Baurecht

Befreiung von örtlichen Gestaltungsvorschriften in einem Bebauungsplan

Aktenzeichen  M 1 K 18.2308

Datum:
7.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 37325
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 63, Art. 81 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. § 31 BauGB gilt auch entsprechend für den Fall, dass örtliche Bauvorschriften durch Bebauungsplan erlassen werden. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Maßstäbe für das Außerkrafttreten von Festsetzungen wegen Funktionslosigkeit können auch für gestalterische Satzungsbestimmungen in einem Bebauungsplan herangezogen werden. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht vorher der Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten, dass dieser ermessensfehlerfrei über den Antrag auf Erteilung einer Befreiung für die Errichtung einer Gartenmauer entscheidet; der ablehnende Bescheid vom 16. April 2018 erweist sich vielmehr als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5, Abs. 1 VwGO).
I. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor, weil das Vorhaben des Klägers gegen die Grundzüge der Planung verstößt.
1. § 31 Abs. 2 BauGB ist die zutreffende Rechtsgrundlage für die Erteilung der in Rede stehenden Abweichung.
a) Das Vorhaben des Klägers bedarf grundsätzlich einer Befreiung, weil es gegen § 11 der Satzung über den Bebauungsplan Nr. 3 „…-O.“ verstößt. Nach dieser Vorschrift dürfen nur Einfriedungen von höchstens 1 m errichtet werden, die nach bestimmten Maßgaben gestaltet werden müssen: die Einfriedungen sind aus senkrechten und gekreuzten Lattenzäunen herzustellen, wonach der senkrechte Zwischenpfosten hinter der durchgehenden Einzäunung zu liegen hat, sodass die Pfosten durch die Latten verdeckt werden. Ferner sind Natursteinsäulen, die nicht verdeckt werden, zulässig; dabei muss der Säulenabstand zwischen 3 und 3,50 m betragen. Die vom Kläger beabsichtigte Einfriedung des Klägers überschreitet zwar nicht die zulässige Höhe von 1 m. Sie steht jedoch gestalterisch nicht im Einklang mit der Regelung, weil sie in Stahlbetonbauweise mit einer durchgehenden Höhe von 0,60 m errichtet werden soll. Hierauf sollen in Abständen Pfeiler mit einer maximalen Höhe von jeweils 0,40 m errichtet werden.
b) Es bedarf hierfür einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, ungeachtet der Tatsache, dass die Satzungsbestimmung ihrer Natur nach keine planungsrechtliche, sondern eine ortsgestalterische Vorschrift ist. Denn gemäß Art. 81 Abs. 2 Satz 2 BayBO sind die dort genannten Vorschriften des Baugesetzbuches, unter anderem auch § 31 BauGB, entsprechend für den Fall anzuwenden, dass – wie hier – örtliche Bauvorschriften durch Bebauungsplan erlassen werden (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, 142. EL Mai 2021, Art. 81 Rn. 282).
2. Der beklagte Markt ist für den geltend gemachten Anspruch der richtige Antragsgegner und damit passivlegitimiert. Die Zuständigkeit der Gemeinde – und nicht der unteren Bauaufsichtsbehörde – folgt aus Art. 63 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 BayBO i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB, weil es sich bei der beabsichtigten Einfriedung bis 2 m Höhe um ein nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a BayBO verfahrensfreies Vorhaben handelt.
3. Soweit die Klagepartei mit ihrem Vortrag, es fänden sich in der Umgebung zahlreiche Fälle von Einfriedungen, die die Vorgaben des Bebauungsplans nicht einhielten, damit meint, dass die Satzungsbestimmungen funktionslos geworden sind, verhilft dies der Klage nicht zum Erfolg.
a) Wollte man aus den von der Klagepartei so genannten Bezugsfällen ableiten, dass die Satzungsbestimmungen zu den Einfriedungen nachträglich funktionslos geworden sind, so bestünde der mit der Klage geltend gemachte Anspruch nicht. Denn von einer funktionslos gewordenen Bestimmung kann keine Befreiung erteilt werden, und ebenso wenig kann eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über Erteilung derselben beansprucht werden.
b) Im Übrigen sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Satzungsbestimmungen zu den Einfriedungen tatsächlich funktionslos geworden sind.
