Baurecht

Befreiung von der Festsetzung der Art der Nutzung laut Bebauungsplan „Verkehrsfläche“ in „Kindertagesstätte“

Aktenzeichen  M 8 SN 16.841

Datum:
4.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 31 Abs. 2
BayBO BayBO Art. 60

 

Leitsatz

Eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans kommt nicht in Betracht, wenn die Befreiung die Grundzüge der Planung berührt. Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen (hier unzulässige Befreiung der Art der Nutzung “Verkehrsfläche” in “Kindertagesstätte”). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. Januar 2016, Plan-Nr. …, wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird auf 10.000,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin der Grundstücke …str. 13, 13 a, 13 b, Fl.Nr. …, …str. 13 c, Fl.Nr. …, …str. 13 d, Fl.Nr. … und der Fl.Nrn. … sowie …, Gemarkung …. Sie wendet sich gegen eine dem Baureferat der Antragsgegnerin am 21. Januar 2016 erteilten Baugenehmigung für den Neubau einer Kindertageseinrichtung mit 3 Kindergarten- und 2 Hortgruppen auf dem Grundstück …str. 9, Fl.Nr. …, Gemarkung …, das von den Grundstücken der Antragstellerin L-förmig im Südwesten und Südosten umgeben ist.
(Lageplan aufgrund Einscannens möglicherweise nicht mehr maßstabsgetreu.)
Am 1. September 2015 stellte das Referat für Bildung und Sport der Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung für den „Neubau einer Kindertageseinrichtung mit 3 Kindergarten- und 2 Hortgruppen mit Nebengebäude, Abbruch der Bestandscontainer“ auf dem Grundstück …str. 9, Fl.Nr. …, Gemarkung …. Vorgesehen ist hierbei ein dreiecksförmiger zweigeschossiger Baukörper mit einer abgerundeten Ecke im Nord-Osten und einer Länge von knapp 40 m im Westen entlang der …straße und im Südosten; im Südwesten – gegenüber der Bebauung der nordwestlichen Grundstücke der Antragstellerin – weist der Baukörper eine Länge von 21,99 m auf. Die in der Süd-West-Ecke des dreiecksförmigen Grundstücks Fl.Nr. … befindlichen Gebäudecontainer – bisherige Nutzung als Kindergarten – sollen abgebrochen werden. An deren bisherigem Standort und nordwestlich hiervon sind in einem Abstand zur südwestlichen Grundstücksgrenze von gut 13 m die Freiflächenspielbereiche vorgesehen.
Nach der Betriebsbeschreibung sollen in der Einrichtung 75 Kinder in 3 Gruppen von 3 – 6 Jahren und 2 Gruppen mit 50 Kindern im Alter von 6 – 10 Jahren betreut werden. Die Öffnungszeit ist in der Regel von Mo. – Fr. zwischen 7.00 Uhr und 17.30 Uhr. Hinzu kämen gelegentliche abendliche Veranstaltungen wie Elternabende, Informationsveranstaltungen sowie Feste und Feiern und Mitarbeiterbesprechungen. In der Sommerferienzeit ist die Einrichtung für ca. 3 Wochen geschlossen.
Dem Bauantrag war ein schalltechnisches Gutachten zur Überprüfung der Straßenlärmbelastung auf die geplante Kindertagesstätte vom 3. August 2015 beigefügt.
Die Zufahrt zur Kindertageseinrichtung erfolgt von der …straße aus und zwar nordöstlich des Gebäudes in einem Abstand von im Minimum 85 m von den Wohngebäuden der Antragstellerin im Südwesten. Auch die 10 Stellplätze für die Kindertageseinrichtung sind im nordöstlichen Teil des streitgegenständlichen Grundstücks in einem entsprechenden Abstand vorgesehen.
