eine bauplanerische Festsetzung – auch eine solche eines nach § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleiteten Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 3 f.; B.v. 24.4.1998 – 4 B 46.98 – juris Rn. 7; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14) – tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der ihre Verwirklichung aus objektiver Sicht auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Leitsatz und Rn. 35; B.v. 29.5.2001 – 4 B 33/01 – juris Rn. 5; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 11.9.2013 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14).
Die Eignung der streitgegenständlichen Bauraumfestsetzung, einen wirksamen und sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung zu leisten ist – diese Grundsätze berücksichtigend – zweifelsohne noch gegeben. Insbesondere wird die rückwärtige Baugrenze im maßgeblichen Bereich bis auf einige unbedeutende Vorbauten (Balkonanlagen), einen leichten Fassadenversprung des Hauptbaukörpers auf der Fl.Nr. … (ca. 1 m, abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan), die Terrasse auf dem Baugrundstück und Nebengebäude auf der Fl.Nr. … sowie dem Baugrundstück (Gartenhäuschen) eingehalten. Das Gericht konnte sich hiervon zum einen bei Einnahme des Augenscheins überzeugen, zum andern ist dies auch aus dem amtlichen Lageplan und allgemein im Internet zugänglichen Luftbildern („Google Maps“) erkennbar. Das der Planung zugrundeliegende städtebauliche Konzept – Bebauung entlang der Straße und Freihaltung der rückwärtigen Bereiche – ist weiterhin ablesbar und auch umsetzbar. Die geringfügigen Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze stellen weder die Hauptaussage noch die städtebaulichen Vorstellungen des einfachen Baulinienplans infrage. Dies gilt vorliegend mangels hinreichendem städtebaulichem Gewicht auch für die vorhandenen Nebengebäude. Die rückwärtigen Bereiche der überplanten Grundstücke werden weiterhin nicht baulich genutzt, sondern sind gärtnerisch angelegt und Teil eines im Geviertsinnern gelegenen, beruhigten Grünbereichs.
1.2. Das streitgegenständliche Bauvorhaben widerspricht den Festsetzungen des einfachen Baulinienplans und ist damit bauplanungsrechtlich unzulässig. Es soll vollständig außerhalb des dort vorgesehenen Bauraums, d.h. hinter der festgesetzten hinteren Baugrenze verwirklicht werden, § 30 Abs. 3 BauGB iVm § 34 BauGB. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von der festgesetzten hinteren Baugrenze.
1.2.1. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans – hier der rückwärtigen Baugrenze – befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung und des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Alle Alternativen des § 31 Abs. 2 BauGB setzen mithin als „vor die Klammer gezogenes“ Tatbestandsmerkmal voraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Die Grundzüge der Planung werden durch die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption gebildet (vgl. BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30).
Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30). Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99, NVwZ 1999, 1110 – juris; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris; U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – juris Rn. 22).
Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch (Um-)Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. Denn die Änderung eines Bebauungsplans obliegt der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde; hierfür ist ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vorgeschrieben, von dem nur unter engen Voraussetzungen abgesehen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 9.6.1978 – 4 C 54.75 – juris Rn. 27; U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – juris Rn. 22).
Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris Rn. 6; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3; B.v. 29.7.2008 – 4 B 11/08 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 1 ZB 17.2289 – juris Rn. 9).
1.2.2. Die Grundzüge der Planung ergeben sich vorliegend ohne Weiteres aus den Festsetzungen selbst. Die rückwärtige Baugrenze dient – in Kombination mit der Baulinie und den seitlichen Baugrenzen (Bauraum) – zweifelsohne dazu, eine städtebaulich abgegrenzte Bebauung mit einheitlicher Bauflucht und beschränkter Tiefe entlang der … Straße zu ermöglichen und gleichzeitig das Geviertsinnere von Bebauung freizuhalten, um einen auflockernd wirkenden, begrünten Freiraum zu schaffen (s.o.). Dementsprechend finden sich im Geviert auch mit dem streitgegenständlichen Bauraum korrespondierende Bauräume insbesondere entlang den das Geviert umschließenden Straßenzügen. Bei diesem städtebaulichen Ziel handelt es sich offensichtlich um das einzige Ziel des einfachen Baulinienplans, also das zentrale Anliegen bzw. die Kernaussage des Bebauungsplans.
