Baurecht

Befreiung von der Baugrenze

Aktenzeichen  M 11 SN 16.5738

Datum:
27.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 2
BauNVO BauNVO § 12 Abs. 2, § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Mit Bescheid vom 17. November 2016 erteilte die Antragsgegnerin (Stadt F.) dem Beigeladenen für das Grundstück Fl.Nr. 407/39, Gemarkung …, die Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Stellplätzen.
Es wurde eine Befreiung für die Nichteinhaltung der östlichen Baugrenze (Festsetzung 2.2 des Bebauungsplans Nr. 35) erteilt. Durch die Aufweitung der Grundstücke Fl.Nr. 407/39 mit Fl.Nrn. 407/54 und 407/53 sowie Fl.Nr. 407/38 mit Fl.Nrn. 407/52 mit 407/51 sei ein Eingriff in den rückwärtigen Bereich zur Nachverdichtung der beschriebenen Flurstücke städtebaulich möglich. Des Weiteren werde die noch intakte und festgesetzte Durchgrünung in diesem Bereich nicht unterbrochen. Im rückwärtigen Bereich entstehe ein zweiter, nahezu profilgleicher Baukörper ohne den Maßstab der umliegenden Bebauung zu sprengen, da das festgesetzte Maß der baulichen Nutzung eingehalten werde. Von der Zahl der festgesetzten Wohnungen (6 anstatt 5 Wohneinheiten; Festsetzung 2.6) sowie von der Maßgabe, dass mindestens 2 Wohneinheiten „familiengerecht“ mit einer Wohnfläche von mindestens 80 m² auszubilden seien, sei befreit worden, da derzeit aufgrund der Wohnungsnot und der steigenden Mietpreise ein Bedarf an kleineren Wohnungen bestehe und das festgesetzte Maß der Nutzung eingehalten und die Stellplätze nachgewiesen werden konnten. Die Stellplatzanzahl erhöhe sich durch die 6 Wohneinheiten im Vergleich zu 5 Wohneinheiten mit über 80 m² Wohnfläche nicht. Je Wohneinheit bis 80 m² Wohnfläche seien 1 Stellplatz, darüber hinaus 2 Stellplätze nachzuweisen. Eine Veränderung des Gebietscharakters werde durch das Bauvorhaben nicht ausgelöst.
Weiterhin fordere die Fahrradabstellplatzsatzung, dass die Hälfte der erforderlichen Stellplätze überdacht sein müsste. Gemäß des einschlägigen Bebauungsplanes seien Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO nur innerhalb der überbaubaren Fläche zugelassen (Festsetzung 2.8). In Anbetracht dieser Prämissen seien die erforderlichen Befreiungen befürwortet worden, da hierdurch die Grundzüge der Planung nicht berührt würden und die Abweichungen städtebaulich vertretbar seien. Die Abstandsflächen zu den Nachbargrundstücken würden eingehalten und somit eine ausreichende Besonnung und Belichtung gewährleistet. Eine Betroffenheit nachbarschützender Belange sei nicht erkennbar.
Gegen den Bescheid wurde am … Dezember 2016 Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht München erhoben (M 11 K 16.5737).
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt:
Es werde gegen die Festsetzung des Bebauungsplanes hinsichtlich der Baugrenzen verstoßen. Eine Befreiung sei nicht erteilt worden. Das Vorhaben verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot. Es würden zu viele Wohneinheiten auf dem Grundstück entstehen. Nach dem Bebauungsplan seien lediglich 5 Wohneinheiten zulässig, neu würden aber 6 Wohneinheiten entstehen. Es wäre ein zusätzlicher Verkehr auf dem Grundstück zu erwarten; die Stellplätze wären nur 3 m von der Grundstücksgrenze zur Antragstellerin hin entfernt. Auf dem Grundstück würde eine unzureichende Zahl an Wohneinheiten entstehen, die „familiengerecht“ seien. Die Abstandsflächen würden nicht eingehalten.
Mit Schreiben vom 29. Dezember 2016 beantragte die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt sie aus:
Bereits mit Vorbescheid vom 3. August 2016 seien Befreiungen von den Festsetzungen der östlichen Baugrenzen erteilt worden. Die Baugrenzen würden Bezug auf die vorhandene Bebauung nehmen. Die Festsetzungen der Baugrenzen seien nicht nachbarschützend. Die Abstandsflächen seien eingehalten. Die Festsetzung von einer Wohneinheitszahl von 5 sei nicht nachbarschützend. Dies gelte auch für die Festsetzung, dass die Wohneinheiten „familiengerecht“, das heißt mit einer Wohnfläche von über 80 m², auszuführen seien. Hinsichtlich des Fahrradabstellplatzes, der überdacht sei, sei eine Befreiung außerhalb der überbaubaren Flächen erteilt worden.
Mit weiterem Schriftsatz vom … Februar 2017 trug die Bevollmächtigte der Antragstellerin vor:
In der entsprechenden Sitzung der Antragsgegnerin habe der zuständige Sachgebietsleiter mitgeteilt, dass ein Überschreiten der Baugrenze bereits in der Vergangenheit genehmigt worden und auf anderen Grundstücken bereits überschritten sei. Der Gebietscharakter würde sich verändern. Außerdem werde das Grundstück der Antragstellerin verschattet. Eine ausreichende Belüftung sei nicht mehr gegeben. Das Rücksichtnahmegebot werde verletzt. Das Grundstück der Antragstellerin werde „eingemauert“ und „erdrückt“. Nachbarschützende Belange seien bei den Befreiungen nicht beachtet worden. Außerdem sei keine ausreichende Nachbarbeteiligung erfolgt.