Für die Grundstücke Fl.Nrn. … und das hiervon südöstlich gelegene Grundstück Fl.Nr. … sieht der Bebauungsplan Nr. …, rechtsverbindlich seit dem 29. Juni 1969, „öffentliche Parkfläche“ vor.
Mit Bescheid vom 21. Juni 2016 genehmigte die Antragsgegnerin den Bauantrag vom 1. September 2015 nach Plan-Nr. … mit Handeinträgen vom 15. Januar 2016 befristet auf eine Laufzeit von 25 Jahren als Sonderbau. Die Baugenehmigung vom 21. Januar 2016 sah neben diversen Auflagen Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB für einen Teilbereich des Bebauungsplanbereichs Nr. … von der festgesetzten Art der Nutzung „P-öffentliche Parkfläche“ für eine Kindertagesstätte mit 3 Kindergarten- und 2 Hortgruppen, für eine 0,50 m breite und 4 m hohe Lärmschutzwand angrenzend an die Ostfassade des Hauptgebäudes als östliche Abgrenzung der Außenspielfläche, sowie für eine 2 m hohe lärmabweisende Gartenmauer südwestlich des Hauptgebäudes im Anschluss an den Küchengarten sowie für ein Gerätehaus eine Mülltonnenanlage und eine Fahrradabstellfläche und für die Freiflächen als Kinderspielflächen für die Kindertagesstätten (Befreiungen Ziff. a – d) vor.
Begründet wurden die Befreiungen damit, dass die geplante Nutzung zwar die Grundlagen der Planung tangiere; aufgrund sorgfältiger Vorprüfungen könnten im Rahmen der Ausbauoffensive/Bauprogramm 2014 Gründe des Wohls der Allgemeinheit für die beantragte Nutzung im beantragten Teilbereich geltend gemacht werden. Die Nutzung bleibe eine Nutzung von öffentlichem Belang. Die Abweichung sei überdies städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Zudem sei die Nutzung nur befristet genehmigt. Die Lärmschutzwände seien – wie ein schalltechnisches Gutachten belege – in dieser Höhe und Länge erforderlich, um die notwendige Lärmabschottung und damit die qualitativ notwendigen Anforderungen an die von den Kindern genutzten Außenspielflächen der Kindertagesstätte erfüllen zu können. Die 2 m hohe Gartenmauer sei funktional begründet und städtebaulich vertretbar. Die 4 m hohe Mauer erfülle in ihrer durchdetaillierten Gestaltung als Holzkonstruktion mit integrierten Spielmöglichkeiten auch Spielfunktionen und sei städtebaulich an dieser Stelle vertretbar. Sie rücke auf 2,16 m an das südöstliche Nachbargrundstück Fl.Nr. … heran und bedürfe einer bauordnungsrechtlichen Abweichung (s. u. unter Kapitel „Abweichungen“). Im Sinne des § 31 BauGB sei sie auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
Entgegen diesem Verweis unter das Kapitel „Abweichungen“ wurden zwar eine Reihe brandschutztechnischer Abweichungen (Ziff. a – f), nicht jedoch eine Abweichung wegen der Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen erteilt.
Die Baugenehmigung vom 21. Januar 2016 wurde der Antragstellerin mit Postzustellungsurkunde am 25. Januar 2016 zugestellt.
Mit einem am gleichen Tage beim Verwaltungsgericht München eingegangenen Schriftsatz vom 22. Februar 2016 erhoben die Bevollmächtigten der Antragstellerin Klage gegen den Bescheid vom 21. Januar 2016 (M 8 K 16.840).
Gleichzeitig beantragten sie gemäß §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO,
die aufschiebende Wirkung der Drittanfechtungsklage anzuordnen.
