Baurecht

Befreiung von Baugrenzen

Aktenzeichen  1 ZB 19.2034

Datum:
31.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16268
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Die Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche ist grundsätzlich nicht drittschützend. Dass der Plangeber wiederholt eine Nachverdichtung des Baugebiets abgelehnt hat, lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass die Festsetzungen zur Baugrenze drittschützend sind. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 18.4318 2019-09-18 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung S … Der hiergegen gerichtete Eilantrag (M 9 SN 18.4319) sowie die Beschwerde (1 CS 19.474) blieben erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Baugenehmigung verletze die Kläger nicht in eigenen Rechten. Dies gelte auch für die erteilte Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenze.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO), des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124a Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) bzw. liegen nicht vor.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist hier nicht der Fall.
Im Hinblick auf die gerügten fehlenden Sachverhaltsfeststellungen des Verwaltungsgerichts werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht dargelegt, sondern Verfahrensfehler nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemacht. Soweit die Kläger rügen, dass das Vorhaben nicht erschlossen sei und den Klägern durch die Baugenehmigung ein Notwegerecht aufgezwungen werde, fehlt es an einer Darlegung der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Der Senat verweist hierzu auf die bereits im Rahmen des Eilverfahrens erfolgten Ausführungen unter Randnummer 9 im Beschluss vom 21. Mai 2019 – 1 CS 19.474. Das Zulassungsvorbringen erschöpft sich in der Behauptung, dass ein Zu- bzw. Durchgang zum rückwärtigen Grundstücksteil durch eine Terrasse und einen Baum versperrt sei. Es zeigt jedoch nicht auf, dass die vom Verwaltungsgericht angenommene Zu- und Durchgangsmöglichkeit (vgl. die Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf S. 13 f. des Beschlusses vom 20. Februar 2019 – M 9 SN 18.4319, auf den es im angegriffenen Urteil Bezug genommen hat) nicht geschaffen werden kann.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen auch nicht im Hinblick auf die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die erteilte Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenze die Kläger nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die erteilte Befreiung die Grundzüge der Planung berührt oder hierdurch bodenrechtliche Spannungen erzeugt werden, denn auf eine allein objektiv rechtswidrige Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans kann sich ein Nachbar nur berufen, wenn er durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist mit der erteilten Befreiung nicht verbunden und wird auch von den Klägern nicht geltend gemacht. Wie der Senat in seinem Beschluss vom 21. Mai 2019 bereits ausgeführt hat, ist die Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche grundsätzlich nicht drittschützend und ein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger ausnahmsweiser Drittschutz hier nicht ersichtlich. Dass der Plangeber nach dem Zulassungsvorbringen wiederholt eine Nachverdichtung des Baugebiets abgelehnt hat, lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass die Festsetzungen zur Baugrenze drittschützend sind. Soweit sich die Kläger auf die Rechtsprechung der sogenannten „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BayVBl 2019, 855) beziehen, kann hier offenbleiben, ob die Möglichkeit einer nachträglichen subjektiv-rechtlichen Aufladung von Festsetzungen eines Bebauungsplans bei jüngeren Bebauungsplänen überhaupt in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 1 CS 20.1955 – juris Rn. 3; B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704). Denn auch nach der „Wannsee-Entscheidung“ können Festsetzungen jedenfalls nur dann über eine nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung als nachbarschützend angesehen werden, wenn der Plangeber – unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektiv-rechtlichen Nachbarschutz zu begründen – die Planbetroffenen mit der Festsetzung tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 a.a.O.). Dies vermag das Zulassungsvorbringen jedoch nicht aufzuzeigen. Die von den Klägern angenommene Konzeption zur Freihaltung der rückwärtigen Grundstücksbereiche als Gartenbereiche ist den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht zu entnehmen, zumal andernfalls auch das ebenfalls in zweiter Reihe gelegene Grundstück der Kläger von einer Bebauung ausgenommen worden wäre. Im Hinblick auf die weiteren Ausführungen im Zulassungsvorbringen, wonach das im Bebauungsplan festgesetzte Maß der baulichen Nutzung in einem Austauschverhältnis stehe, ist bereits nicht dargelegt, dass durch das Vorhaben die im Bebauungsplan festgesetzten Maße, insbesondere die Grundflächenzahl bzw. Geschossflächenzahl, überschritten werden.
3. Die Berufung ist nicht wegen einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass das angefochtene Urteil mit einem seine Entscheidung tragenden, abstrakten Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz eines in der Vorschrift genannten Gerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Im Zulassungsantrag muss ein abstrakter Rechtssatz des angefochtenen Urteils herausgearbeitet werden und einem Rechtssatz des anderen Gerichts unter Darlegung der Abweichung gegenübergestellt werden. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge hingegen nicht (vgl. BVerwG, B.v. 20.4.2017 – 8 B 56.16 – juris Rn. 5; B.v. 18.5.1993 – 4 B 65.93 – NVwZ 1993, 1101), sodass eine Divergenz auf die vermeintlich unterbliebene Prüfung, ob den Festsetzungen des Bebauungsplans Drittschutz zukommt, nicht gestützt werden kann. Soweit gerügt wird, dass das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Erschließung entgegen obergerichtlicher Rechtsprechung nur auf das Vorhabengrundstück und nicht auf das konkrete Vorhaben abgestellt habe, trifft dies bereits im Ausgangspunkt nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat ebenso wie bereits der Senat im Rahmen der Entscheidung im Beschwerdeverfahren darauf abgestellt, dass ein Zu- oder Durchgang zum rückwärtigen Grundstücksteil besteht und die verkehrliche Erschließung somit ausreichend gesichert ist.
4. Auch die vom Kläger behaupteten Verfahrensfehler (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) liegen nicht vor bzw. sind nicht dargelegt. Der Bebauungsplan nebst Begründung wurde dem Verwaltungsgericht in Kopie bereits im Rahmen des Eilverfahrens mit Schriftsatz des Beklagten vom 6. September 2018 übermittelt und zu den Akten genommen, so dass der (wohl auf eine Verletzung der Aufklärungspflicht gem. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzielende) Einwand, dem Verwaltungsgericht habe der Bebauungsplan nicht vorgelegen, nicht zutrifft. Soweit die Kläger einen Verfahrensfehler darin sehen, dass das Verwaltungsgericht die Feststellungen, die anlässlich des Augenscheins getroffen wurden, nicht ausreichend gewürdigt habe, zeigt die Zulassungsbegründung keinen Verfahrensfehler auf, sondern wendet sich gegen die Sachverhaltswürdigung durch das Verwaltungsgericht.
5. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung geklärt werden muss. Mit dem Zulassungsantrag sind die einzelnen Voraussetzungen darzulegen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Die Kläger sehen es als grundsätzlich bedeutsam an, ob beim Maß der baulichen Nutzung der Entscheidungsspielraum der Verwaltung nach der Wannsee-Entscheidung durch Nachbarrechte begrenzt werde. Hierzu fehlt es dem Zulassungsvorbringen jedenfalls an der Darlegung eines Klärungsbedarfs.
Die Kläger haben als Gesamtschuldner die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, da sie sich im Zulassungsverfahren nicht geäußert haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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