Am 25. Februar 2017 ging ein Schreiben der Tochter der Antragstellerin ein, in dem sie auf die Lärm- und Abgasbelästigung durch die Stellplätze verweist und den Sachvortrag der Bevollmächtigten vertieft.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und im Klageverfahren (M 11 K 16.5737) sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80a Abs. 3, Abs. 1, § 80 Abs. 5 VwGO bleibt ohne Erfolg.
Nach § 212 a BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Nachbarn gegen die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80 a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Nachbarn, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsmittels ergibt, dass diese sachlich nicht gerechtfertigt ist und letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber das Rechtsmittel offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich schon jetzt so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.7.1973, DVBl 74, 79/81; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.1991 – 14 CS 90.3166).
Die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichtsakten und der beigezogenen Akten der Antragsgegnerin ergibt, dass das Rechtsmittel der Antragstellerin in der Hauptsache aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird.
Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall, dass Nachbarn – wie sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt – eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Eine baurechtliche Nachbarklage kann allerdings auch dann Erfolg haben, wenn ein Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwGE 52, 122).
Die angefochtene Baugenehmigung verletzt nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich keines der von der Antragstellerin geltend gemachten, im Rahmen des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach Art. 59 BayBO zu beachtenden Nachbarrechte.
Insbesondere werden durch die Befreiungen hinsichtlich der Baugrenzen sowie der Zahl der festgesetzten Wohneinheiten und der familiengerechten Wohnflächen von mindestens 80 m² (Festsetzungen Nrn. 2.2, 2.6, 2.8, 4.1 des Bebauungsplanes Nr. 35 der Antragsgegnerin) keine nachbarschützenden Vorschriften des Bauplanungsrechtes verletzt.
Das Bauvorhaben der Beigeladenen ist bauplanungsrechtlich nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilen; Zweifel an der Wirksamkeit des einschlägigen Bebauungsplanes sind nicht ersichtlich und wurden auch nicht geltend gemacht.
Der Nachbarrechtsschutz bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes gemäß § 31 Abs. 2 BauGB hängt davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer erfolgten Befreiung von einer Festsetzung, die „nur“ dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebotes. Nachbarrechte werden in diesem Fall nur verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BVerwG, U. v. 19.9.1986 – BayVBl 1987, 151).
Vorliegend handelt es sich bei den Festsetzungen Nrn. 2.2, 2.6, 2.8 und 4.1 des Bebauungsplanes um nur im Interesse der Allgemeinheit getroffene Festsetzungen. Aus der Begründung des Bebauungsplanes ist nicht zu entnehmen, dass die Regelungen dem Nachbarschutz dienen sollen.
Es bestehen weiter keine Anhaltspunkte dafür, dass das genehmigte Vorhaben infolge der Befreiungen auf dem Grundstück der Antragstellerin unzumutbare Belästigungen oder Störungen verursachen könnte.
Eine Befreiung von den Baugrenzen dürfte hier wohl auch deshalb zulässig gewesen sein, da bereits auf dem Grundstück Fl.Nr. 407/50 die Baugrenze überschritten wurde. Es kommt daher nicht zu einer erstmaligen Bebauung in einem geschützten Gartenbereich.
Von der Bebauung des Grundstücks des Beigeladenen – die die Abstandsflächen zum Grundstück der Antragstellerin einhält – wird das Grundstück der Antragstellerin keinesfalls „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“.
Es liegt demnach kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 BauNVO vor.
Der Gebietscharakter als „Allgemeines Wohngebiet“ ändert sich auch nicht dadurch, dass nun statt 5 Wohneinheiten 6 Wohneinheiten gebaut werden.
Es werden auch nur so viele Stellplätze gebaut, wie für den durch die zugelassene Nutzung verursachten Bedarf zulässig sind (§ 12 Abs. 2 BauNVO). Dass durch die Stellplätze unzumutbarer Lärm oder unzumutbare Abgasbelästigungen entstehen, ist nicht zu erwarten.
Nach alledem war der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst, da er keinen Antrag gestellt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m dem Streitwertkatalog.


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