Zur Begründung wurde für Klage und Antrag ausgeführt:
Die Baugenehmigung vom 21. Januar 2016 verstoße gegen die Festsetzungen des vor Ort geltenden Bebauungsplanes Nr. …. Die gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erteilte Befreiung sei rechtswidrig, da hierbei die nachbarlichen Interessen, denen ein gewisser Vorrang einzuräumen sei, da Vertrauen auf den Bestand der durch die Festsetzungen des Bebauungsplanes gekennzeichneten Rechtslage bestanden habe, nicht angemessen berücksichtigt worden seien. Die Umgebung des Vorhabens sei dicht mit Wohnraum bebaut; diese Wohnhäuser hätten aufgrund ihres Alters auch keine Tiefgaragen, weshalb eine prekäre Parkplatzsituation im streitgegenständlichen Gebiet bestehe, die durch das nur in etwa 5 Minuten fußläufiger Entfernung befindliche … Stadion noch verschärft würde. Die Anwohner seien auf die gegenwärtig in der …str. 9 gelegenen 60 Parkplätze dringend angewiesen. Ohne diese Parkplätze könnten viele der Mieter der Antragstellerin kein Auto mehr halten; die Wohnungen der Antragstellerin würden dadurch unattraktiver und im Ergebnis weniger wert. Die erteilte Baugenehmigung stelle somit einen enteignungsgleichen Eingriff dar. Die Antragsgegnerin erkenne das Problem und räume in der Begründung des Baubescheides ein, dass durch die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes die Grundlagen der Planung berührt seien. Allerdings sei eine Genehmigung über 25 Jahre keineswegs mit einer vorübergehenden Beeinträchtigung gleichzusetzen, weshalb die Begründung, dass die Abweichung „städtebaulich vertretbar sei“ floskelhaft und inhaltslos sei. Die Bewohner des Gebietes würden mehrheitlich nicht so lange leben, dass sie das Ende der Befristung mitbekämen. Ein Abwägungsvorgang habe nicht stattgefunden; es werde auf das bestehende Parkplatzproblem, das hierdurch erheblich vergrößert werde, an keiner Stelle eingegangen. Es sei nicht dargelegt, weshalb die Interessen der Anwohner, ihre Autos so wie bisher auf einem öffentlichen Parkplatz abzustellen, weniger schützenswert seien, als das Interesse der Stadt an einem Umbau des vorhandenen Kindergartens. Gerade für ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen entstünden massive Probleme, wenn sie ihre Autos nicht mehr in der Nähe ihrer Wohnung nutzen könnten. Der öffentliche Nutzen sei dagegen überaus gering; das Grundstück werde seit Jahren mittels Provisorium als Kindergarten genutzt. Der nun vorgesehene Aus-/Umbau schaffe kaum zusätzliche Kapazitäten; er vergrößere nur das Gebäude erheblich.
Durch die beabsichtigte Nutzung würden auch Lärmemissionen entstehen, die die zulässigen Toleranzen eines Wohngebietes bei Weitem überstiegen. Von einem Kindergarten der geplanten Größe ginge jedenfalls wesentlich mehr Lärm aus als von einem Parkplatz. Die Mietshäuser der Antragstellerin würden den geplanten Kindergarten L-förmig umgeben, weshalb die Lärmbelästigungen die Mieter dauerhaft zu Mietminderungen berechtigen würden. Der Lärm aufgrund der stark befahrenen umliegenden Straßen (…straße, …straße), addiert mit dem zusätzlichen Kinderschrei, ließe eine gesunde, normale Wohnnutzung nicht mehr zu. Die in einer Entfernung von nur 2,16 m zum südöstlichen Nachbargrundstück geplante Wand in Höhe von 4 m verstoße gegen Abstandsflächenrecht. Der hierzu erteilte Dispens sei jedoch nur floskelhaft begründet.