Eine Festsetzung tritt nach den strengen Anforderungen der Rechtsprechung wegen Funktionslosigkeit erst dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt. Für die Bewertung der Funktionslosigkeit ist nicht isoliert auf einzelne Grundstücke abzustellen, und es spielt auch keine Rolle, ob über längere Zeit von dem Plan abgewichen wurde und mittlerweile Verhältnisse entstanden sind, die den Festsetzungen des Plans nicht entsprechen. Entscheidend für die Beurteilung einer Funktionslosigkeit ist vielmehr, ob eine Festsetzung noch geeignet ist, im ihrem Geltungsbereich einen sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB zu leisten (vgl. BVerwG, U.v. 6.4.2016 – 4 CN 3/15 – juris Rn. 6; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben, die auch für gestalterische Satzungsbestimmungen herangezogen werden können (vgl. BVerwG, B.v. 22.7.2013 – 7 BN 1/13 – juris Rn. 6 zu einer Gartenabfallentsorgungsverordnung), sind die hier in Rede stehenden Vorschriften über die Gestaltung der Einfriedungen nicht funktionslos geworden. Die Verwirklichung der Vorschriften ist nicht auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen, und diese sind weiterhin geeignet, einen sinnvollen Beitrag zur Gestaltung des Ortsbildes des Beklagten zu leisten. Auch wenn es Fälle von Einfriedungen im Plangebiet gibt, die mit den gestalterischen Vorgaben nicht übereinstimmen, verhält es sich so, dass wenige Ausreißer in einem größeren Planumgriff ohnehin nicht dazu geeignet sind, eine Funktionslosigkeit zu begründen. Zum anderen ist nach Angaben des Beklagten, die auch von der Klagepartei nicht in Zweifel gezogen wurden, in keinem der genannten Fälle ein legalisierender Akt in Form einer Baugenehmigung oder einer Befreiung erteilt worden; vielmehr äußert der Beklagte, dass er die aus seiner Sicht bestehenden Missstände aufarbeiten wolle und nach Ende dieses Rechtsstreits hierfür gegebenenfalls auf die untere Bauaufsichtsbehörde zugehen wolle. Angesichts der dann inmitten stehenden bauaufsichtlichen Möglichkeiten ist eine Verwirklichung der Gestaltungsvorschriften nicht auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen, zumal sich die Beseitigung von Einfriedungen als eine technisch wenig aufwendige Angelegenheit darstellt.
4. Dem Vorhaben des Klägers kann keine Befreiung von der Vorschrift des § 11 der Satzung erteilt werden, weil damit die Grundzüge der Planung berührt würden.
Von den Festsetzungen eines Bebauungsplans kann nach § 31 Abs. 2 BauGB befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3), und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
a) Die Bestimmungen über die äußere Gestaltung der Einfriedungen stellen einen Grundzug der Planung in Form einer Grundsatzentscheidung des Satzungsgebers dar, der vom Vorhaben berührt wird.