Das Vorhaben widerspricht diesem städtebaulichen Konzept aufgrund seiner Dimensionierung und der Tiefe der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze. Es berührt die Grundzüge der Planung erheblich. Zwar ist der Klagepartei zuzugeben, dass sich im maßgeblichen Bereich bereits einige Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze finden. Allerdings finden sich keine Gebäude oder Gebäudeteile vergleichbaren Ausmaßes bzw. vergleichbarer städtebaulich-optischer Wirkung, welche die festgesetzte Baugrenze überschreiten. Durch die Zulassung des Vorhabens würde eine neue Qualität der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze erreicht, die tiefgreifend in die städtebauliche Konzeption eingreift bzw. sogar geeignet ist, diese aufzuweichen bzw. auszuhebeln.
Das Vorhaben soll eine Tiefe von 4,50 m und eine Breite von 3,89 m haben. Obschon der Wintergarten in Alu-Glas-Konstruktion ausgeführt werden soll, wirkt er aufgrund seiner großflächigen Dimensionierung (mit ca. 17,50 m² verfügt er über die Größe eines großzügigen, zusätzlichen Zimmers) und Höhe (2,20 m bis 2,78 m) nicht mehr wie ein untergeordneter Vor- bzw. Anbau an den Hauptbaukörper, sondern wie eine erdgeschossige Erweiterung desselben.
Gegenwärtig halten die Hauptbaukörper den streitgegenständlichen Bauraum jedoch weitestgehend ein. Lediglich auf der Fl.Nr. … wird die rückwärtige Baugrenze vom Hauptgebäude um ca. 1,0 m (abgegriffen aus amtlichen Lageplan) überschritten, jedoch nicht auf dessen gesamter Breite. Darüber hinaus finden sich lediglich – aufgrund ihrer städtebaulichen Wirkung mit dem Vorhaben schon nicht vergleichbare – Balkonanlagen, welche die Baugrenze um bis zu ca. 3,0 m überschreiten (Fl.Nr. …, abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan). Die Balkonanlage auf der direkt an das Baugrundstück angrenzenden Fl.Nr. … tritt sogar weniger als 1,0 m über die Baugrenze (abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan) und auch die bereits außerhalb des Bauraums vorhandene Balkonanlage auf dem Baugrundstück selbst erreicht nur eine Tiefe von ca. 2,0 m (abgegriffen aus der Bauzeichnung, Schnitt AA). Selbst wenn man davon ausginge, dass die Balkonanlagen mit dem Vorhaben vergleichbar wären, so erreicht doch keine dieser Anlagen auch nur ansatzweise die vom Vorhaben verwirklichte Tiefe von 4,50 m. Auch im Vergleich zu den vorhandenen Nebengebäuden, insbesondere dem von der Klagepartei benannten Bezugsfall auf der Fl.Nr. …, kommt dem Überschreiten der Baugrenze durch das Vorhaben als Teil der Hauptanlage ein städtebaulich ungleich größeres, nicht vergleichbares Gewicht zu.
Das Vorhaben hat aufgrund dessen eine erhebliche Vorbild- und Folgewirkung für die Umgebung. Die Beklagte könnte bei Verwirklichung des Wintergartens eine entsprechende Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze auch durch andere, von der Festsetzung betroffene Gebäude und/oder Gebäudeteile nicht mehr abwenden. Zudem ist keine Sondersituation auf dem streitgegenständlichen Grundstück erkennbar, die die Erteilung einer Befreiung im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit erforderlich machen würde.
1.3. Ob eine Befreiung erteilt wird, steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde, § 31 Abs. 2 BauGB. Da vorliegend jedoch bereits die Grundzüge der Planung berührt sind, kommt auch eine Verpflichtung der Beklagten zu einer erneuten Verbescheidung des Bauantrags des Klägers nicht in Betracht.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger eine Ermessensbindung der Beklagten zu seinen Gunsten auch nicht aus deren bisheriger Genehmigungspraxis hinsichtlich der bereits – insbesondere für das Baugrundstück großzügig – gewährten Befreiungen (Bezugsfälle) herleiten könnte. Denn eine Behörde muss sich nicht an einer einmal erkannten Fehlentwicklung festhalten lassen (BayVGH, U.v. 4.7.2003 – 2 B 02.1962, BeckRS 2003, 27623, Rn. 13) und damit sehenden Auges eine Funktionslosigkeit des Bebauungsplans herbeiführen (VG Würzburg, U.v. 16.08.2016 – W 4 K 16.344 – juris Rn. 45).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergeht gemäß § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.


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