Mit Schreiben vom 3. März 2016 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde unter Darstellung der Vorgeschichte des Bebauungsplanes Nr. … ausgeführt, dass die hier getroffene Festsetzung „öffentliche Park- und Verkehrsfläche“ nicht nachbarschützend sei. Die relevanten nachbarlichen Interessen seien hinreichend berücksichtigt worden. Die Nachbarn hätten keinen Anspruch darauf, dass Parkmöglichkeiten auf öffentlichen Straßen und Plätzen unmittelbar bei ihrem Grundstück oder in dessen angemessener Nähe eingerichtet würden oder erhalten blieben. Insoweit bestehe keine eigentumsrechtlich gewährleistete Position der Antragstellerin. Derartige öffentliche Parkmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe zur Wohnung gehörten auch nicht zum grundrechtlich gesicherten Anliegergebrauch. Wertminderungen als Folge der Nutzung eines anderen Grundstücks könnten für sich genommen keinen Maßstab für die Zulässigkeit eines Vorhabens bilden.
Geräuscheinwirkungen, die von einer Kindertagesstätte durch Kinder hervorgerufen würden, seien nach § 22 Abs. 1 a Satz 1 BImSchG keine unzumutbare Belästigung im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Es liege auch kein Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht vor. Die 4 m hohe Schallschutzwand verlaufe vertikal zum Grundstück der Antragstellerin und habe entlang ihrer Schmalseite keine Abstandsflächen einzuhalten. Der Bescheid sei insoweit unsauber, als er bei der Befreiung zur Schallschutzwand noch eine Abweichung erwähne; dieser Passus sei versehentlich nicht aus dem Bescheid entfernt worden.
Mit Schreiben vom 24. März 2016 hat die Antragsgegnerin auf eine entsprechende Anforderung des Gerichts hin den Bebauungsplan Nr. … vom 25. September 1968 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie das schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten im Einzelnen verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung sprechen überwiegende Gründe dafür, dass das mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugelassene Bauvorhaben in bauplanungsrechtlicher Hinsicht gegen drittschützende Rechte der Antragstellerin verstößt (Art. 60 Abs. 1 Bayerische Bauordnung – BayBO, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Nach § 212a Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Legt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung eine Anfechtungsklage ein, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen.
Bei einem Antrag gem. § 80a Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 80 Rn. 146; Schmidt in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2013, § 80 Rn. 71). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht alleiniges Indiz zu berücksichtigen (Schmidt a. a. O., § 80 Rn. 73 f.). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich erfolgreich sein, so wird im Regelfall die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich der angefochtene Bescheid dagegen bei summarischer Prüfung als rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung.
2. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung sprechen überwiegende Gründe dafür, dass das mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung als Sonderbau zugelassene Bauvorhaben in bauplanungsrechtlicher Hinsicht gegen drittschützende Rechte der Antragstellerin verstößt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind ( Art. 60 BayBO, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind und im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (BayVGH B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
3. Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich vorliegend nach § 30 Abs. 3 BauGB. Für den Bereich des streitgegenständlichen Grundstücks und des Grundstücks Fl.Nr. … der Antragstellerin gilt der Bebauungsplan Nr. … der Antragsgegnerin vom 25. September 1968. Dieser Bebauungsplan legt für den 3,2 ha großen Bereich zwischen …straße im Nordwesten und dem …bach im Südosten südlich der …straße „Verkehrsfläche“ fest. Abgesehen von der Aufhebung verschiedener Baulinien, Straßenbegrenzungslinien und einer Baugrenze im Osten des Bereichs sowie der Festsetzung einer Straßenbegrenzungslinie an der Südgrenze des Umgriffs – mit Ausnahme der Öffnung dieses Bereichs nach Süden hin zur Straße „…leiten“ und der …straße – sowie der Festsetzung einer Baulinie und einer Baugrenze im Nordwesten enthält der Bebauungsplan Nr. … über die Verkehrsflächenfestsetzung hinaus keine weiteren Festsetzungen. Er ist demnach als einfacher Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 3 BauGB zu bewerten, da ihm die für einen qualifizierten Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB notwendigen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen fehlen.