Der Markt trifft in § 11 seiner Satzung differenzierte Vorgaben zu zulässigen Einfriedungen, und zwar zum einen über die zu verwendenden Baustoffe, nämlich Latten oder Natursteinsäulen. Zum anderen wird deren Anordnung vorgegeben: bei Verwendung von Latten müssen die Pfosten verdeckt werden, bei Natursteinsäulen müssen diese ferner einen gewissen Abstand zueinander einhalten. Der Beklagte hat mit der expliziten Bestimmung einen positiven Planungswillen geäußert. Er zielt nach eigenen Angaben auf ein einheitliches äußeres Erscheinungsbild des Ortsteils ab, das geprägt sein soll von einer offenen Bauweise und einem voralpenländischen, dörflichen Charakter. Mit den Bestimmungen soll erkennbar auch eine Einmauerung der Grundstücke, die seitens des Beklagten als unerwünscht städtisch empfunden würde, verhindert und stattdessen für eine optische Durchlässigkeit gesorgt werden. Damit verfügt der Satzungsgeber über ein Gestaltungskonzept, das er den getroffenen Regelungen zugrunde legt. Dieses ist auch im Kontext mit weiteren Satzungsbestimmungen konsequent und nachvollziehbar. Im Sinne der beabsichtigten Offenheit der Bebauung und gegen das Entstehen des Einmauerungseffekts stehen auch die Begrenzung der zulässigen Einfriedungshöhe auf höchstens 1 m sowie die Vorgabe, dass auch eine Hinterpflanzung der Einfriedungen diese Höhe nicht überschreiten darf (§ 11 der Satzung), ferner der Ausschluss weiterer Nebenanlagen auf den Grundstücken (§ 5 der Satzung). Diesem gestalterischen Konzept stehen Einfriedungen mit einem durchgehenden Betonsockel entgegen, die einen Einmauerungseffekt hätten; ferner entspricht das Verwenden von Beton statt der genannten Naturmaterialen nicht der expliziten Gestaltungsvorstellung des Beklagten in Form eines von ihr so bezeichneten voralpenländischen Stils.
b) Der Annahme eines Grundzuges der Planung kann nicht der Einwand der Klagepartei entgegengehalten werden, dass es in der Umgebung zahlreiche abweichende Einfriedungen gebe. Zwar kann eine entsprechende Befreiungspraxis einen Anhaltspunkt für den Schluss bieten, dass die jeweilige Bestimmung nicht zu den tragenden Erwägungen der Planung gehört und damit eventuelle Abweichungen dem planerischen Grundkonzept nicht entgegenstehen (vgl. etwa BayVGH, B.v. 14.7.2016 – 1 ZB 15.443 – juris Rn. 6). Hier liegen aber gerade keine Fälle von legalisierten Satzungsabweichungen vor.
c) Die Voraussetzungen für eine Abweichung nach bauordnungsrechtlichen Bestimmungen, namentlich nach Art. 63 Abs. 1 BayBO, sind ebenfalls nicht gegeben. Die geplante Einfriedung des Klägers würde auch gegen den Zweck der Gestaltungsvorgaben verstoßen und wäre nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Es kann auf die obige Begründung den Grundzügen der Planung verwiesen werden. Deshalb braucht nicht erörtert zu werden, inwieweit bei der Anwendung von § 31 Abs. 2 BauGB zur Befreiung von örtlichen Bauvorschriften auf die inhaltlichen Kriterien einer Abweichung nach Bauordnungsrecht zurückzugreifen ist (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2012 – 15 B 11.801 – Rn. 23 m.w.N.).
II. Da also schon der Tatbestand der Befreiungsnorm nicht erfüllt ist, kann die Klage auf ermessensfehlerfreie Entscheidung keinen Erfolg haben.
Auf die Vereinbarkeit der Einfriedung mit anderen Vorschriften wie etwa der gemeindlichen Gestaltungssatzung und straßenrechtlicher Regelungen zur Einhaltung von Sichtdreiecken kommt es mithin nicht an.
III. Die Kammer weist nach Durchsicht der in der mündlichen Verhandlung übergebenen Normaufstellungsakten darauf hin, dass darin ein ausgefertigtes Exemplar der Satzung zu dem Bebauungsplan Nr. 3 „…-O.“ nicht enthalten ist. Es liegt lediglich ein ausgefertigtes Exemplar des Bebauungsplans selbst vor. Die Kammer konnte jedoch davon absehen, dem weiter nachzugehen, weil die Klage auch dann ohne Erfolg bleibt, wenn die Satzung mangels Ausfertigung unwirksam ist. Es gilt hierzu sinngemäß das unter oben I.3.a. Gesagte, dass von einer unwirksamen Satzungsbestimmung keine Befreiung erteilt werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, wonach der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens trägt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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