Baurecht

Befreiung, Grundzug der Planung, Lärmschutz

Aktenzeichen  B 2 K 19.442

Datum:
12.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42597
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Vorbescheid der Beklagten vom 12.04.2019 betreffend die planungsrechtliche Genehmigungsfähigkeit von 6 Reihenhäusern und 2 Doppelhaushälften (davon 2 Gebäude gewerblich genutzt) und eines 3 m hohen Lärmschutzes wird aufgehoben. 
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 115 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 v.H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

Das Gericht kann gem. § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zuvor gehört.
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Der angefochtene Vorbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in ihren baurechtlichen Nachbarrechten.
Der ursprünglich als Bauantrag eingereichte Antrag der Beigeladenen wurde in Verlauf des Verfahrens einvernehmlich in einen Antrag auf Vorbescheid umgewandelt (Bl.45 Behördenakte; nachfolgend BA). Gemäß Art. 74 Satz 1 BayBO ist vor Einreichung des Bauantrags auf Antrag des Bauherrn zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Obwohl sich der Antrag der Beigeladenen vom 03.11.2016 zumindest der Begründung nach nur auf den Lärmschutz bezog, hat offensichtlich die Beklagte sämtliche Abweichungen des Projekts von den Festsetzungen des Bebauungsplans ermittelt und im Zuge des Vorbescheidsverfahrens inhaltlich behandelt; es wurden insgesamt sechs Befreiungen vom Bebauungsplan für erforderlich erachtet und sämtlich positiv beurteilt. Sie mündeten zusammengefasst in die einheitliche bauplanungsrechtliche Beurteilung, „dass das geplante Vorhaben bauplanungsrechtlich genehmigungsfähig ist“. Die von der Beklagten rechtsverbindlich erteilte Antwort auf die einheitliche Frage nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens kann folglich keinen Bestand haben, wenn sie sich in einem Punkt als rechtswidrig erweist und baurechtliche Nachbarrechte der Klägerin verletzt; dies ist vorliegend der Fall.
Deshalb kann dahinstehen, ob das unterbreitete Vorhaben der Beigeladenen tatsächlich das festgesetzte Mischgebiet zur Entstehung bringt, denn die rechtlichen Voraussetzungen für eine Abweichung von den Festsetzungen zum Lärmschutz gemäß § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor. Nachdem Teile der Brauerei der Klägerin im Geltungsbereich des Bebauungsplans liegen, begründet das planerische Konzept der Beklagten für den Bereich des Lärmschutzes wohl auch einen Anspruch der Klägerin auf Gebietserhaltung im Mischgebiet; sollte dieses wegen eines zu geringen Anteils gewerblicher Nutzungen in ein Wohngebiet kippen, wäre der Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin verletzt. Der Vorbescheid kann vorliegend aber auch deshalb keinen Bestand haben, weil die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für die Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Ausgestaltung des aktiven Lärmschutzes nicht vorliegen. Fragen des Abstandsflächenrechts sind hingegen weder Gegenstand der Prüfung noch der behördlichen Entscheidung.
Nach der Begründung des Bebauungsplans … erfolgen aktive Lärmschutzmaßnahmen in Form einer Lärmschutzbebauung mit Garagen- und Nebengebäuden (mit einer erforderlichen Firsthöhe von 8 m) entlang der südlichen und westlichen Grundstücksgrenze zur Brauerei und einer daran anschließenden inneren Bebauung mit einer geschlossenen Reihenhauszeile. Von dieser Planung wollen die Beigeladenen zugunsten eines lediglich 3 m hohen Lärmschutzwalls abweichen, doch liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB hierfür nicht vor.
Dabei steht für das Gericht außer Frage, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans … zum Lärmschutz nachbarschützende Wirkung entfalten. Denn die Begründung zum Bebauungsplan benennt als Instrumente der Konfliktbewältigung zwischen der Brauerei und dem neuen Baugebiet ausdrücklich sowohl die Ausweisung des Mischgebietes als auch die Festsetzung der Lärmschutzbebauung mit Garagen- und Nebengebäuden. Nach Nr. 7 des Bebauungsplans … sind zudem im Mischgebiet nur solche Anlagen bzw. Betriebe zulässig, bei denen sichergestellt ist, dass in ihrem Einwirkungsbereich die zulässigen Grenzwerte (Lärm und Abgase) nicht überschritten werden.
Angesichts der eindeutig nachbarschützenden Funktion der Festsetzungen zum aktiven Lärmschutz hat die Klägerin nicht nur einen Anspruch auf eine Würdigung ihrer nachbarlichen Interessen, sondern auf das Vorliegen aller Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach Maßgabe von § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, Vorbem zu §§ 29 bis 38 BauGB, Rn. 63, 64; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 10.2020, § 31 Rn. 69a; jeweils m.w.N.). Von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann nach dieser Vorschrift nur befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Diese Voraussetzungen liegen nach Überzeugung des Gerichts nicht vor, denn die Ersetzung der 8 m hohen Lärmschutzbebauung durch einen nur 3 m hohen Lärmschutzwalls berührt erkennbar die Grundzüge der Planung.
Nach der Rechtsprechung des für Oberfranken zuständigen Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs umschreibt des Gesetz mit den Grundzügen der Planung in § 31 Abs. 2 BauGB „die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu Grunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, B.v. 19.05.2004 – 4 B 35/04 – juris). Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind (vgl. BayVGH, U.v. 30.03.2009 – 1 B 05.616 – juris). Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Veränderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der (Um-)Planung möglich ist. Ob eine Befreiung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen“ (vgl. BayVGH, U.v. 14.12.2016 – 2 B 16.1574 – juris).
Nach Auswertung der Akten über das Bebauungsplanverfahren hat das Gericht keine Zweifel, dass es sich bei der Bewältigung des Nutzungskonflikts zwischen der Brauerei und dem Neubaugebiet um einen Grundzug der Planung handelt und dass dessen tragende Säulen einerseits die Festsetzung eines Mischgebietes und andererseits das Konzept der Lärmschutzbebauung als Maßnahme des aktiven Lärmschutzes sind. Insbesondere die Problematik des Lärmschutzes zieht sich – neben der umstrittenen Frage der Erschließung – gestützt auf entsprechende Fachgutachten wie ein roter Faden durch den gesamten Planungsvorgang und mit den Festsetzungen zum aktiven Lärmschutz hat die Beklagte als Trägerin der Planungshoheit den erforderlichen Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen geschaffen. Dabei ist in die Bewältigung des Immissionsschutzkonflikts bereits der Umstand eingeflossen, dass aufgrund eines früheren Nachtragsbaubescheides über die Errichtung der Brauerei vom 08.12.1971 das westlich angrenzende Gewerbegebiet der Brauerei insofern eingeschränkt ist, als die Lärmimmission gegenüber einem benachbarten Wohnhaus an der … 40 dB(A) zur Nachtzeit nicht überschreiten darf.
In die Begründung des Bebauungsplans … in seiner endgültigen Fassung wurde unter Nummer 2.4 Immissionsschutz aufgenommen, dass für die Erstellung des Bebauungsplanentwurfs ein Lärmschutzgutachten erforderlich war, da das neu geplante Wohngebiet unmittelbar im Süden und Westen des Geltungsbereichs an das Gewerbegebiet der Klägerin angrenzt. Im Ergebnis des Lärmschutzgutachtens der Firma S. vom 12.01.1996 und dessen Überarbeitung vom 09.10.1997 werde deutlich, dass für das Wohngebiet keine ideale Wohnlage entsteht, da die zulässigen Immissionswerte besonders nachts überschritten werden (besonders in Spitzenzeiten mit erhöhter Ladetätigkeit). Da die Ausfahrt der Brauerei unmittelbar an das Neubaugebiet angrenze, könne der Lärm (überwiegend Verkehrslärm) des Gewerbegebietes nicht reduziert werden. Somit werde im Bebauungsplanentwurf das südwestliche Neubaugebiet bis zur Erschließungsstraße als Mischgebiet mit Wohnen und nicht störendem Gewerbe als Übergangszone vom Gewerbe zum allgemeinen Wohngebiet ausgewiesen. Zusätzlich erfolgten aktive Lärmschutzmaßnahmen in Form einer Lärmschutzbebauung mit Garagenund Nebengebäuden (mit einer erforderlichen Firsthöhe von ca. 8 m) entlang der südlichen und westlichen Grundstücksgrenze zur Brauerei und einer daran anschließenden inneren Bebauung mit einer geschlossenen Reihenhauszeile. Außerdem würde zwischen dem südlichen und westlichen Gewerbebau eine Ausbaumöglichkeit vorgesehen, um durch die Lückenschließung die Lärmsituation zusätzlich zu verbessern“.
Im zugehörigen Lärmschutzgutachten vom 09.10.1997 ist hierzu ausgeführt, „die Ergebnisse der Berechnung hätten gezeigt, dass die Variante mit einem Mischgebiet und einer aktiven Lärmschutzmaßnahme als Übergangszone vom Gewerbegebiet zum allgemeinen Wohngebiet die sinnvollere Alternative darstellen würde“.
Die essenzielle Bedeutung des Lärmschutzes indizieren letztlich auch die Ausführungen im Sitzungsvortrag für den Bausenat der Beklagten vom 01.12.1999, wonach vor Aufstellung des Bebauungsplans in einem städtebaulichen Vertrag mit den Eigentümern festzulegen ist, dass die Lärmschutzgebäude entlang der westlichen und südwestlichen Grundstücksgrenze zur Brauerei hin in der Reihenfolge zuerst zu errichten sind, dass im südwestlichen Bereich ein Mischgebiet entsteht (somit nicht nur Wohngebäude, sondern auch anteilig Gebäude mit einer gewerblichen Nutzung zu erstellen sind), für das die für Mischgebiete zulässigen Lärmwerte von nachts 45 dB(A) zulässig sind und dass an Gebäuden passiver Lärmschutz vorzunehmen ist.
Dieser vom Plangeber im Wege der Abwägung der Belange geschaffene Interessenausgleich stellt einen Grundzug der Planung dar, welcher nicht im Wege einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB, sondern nur im Wege einer Planänderung umgestaltet werden kann.
Maßgeblich für dieses Verständnis ist aus Sicht des Gerichts die Überlegung, dass die Umgestaltung des Lärmschutzes hier maßgeblichen Einfluss auf die Wohnqualität im Planungsgebiet hat. Diese wird nicht allein durch die Frage bestimmt, ob die Immissionsrichtwerte für ein Mischgebiet bzw. ein Allgemeines Wohngebiet zur Tagzeit und zur Nachtzeit eingehalten werden, sondern wie laut es dort im Allgemeinen ist. Das Lärmgutachten vom 09.10.1997 und die Sitzungsvorlagen der Beklagten im Bebauungsplanverfahren sprechen bereits von keiner idealen Wohnlage und aus den im gegenständlichen Vorbescheidsverfahren gefertigten Vergleichstabellen ist eine deutliche Tendenz hin zu einem Anstieg der Lärmbelastung im neuen Baugebiet ablesbar (vgl. Bl. 37 ff, 58 ff und 106 ff BA). Hierzu wird immissionsschutzfachlich ausgeführt, dass die Immissionsrichtwerte zur Tagzeit sowohl mit als auch ohne aktive Schallschutzmaßnahme stets eingehalten werden. Zur Nachtzeit komme es hingegen an 3 im Gutachten ausgewählten, relevanten Immissionsorten im 1. Obergeschoss ohne Abschirmung zu Überschreitungen zwischen 1,1 und 2,8 dB(A). Dabei würden mit Abschirmung an 2 exponierten Immissionsorten die Richtwerte nach der TA-Lärm überschritten. Pegelreduzierungen von mehr als 2 dB(A) ließen sich nur in Räumen unmittelbar hinter dem 8 m hohen Lärmschutzbauwerk erreichen. Angesichts der geringfügigen Pegelüberschreitungen, die zwischen 1,1 und 2,8 dB(A) lägen, könnte unter immissionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten die Errichtung des ursprünglich geforderten Lärmschutzbauwerks (Garagenzeile mit aufgesetztem Dach – Höhe 8 m) kompensiert werden, sofern bestimmte immissionsschutzrechtliche Anforderungen gestellt werden. Die Wohnqualität hinsichtlich der Gewährleistung eines gesunden Schlafes könne durch bestimmte Maßnahmen zusätzlich verbessert werden.
Aus den Akten der Beklagten geht folglich hervor, dass es durch die Änderung des Lärmschutzes allgemein zu einer weiteren Erhöhung der Verlärmung des Plangebietes kommt und dass punktuell auch aktiver Lärmschutz durch passiven Lärmschutz ausgetauscht bzw. ergänzt wird bzw. werden muss. Selbst wenn im Ergebnis eine Einhaltung der Immissionsrichtwerte tatsächlich gewährleistet sein sollte, berührt die Umgestaltung des Lärmschutzes die Grundzüge der Planung, denn die planerische Abwägung ist nicht auf eine ausschließliche Grenzwertbetrachtung reduziert. Die Wohnqualität in einem Gebiet definiert sich nicht nach der Einhaltung von Grenzwerten nach der TA-Lärm, sondern nach der tatsächlichen Belastung innerhalb der zulässigen Grenzwerte. Die fachliche Empfehlung zur Eintragung von negativen Grunddienstbarkeiten deutet an, wie sehr vorliegend das Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe „auf Kante genäht ist“. Dies gilt vor allem dann, wenn sich durch die Befreiung der im Wege der Abwägung gelöste Lärmkonflikt an einzelnen Punkten tendenziell verschärft.
Nachdem die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans über den Lärmschutz aus den genannten Gründen die Grundzüge der Planung berührt, verstößt der Vorbescheid gegen § 31 Abs. 2 BauGB und verletzt schutzwürdige Rechte der Klägerin.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Nachdem die Beigeladenen mangels Antragstellung kein Kostenrisiko eingegangen sind, tragen sie aus Gründen der Billigkeit ihre außergerichtlichen Kosten selbst (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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