3.1 Inwieweit sich die Zulässigkeit des Vorhabens gemäß § 30 Abs. 3 BauGB im Übrigen nach § 34 oder nach § 35 BauGB richtet, kann vorliegend offenbleiben, da dies für den hier zu beurteilenden Nachbareilantrag bzw. die zugrunde liegende Nachbarklage keine Rolle spielt.
3.2 Für das Eilverfahren ist dabei ohne vertiefte Prüfung von der Wirksamkeit des Bebauungsplanes auszugehen (BayVGH, B.v. 16.10.2006 – 15 CS 06.2184 – juris). Es wäre mit dem Wesen eines Eilverfahrens, das eine zügige Entscheidung erfordert, nicht zu vereinbaren, wenn das Gericht eine umfassende inzidente Normenkontrolle eines Bebauungsplanes vornehmen müsste. Im Eilverfahren können daher lediglich Mängel berücksichtigt werden, die nach Lage der Akten evident sind und sich aufdrängen. Der Bebauungsplan müsste also unter einem offensichtlichen Mangel leiden, der – ebenso offensichtlich – nach den Vorschriften über die Planerhaltung auch beachtlich wäre.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Der Bebauungsplan setzt als Art der Nutzung für den gesamten Umgriff durch eine farbliche Markierung – beige – „öffentliche Verkehrsfläche“ fest, wobei die Aufschrift „P“ diese als öffentliche Parkfläche ausweist. Hierbei ist es unschädlich, dass sich der Buchstabe „P“ nur einmal im östlichen und einmal im westlichen Bereich des Umgriffs findet, da aus dem Bebauungsplan und seiner Begründung klar erkennbar ist, dass – abgesehen von der öffentlichen Verkehrsfläche „…straße“, die auch als solche bezeichnet ist – der restliche Bereich als Parkfläche genutzt werden soll. Insoweit ist es auch unschädlich, dass die genaue Ausgestaltung hinsichtlich etwaiger Zufahrtswege zu den Parkflächen noch nicht im Bebauungsplan im Detail festgelegt wurde. Eine Unbestimmtheit der Festsetzung ergibt sich daraus jedenfalls nicht.
3.3 Der Bebauungsplan Nr. … ist auch nicht inzwischen funktionslos geworden.
Die Annahme der Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen oder des gesamten Bebauungsplanes kommt zum einen in Betracht, wenn sich die bauliche Entwicklung in dem Gebiet in erheblichem Umfang im Widerspruch zu den planerischen Festsetzungen vollzogen hat. Zu fordern ist für diesen Fall allerdings, dass die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan eine städtebauliche Gestaltungsfunktion im Sinne von § 1 Abs. 3 BauGB nicht mehr zu erfüllen vermag. Es ist danach darauf abzustellen, ob die Festsetzungen – unabhängig davon, ob sie in Teilen des Plangebietes noch durchsetzbar wären – bei einer Gesamtbetrachtung doch die Fähigkeit verloren haben, die städtebauliche Entwicklung in der durch das planerische Konzept vorgegebenen Richtung zu steuern (vgl. BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – BauR 2004, 1128 – zur Festsetzung von Baulinien in einem übergeleiteten Bebauungsplan aus den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts).
Eine Funktionslosigkeit kann aber nicht nur eintreten, wenn die Bebauung von den planerischen Vorgaben wesentlich abweicht, sondern im Einzelfall auch dann, wenn sich die Sach- und Rechtslage nachträglich so verändert hat, dass ein Planvollzug auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen erscheint. Zwar treten Bebauungspläne nicht kraft Gesetzes allein durch Zeitablauf außer Kraft. Ein Bebauungsplan ist nach § 1 Abs. 3 BauGB aber nur erforderlich, wenn mit dessen Umsetzung realistischer Weise in einem je nach den Umständen zu bestimmenden Zeithorizont gerechnet werden kann. Ist danach zum Zeitpunkt des Planerlasses eine Erforderlichkeit zu bejahen, treten aber später Umstände auf, die einer Verwirklichung der Planung auf Dauer entgegenstehen, so liegt der Schluss nahe, die Funktionslosigkeit in einem solchen Falle nach denselben Maßstäben zu beurteilen (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 14.6.2007 – 4 BN 21/07 – BRS 71 Nr. 3 und B.v. 22.7.2010 – 4 B 22/10 – DVBl 2010, 1374 – zu einer aufgegebenen Straßenplanung).
Der Bebauungsplan wurde 1968 mit der Absicht erlassen, Parkplätze – auch für das Stadion an der … Straße – zu schaffen.
Eine Umsetzung der Gesamtplanung ist zwar bis heute nicht erfolgt. Jedoch wird jedenfalls der östliche Teil des Bebauungsplan-Gebietes – östlich der …straße – weitgehend als Parkplatz genutzt – mit Ausnahme des Bereichs, in dem der Kindergartencontainer aufgestellt ist. Auch der Bereich östlich des Grundstücks der Antragstellerin, Fl.Nr. …, bis zur nordöstlichen Verlängerung der Straße …leiten ist – wie sich aus dem Luftbild aus dem BayernAtlas Plus ergibt – nahezu vollständig versiegelt und als Parkfläche geeignet. Der Bebauungsplan Nr. … ist daher jedenfalls in dem maßgeblichen Bereich, in dem sowohl das streitgegenständliche Grundstück als auch das Grundstück der Antragstellerin liegen, nicht funktionslos geworden; vielmehr kann die festgesetzte Nutzung ohne weitere Maßnahmen ausgeübt werden, soweit diese nicht ohnehin tatsächlich erfolgt.
4. Es sprechen überwiegende Gründe dafür, dass die in der angefochtenen Baugenehmigung ausgesprochene Befreiung von der Festsetzung der Art der Nutzung des Bebauungsplanes Nr. … mangels Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen rechtswidrig ist und dass dies auch zu einer Rechtsverletzung der Antragstellerin führt.
4.1 Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern
oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist
oder
3. die Durchführung des Bebauungsplanes zu einer offensichtlich nicht beabsichtigten Härte führen würde
und
wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Hinsichtlich des Nachbarschutzes im Rahmen von § 31 Abs. 2 BauGB ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder von nicht drittschützenden Festsetzungen. Wird von einer drittschützenden Festsetzung befreit, ist auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin in vollem Umfang nachzuprüfen, ob die objektiven Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen. Es kommt also nicht nur darauf an, ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, sondern auch darauf, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind (BVerwG v. 8.7.1998, BayVBl 1999, 26; BayVGH v. 24.3.2009 a. a. O.).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung – wie vorliegend die Art der Nutzung „Verkehrs- bzw. Parkfläche“ – uneingeschränkt nachbarschützend (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91; U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94; B.v. 18.12.2007 – 4 B 55.07; B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13 – alle juris).
4.2 Die ausgesprochene Befreiung wäre damit nur dann gerechtfertigt, wenn die Befreiungsvoraussetzungen insgesamt vorlägen. Dies ist indes nicht der Fall, da die Befreiung die Grundzüge der Planung berührt.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf – jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind – nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, B.v. 5.3.1999 BauR 1999, 1280). Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen. Bezogen auf dieses Wollen darf der Abweichung vom Planinhalt keine derartige Bedeutung zukommen, dass die angestrebte und im Plan zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird. Es muss – mit anderen Worten – angenommen werden können, die Abweichung liege noch im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Abweichung gekannt hätte (BVerwG, U.v. 4.8.2009 – 4 CN 4/08 – juris, Rn. 12 und DVBl 2009, 1379).
Gemessen an diesen Vorgaben betrifft die ausgesprochene Befreiung einen Grundzug der Planung.
Eine Befreiung von einer Festsetzung bezüglich der Art der baulichen Nutzung greift grundsätzlich tiefer in das Interessengeflecht eines Bebauungsplanes ein, als Befreiungen von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung oder auch zur überbaubaren Grundstücksfläche. Die Festsetzung der Gebietsart beinhaltet grundsätzlich einen tragenden Bestandteil des Bebauungsplanes, der im Befreiungsfall jedenfalls dann gefährdet erscheint – und somit die Grundzüge der Planung berührt werden – wenn damit die Gefahr des Beginns der Verfremdung des Baugebiets besteht.
Vorliegend betrifft die Befreiung von der Festsetzung „Verkehrsfläche“ gut ein Viertel des gesamten Planbereichs des Bebauungsplanes Nr. …. Sie ist daher auch nicht von minderem Gewicht in dem Sinne, dass nur eine vom Plangeber nicht bedachte, die Umsetzung des Bebauungsplanes nicht gefährdende Nutzungsvariante im Raume stünde. Vielmehr dient sie offenkundig dazu, die von der Plangeberin in diesem Teilbereich nicht mehr gewünschte planerische Regelung beiseite zu schieben, mit der Konsequenz, dass auch der restliche Bereich des Bebauungsplanes für abweichende Nutzungen offen ist.
Dementsprechend geht auch die Antragsgegnerin im Bescheid vom 21. Januar 2016 bei der unter Ziff. a erteilten Befreiung von der festgesetzten Art der Nutzung davon aus, dass „die Grundlagen der Planung zwar tangiert“ seien. Anders als diese im Bescheid getroffene Überlegung trifft die Folgeüberlegung, dass eine zulässige Kompensation dadurch erfolge, dass die Nutzung eine von öffentlichem Belang bleibe, städtebaulich vertretbar und auch nur befristet genehmigt sei, nicht zu. Das Fehlen der – grundsätzlichen – Tatbestandsvoraussetzung für die Erteilung einer Befreiung kann nicht dadurch überwunden werden, dass eine oder mehrere, weitere Voraussetzung(en) der Nrn. 1 – 3 des § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen.
4.3 Die Klägerin kann sich als Eigentümerin eines Grundstücks im Plangebiet auch auf das Fehlen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Befreiung berufen.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des südöstlich des streitgegenständlichen Grundstücks gelegenen Grundstücks Fl.Nr. … Dies ergibt sich aus dem von der Antragstellerin vorgelegten Grundbuchauszug und dem amtlichen Lageplan, in dem die Antragstellerin hier unter anderem als Eigentümerin des im Bebauungsplan-Umgriff liegenden und an das streitgegenständliche Grundstück angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. … angeführt ist.
Die Ausführung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 3. März 2016 hinsichtlich des Fehlens eines gebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruches treffen zwar auf die ebenfalls im Eigentum der Antragstellerin stehenden Grundstücke Fl.Nrn. …, … und … – …str. 13 – 13 d – zu, nicht aber auf das Grundstück Fl.Nr. …
Die Rechtsverletzung der Antragstellerin setzt auch nicht voraus, dass diese durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird (BVerwG, U.v. 16.9.1993 und 23.8.1996 sowie B.v. 18.12.2007 und 27.8.2013, a. a. O.). Vielmehr kann diese die Rechtsverletzung mit Erfolg auch geltend machen, wenn eine schutzniveauverschlechternde Entwicklung gar nicht eintreten kann (BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 23/98 – juris Rn. 14).
Da die Befreiung aufgrund des Fehlens der Tatbestandsvoraussetzung dementsprechend objektiv rechtswidrig ist und sich die Antragstellerin auch auf die objektive Rechtswidrigkeit berufen kann, kommt es auf die von den Beteiligten als wesentlich angesehene Frage der Verletzung des Rücksichtnahmegebotes durch die streitgegenständliche Nutzung gegenüber den außerhalb des Bebauungsplangebietes liegenden Grundstücken der Antragstellerin nicht an.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Ziff. 9.7.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben