Baurecht

Befreiungsanspruch (verneint), Innenbereich, Überbaubare Grundstücksfläche, Faktische Baugrenze, Maßgeblicher Bereich für die prägende Bebauungstiefe

Aktenzeichen  M 8 K 19.3921, M 8 K 19.3922

Datum:
12.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10238
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Gründe

Das Gericht konnte gemäß § 93 VwGO die beiden anhängigen Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung verbinden, da die beiden Streitgegenstände im Zusammenhang stehen (vgl. zu den Voraussetzungen des § 93 VwGO: Rennert in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auflage 2019, § 93 Rn. 2).
Die zulässigen Klagen haben in der Sache keinen Erfolg.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erteilung der von ihr beantragten Baugenehmigungen (Pl.Nr. … und …) noch einen Anspruch auf Neuverbescheidung ihrer Bauanträge vom 18. Oktober 2018 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Die Ablehnung der Bauanträge mit Bescheiden vom 11. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Das mit getrennten Bauanträgen (für jede Doppelhaushälfte gesondert) zur Genehmigung gestellte Doppelhaus als Gesamtvorhaben (im Folgenden: Bauvorhaben) entspricht nicht den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die vorliegend gemäß Art. 59 BayBO im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Denn das Bauvorhaben ist jedenfalls bauplanungsrechtlich unzulässig (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO). Es kann dahinstehen, ob dem Vorhaben schon die rückwärtige Baugrenze des übergeleiteten Baulinienplans entgegengehalten werden kann (1.). Selbst wenn die Baugrenze wegen ihrer Funktionslosigkeit unbeachtlich wäre, wäre das Bauvorhaben nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig, da es sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die maßgebliche Umgebung einfügt (2.).
1. Das Gericht lässt offen, ob sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens im Sinne von Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO vorliegend im Hinblick auf das vorhandene, gemäß § 173 Abs. 3 Bundesbaugesetz (BBauG) und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitete Bauliniengefüge des Bebauungsplans nach § 30 Abs. 3 BauGB oder allein nach § 34 BauGB bemisst. Die Frage der Wirksamkeit der mit dem Bebauungsplan festgesetzten Baugrenze im rückwärtigen Bereich bedarf keiner Entscheidung, nachdem sich das Bauvorhaben im Fall der Unwirksamkeit der festgesetzten rückwärtigen Baugrenze hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche auch nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Sofern die im Bereich des Baugrundstücks vorhandene rückwärtige Baugrenze wirksam ist, weil sie weiterhin ihre städtebauliche Ordnungsfunktion erfüllt und diese nicht aufgrund der tatsächlichen Entwicklung der rückwärtigen Bebauung eingebüßt hat (1.1), scheidet eine Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens auch im Wege der Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB aus (1.2).
1.1 Eine bauplanerische Festsetzung – auch eine solche eines nach § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleiteten Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 3, 4; B.v. 24.4.1998 – 4 B 46.98 – juris Rn. 7; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14) – tritt wegen Funktionslosigkeit nur dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der ihre Verwirklichung aus objektiver Sicht auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (grundlegend BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Leitsatz und Rn. 35; vgl. auch BVerwG, U.v. 17.6.1993 – 4 C 7/91 – juris Rn. 19; U.v. 18.5.1995 – 4 C 20/94 – juris Rn. 18; B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6/97 – juris Rn. 10; U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – juris Rn. 16, 22; B.v. 29.5.2001 – 4 B 33/01 – juris Rn. 5; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 11.9.2013 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14; B.v. 25.9.2013 – 15 ZB 11.2302 – juris Rn. 7; B.v. 13.2.2014 – 9 CS 13.2143 – juris Rn. 14; jüngst BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 2 ZB 17.548 – Umdruck Rn. 5). Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung überhaupt noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen bzw. sinnvollen Beitrag zu leisten (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6/97 – juris Rn. 10; U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – juris Rn. 22; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 11.9.2013 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14; vgl. BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 2 ZB 17.548 – Umdruck Rn. 5). Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Dies setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6/97 – juris Rn. 10; U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – juris Rn. 22; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8). Die Voraussetzungen für eine Funktionslosigkeit sind für jede Festsetzung des Bebauungsplans getrennt zu prüfen (BayVGH, B.v. 12.3.2018 – 1 ZB 16.1144 – juris Rn. 8).
1.2 Geht man davon aus, dass die rückwärtige Baugrenze weiterhin dazu dienen kann, die städtebauliche Entwicklung zu steuern sowie die ihr zugedachte städtebauliche Gestaltungsfunktion zu erfüllen und daher die vorgenannten Voraussetzungen für eine Funktionslosigkeit der Festsetzung nicht gegeben wären, scheidet die Erteilung einer Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB für das vollständig außerhalb der rückwärtigen Baugrenze geplante Gebäude schon tatbestandlich aus, da die Grundzüge der Planung i.S.v. § 31 Abs. 2 Halbs. 1 BauGB berührt sind.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Die Grundzüge der Planung werden durch die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption gebildet (vgl. BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30). Entscheidend ist insofern, ob die Befreiung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30; VGH Mannheim, U.v. 15.9.2016 – 5 S 114/14 – juris Rn. 36; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 31 Rn. 29).
Bei der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze im streitgegenständlichen Bebauungsplan handelt es sich um einen Grundzug der Planung. Der Bebauungsplan setzt in seinem für das streitgegenständliche Bauvorhaben relevanten Teilbereich des Plangebiets (zur Maßgeblichkeit desselben vgl. VGH Mannheim, U.v. 15.9.2016 – 5 S 114/14 – juris Rn. 37) neben der Straßenbegrenzungslinie vordere Baulinien und rückwärtige Baugrenzen fest. Die damit einhergehende Bestimmung eines straßennahen Bauraums dient – im Sinne eines planerischen Grundkonzepts – erkennbar dazu, eine Bebauung mit beschränkter Tiefe in dem Geviert, hier entlang der …straße, der …straße und der …straße zu ermöglichen und gleichzeitig das Geviertsinnere von einer Bebauung freizuhalten. Dieses Ziel bildet das einzige mit dem Bebauungsplan erkennbar verfolgte Regelungskonzept und damit das zentrale Anliegen des Bebauungsplans.
Dieser Grundzug der Planung würde durch eine Befreiung berührt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass, je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher der Schluss auf eine Änderung in der Planungskonzeption naheliegt, die nur im Wege der (Um-)Planung durch den jeweiligen Träger der Planungshoheit und unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange gemäß §§ 3 f. BauGB möglich ist. Die Grundzüge der Planung sind somit nur dann nicht berührt, wenn die Befreiung geringes Gewicht besitzt, sodass sie noch von dem im jeweiligen Plan zum Ausdruck gekommenen planerischen Willen der Gemeinde umfasst ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37). Von einer Änderung geringen Gewichts kann vorliegend jedoch angesichts der Situierung des geplanten Bauvorhabens – das, anders als die im rückwärtigen Bereich nach dem Augenschein feststellbaren Nebenanlagen, eine eigenständige Hauptanlage darstellt – vollständig außerhalb des vom Bebauungsplan festgesetzten Bauraums und aufgrund des damit verbundenen Maßes der Überschreitung der hinteren Baugrenze, nicht gesprochen werden. Das nach der planerischen Konzeption verfolgte Ziel der Freihaltung des Geviertsinneren von Bebauung würde im Fall der Erteilung der vorliegend notwendigen Befreiung massiv verletzt. Sie würde zudem Vorbildwirkung für andere Grundstücke entfalten. Denn die Gründe, die für eine solche Befreiung tragend wären, ließen sich für fast alle Grundstücke im vorliegend maßgeblichen Teilbereich des Plangebiets des Bebauungsplans anführen. Die Befreiung darf indes nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3). Letztendlich würde die Bejahung des Befreiungsanspruchs aufgrund der Bezugnahmen zum Verlust der städtebaulichen Ordnungsfunktion der rückwärtigen Baugrenze und damit auf Dauer zu ihrer Funktionslosigkeit führen.
2. Das Bauvorhaben wäre auch im Falle der Unwirksamkeit des Bebauungsplans und einer Beurteilung allein nach § 34 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig, da es sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Es soll vollständig hinter einer durch die Bebauung mit Hauptbaukörpern östlich der …straße gebildeten faktischen Baugrenze errichtet werden (2.1) und hielte sich auch bei einer Betrachtung der maximalen Bebauungstiefe nicht im Rahmen der maßgeblichen Umgebungsbebauung (2.2). Die Überschreitung dieses Rahmens führt zu städtebaulichen Spannungen (2.3).
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils nur zulässig, wenn es sich auch hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ausnahmsweise kann auch ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben zulässig sein, wenn es trotz der Überschreitung keine bodenrechtlich beachtlichen, städtebaulichen Spannungen hervorruft (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369/386 f.).
2.1 Das Bauvorhaben fügt sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die maßgebliche Umgebung ein, da es eine faktische rückwärtige Baugrenze überschreitet.
Zur Konkretisierung der Anforderungen zur überbaubaren Grundstücksfläche kann im unbeplanten Innenbereich auf die Vorschrift des § 23 BauNVO als Auslegungshilfe zurückgegriffen werden (BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 8 m.w.N.). Nach § 23 Abs. 3 BauNVO dürfen Gebäude und Gebäudeteile eine bestehende Baugrenze nicht überschreiten. Eine faktische Baugrenze, die dazu führt, dass der jenseits dieser Grenze liegende Bereich von Bebauung freizuhalten ist, muss sich deutlich aus der Umgebungsbebauung ablesen lassen. Die Feststellung einer solchen Grenze verlangt hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation. Die vorhandene Bebauung bzw. eine hieraus folgende Baugrenze darf kein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein (BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 12 m.w.N.).
2.1.1 Welcher Bereich für das in Rede stehende Merkmal der überbaubaren Grundstücksfläche als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, wie weit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BayVGH, U.v. 7.3.2011 – 1 B 10.3042 – juris Rn. 22). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die „nähere Umgebung“ ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – juris Rn. 79). Bei der überbaubaren Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Art der baulichen Nutzung, weil die Prägung, die von der für die Bestimmung der überbaubaren Grundstücksfläche maßgeblichen Stellung der Gebäude auf den Grundstücken ausgeht, im Allgemeinen deutlich weniger weit reicht, als die Wirkungen der Art der baulichen Nutzung. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass nur wenige unter Umständen sogar nur zwei Grundstücke den maßgeblichen Rahmen bilden (BayVGH, B.v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 20; U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 20).
Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben ist für eine hier in Betracht zu ziehende, die überbaubare Grundstücksfläche beschränkende, faktische Baugrenze entlang einer Straße nur die Bebauung auf der jeweiligen Straßenseite maßgeblich. Nach den Ergebnissen des gerichtlichen Augenscheins besteht im vorliegenden Fall von dem Anwesen …straße 2 im Süden bis zum Anwesen …straße 16 im Norden eine abgrenzbare städtebauliche Struktur in Form einer einzeiligen Bebauung, die von der …straße erschlossen wird. Diese Gebäude bilden einen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche einheitlich zu betrachtenden Bereich, da sie jeweils unmittelbar an die …straße anschließen und eine gleichförmige Bebauungsstruktur aufweisen. Es handelt sich jeweils um Wohngebäude geringer Höhe und vergleichbarer Kubatur, die sich im Wesentlichen an der entlang der …straße festgesetzten Baulinie orientieren. Der genannte Bereich ist vor allem auch durch umfangreiche rückwärtige Gartenbereiche gekennzeichnet, die der Bebauungszeile ein gemeinsames Gepräge verleihen. Dies gilt auch für den südlichen Bereich. Obwohl bei dem Anwesen …straße 2 nach dem Lageplan ein geringerer Gartenanteil bezogen auf das Buchgrundstück vorhanden ist, wirkt auch dieses Grundstück aufgrund des hieran anschließenden Gartens des Grundstücks FlNr. … nach dem Eindruck des Augenscheins als Grundstück mit einem umfangreichen rückwärtigen Gartenanteil.
2.1.2 Bei Betrachtung dieses Bereichs lässt sich eine faktische Baugrenze im hinteren Grundstücksbereich erkennen, deren Struktur durch die östlichen Gebäudeabschlusswände der Anwesen …straße 2 bis 16 (gerade Zahlen) vorgegeben wird. Wie sich schon dem in den Bauantragsunterlagen befindlichen amtlichen Lageplan und der dort verzeichneten rückwärtigen Baugrenze des Bebauungsplans entnehmen lässt, ist die einheitliche Struktur kein bloßes Zufallsprodukt, sondern Ausdruck einer verfestigten städtebaulichen Situation. Letztlich leitet sich die beschriebene faktische rückwärtige Baugrenze aus dem für den Bereich vorgesehenen Bauliniengefüge ab. Die im Bebauungsplan festgesetzte rückwärtige Baugrenze wird zwar bei mehreren Grundstücken nicht mehr eingehalten. Gleichwohl wird diese jeweils nur von Teilen der Hauptgebäude überschritten, ohne dass selbstständige Hauptbaukörper außerhalb der festgesetzten rückwärtigen Baugrenze festzustellen sind. Es handelt bei der Bebauung entlang der Ostseite der …straße um eine einheitliche Bebauungszeile, die weitgehend der straßenseitig festgesetzten Baulinie folgt und daher eine gemeinsame Flucht aufweist. Im rückwärtigen Bereich ist die durch den Bebauungsplan vorgesehene Baugrenze infolge der unterschiedlichen Baukörpergrößen nach Osten zum Teil überschritten worden, gleichwohl aber weiterhin als städtebauliche Struktur ablesbar. Die Grenze, die nicht mit Hauptgebäuden überschritten werden darf (faktische Baugrenze) wird nunmehr durch die östlichen Gebäudeaußenwände der Anwesen …straße 8 und 10/10 a beschrieben. Östlich dieser Hauptgebäude besteht nach dem Eindruck, den die Kammer im Augenschein gewonnen hat, ein ausgedehnter einheitlicher Grünzug, der von der Süd-Ostgrenze des Grundstücks FlNr. … (…straße 2) im Süden bis zu den Anwesen …straße 18 bis 24 im Norden reicht. Der Bereich wird einheitlich durch die zu den Gebäuden der Bebauungszeile gehörenden Hausgärten genutzt und erscheint so als zusammenhängende Fläche. Auch aufgrund seiner erheblichen räumlichen Ausdehnung unterscheidet er sich deutlich von der mit geringen seitlichen Gebäudeabständen bebauten einzeiligen Wohnbebauung östlich der …straße und verstärkt den Eindruck des Bestehens einer klaren Grenze zum bebauten Bereich.
Dieser Eindruck wird auch nicht dadurch geschmälert, dass im Bereich der Hausgärten die dort regelmäßig zu findenden Nebenanlagen vorhanden sind. Eine Hauptanlage, wie das Bauvorhaben, fügt sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht deshalb ein, weil in dem fraglichen Bereich Nebenanlagen vorhanden sind. Diese sind, wie die erleichterte Zulassungsmöglichkeit nach § 23 Abs. 5 BauNVO zeigt, nicht mit Hauptanlagen vergleichbar (vgl. BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – juris Rn. 6). Nach dem Ergebnis des Augenscheins sind auch die von der Klägerin explizit genannten Nebenanlagen in den Hausgärten weder von ihrem Umfang noch von ihrer Nutzung mit Hauptanlagen gleichzusetzen. Die zum Teil vorhandenen verschiebbaren Überdachungen von (Frei-)Schwimmbädern sind sowohl aufgrund ihrer geringen Höhe als auch ihrer Transparenz in ihrer optischen Wirkung nicht mit den vorhandenen Wohngebäuden vergleichbar. Die übrigen in den Hausgärten beim Augenschein festgestellten Anlagen sind kleinere Gartenhäuser oder Gewächshäuser ohne besonderes bauliches Gewicht. Die auch im amtlichen Lageplan an der Nordseite des Grundstücks FlNr. … erkennbare Nebenanlage ist ebenfalls lediglich eingeschossig mit Pultdach und offenbar als Werkstatt nur als Annex zur Wohnnutzung genutzt.
Die Annahme einer faktischen Baugrenze wird auch nicht dadurch infrage gestellt, dass die Gebäude an der Ostseite der …straße unterschiedlich weit nach Osten reichen und die Gebäudeaußenwände im Osten nicht auf einer Linie stehen. Die Bebauung gibt hier keine faktische Baulinie (vgl. § 23 Abs. 2 Satz 1 BauNVO), sondern lediglich eine faktische rückwärtige Baugrenze vor, die die äußerste Grenze festlegt bis zu der Gebäude oder Gebäudeteile errichtet werden dürfen (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO). Dementsprechend reicht es angesichts der vorbeschriebenen einheitlichen Bebauungsstruktur aus, wenn die vorhandene Bebauung eine Maximalgrenze der rückwärtigen Bebauung beschreibt. Einer einheitlichen Bebauungstiefe des gesamten Bereichs bedarf es hingegen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 12 f.). Es genügt daher, dass neben der einheitlichen Struktur der Bebauung östlich der …straße durchgängig eine Bebauungstiefe nicht überschritten wird, die hier durch die Gebäude …straße 10/10a und 8 mit ca. 26 m erreicht wird.
2.2 Das Vorhaben würde sich auch dann nicht nach der überbaubaren Grundstücksfläche die maßgebliche Umgebung einfügen, wenn hier keine faktische Baugrenze angenommen würde, sondern mit der Argumentation der Klägerin die für das Baugrundstück nach der prägenden Umgebung maßgebliche Bebauungstiefe die überbaubare Grundstücksfläche bestimmen würde.
Die Bebauungstiefe beschreibt die überbaubare Grundstücksfläche, anders als die faktische Baugrenze durch ein festes Maß der maximalen Entfernung von der Erschließungsstraße. Sie ist regelmäßig von der jeweiligen Erschließungsstraße aus zu bemessen (vgl. BVerwG, B.v. 12.8.2019 – 4 B 1.19 – juris Rn. 6; B.v. 16.6.2009 – 4 B 50/08 – juris Rn. 4; VG München, U.v. 3.7.2017 – M 8 K 16.3153 – juris Rn. 60; B.v. 6.4.2017 – M 8 SN 17.676 – juris Rn. 93). Der für das Baugrundstück prägende Bereich für dieses Einfügensmerkmal wäre hier nicht anders zu begrenzen als bereits vorstehend unter Nr. 2.1.1 ausgeführt. Für das Baugrundstück als Teil der Bebauung östlich der …straße ergibt sich somit kein anderes Ergebnis, da die maximale Bebauungstiefe durch die Anwesen …straße 8 und 10/10a vorgegeben wird und diese von dem streitgegenständlichen Vorhaben deutlich überschritten würde.
Entgegen der Auffassung der Klägerin lässt sich die Bebauungstiefe der Anwesen …straße 21 a und 23 nach dem Ergebnis des Augenscheins nicht auf das Bauvorhaben übertragen. Zwar ist es dem Grunde nach möglich, dass auch die Bebauungstiefen der gegenüberliegenden Straßenseiten in einem Geviert – etwa aufgrund der Verzahnung der gegenüberliegenden Bebauungszeilen ineinander – sich gegenseitig prägen und die Bebauungstiefe einer Straßenseite auf die gegenüberliegende Straßenseite übertragen werden kann. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.
Die sich für das Anwesen …straße 23 ergebende Bebauungstiefe von 53 m, gemessen ab der …straße, wirkt nicht mehr prägend auf das Baugrundstück. Wie bereits ausgeführt, ist der rückwärtige Bereich des Baugrundstücks Teil eines zusammenhängenden begrünten Bereichs, der ein einheitliches Erscheinungsbild aufweist und im Wesentlichen durch die Hausgärten der Bebauung östlich der …straße gebildet wird. Nach dem Ergebnis des Augenscheins ist bei der Perspektive vom Baugrundstück mit der Blickrichtung nach Norden in erster Linie eine zusammenhängende begrünte Fläche zu erkennen. Zwar ist von diesem Standort auch das Anwesen …straße 21 a zu sehen, es erscheint jedoch aufgrund der Entfernung von mehr als 30 m von der Grenze des Baugrundstücks und wegen des dazwischenliegenden Grünbereichs als randständige Bebauung dieses Grünbereichs. Die Gebäude …straße 21 a und 23 begrenzen optisch die Freifläche nach Nord-Westen, ohne in diese Freifläche hineinzuwirken. Die beiden Gebäude sind daher nicht in der Lage, das Baugrundstück hinsichtlich seiner Bebauungstiefe zu prägen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass sich die Bebauung von Süden nach Norden dreiecksförmig aufweitet. Nachdem die Hausgärten der Anwesen …straße 6/6a bis …straße 14 eine wachsende Tiefe aufweisen, büßt die Freifläche trotz der in zweiter Reihe liegenden Gebäude …straße 21a und …straße 23 in ihrer Breite optisch nichts ein. Sie stellt trotz dieser Gebäude eine Trennung zwischen den bebauten Bereichen an der …straße und der …straße dar, die selbst an der engsten Stelle im Bereich zwischen den Anwesen …straße 10 a und …straße 21a mindestens 40 m beträgt. Eine einheitliche Betrachtung der gegenüberliegenden Bebauungsbereiche ist daher nicht möglich. Nicht entscheidend ist dabei, dass die beiden Bebauungsbereiche nicht durch eine Straße getrennt werden. Der Grenzverlauf der näheren Umgebung ist nicht davon abhängig, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennlinie (Straße, Schienenstrang, Gewässerlauf, Geländekante etc.) entkoppelt ist. Eine solche Linie hat nicht stets eine trennende Funktion (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74.03 – juris Rn. 2; BVerwG, B.v. 10.6.1991 – BVerwG 4 B 88.91 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 143). Umgekehrt führt ihr Fehlen nicht dazu, dass benachbarte Bebauungen stets als miteinander verzahnt anzusehen sind und insgesamt die nähere Umgebung ausmachen (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74.03 – a.a.O.). Vielmehr ist hier zusätzlich zu berücksichtigen, dass bei dem Einfügensmerkmal der überbaubaren Grundstücksfläche in der Regel ein kleinerer Umgriff zu wählen ist (BayVGH, B.v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 20).
2.3 Das Bauvorhaben, das sich nach den vorstehenden Ausführungen nicht mehr in den Rahmen der prägenden Umgebung einfügt, würde aufgrund seiner Vorbildwirkung zu städtebaulichen Spannungen führen und ist deshalb bauplanungsrechtlich unzulässig.
Die Überschreitung des durch die Umgebung gesetzten Rahmens führt zwar nicht unbedingt, wohl aber im Regelfall zur Unzulässigkeit des Vorhabens. Denn eine Überschreitung des von der Bebauung bisher eingehaltenen Rahmens zieht in der Regel die Gefahr nach sich, dass der gegebene Zustand in negativer Hinsicht in Bewegung und damit in Unordnung gebracht wird (BVerwG, U.v. 15.12.1994 – 4 C 13.93 – juris Rn. 21). Allerdings kann die Frage, ob eine solche Entwicklung zu befürchten ist, nur unter Berücksichtigung der konkreten Eigenart der näheren Umgebung und der konkreten Umstände, die Spannungen hervorrufen können, beantwortet werden. Die abstrakte und nur entfernt gegebene Möglichkeit, dass ein Vorhaben Konflikte im Hinblick auf die Nutzung benachbarter Grundstücke auslöst, schließt die Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB nicht aus (BVerwG v. 15.12.1994 a.a.O.). Bei einer Überschreitung des Rahmens kommt es darauf an, ob die gegebene Situation verschlechtert, gestört, belastet oder in Bewegung gebracht wird (BVerwG v. 15.12.1994 a.a.O.). Bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen werden begründet oder erhöht, wenn das Bauvorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen. Hierfür reicht die mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens für andere Bauvorhaben auf Nachbargrundstücken in vergleichbarer Lage aus (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Im Fall der Zulassung des Bauvorhabens würde die bestehende faktische Baugrenze weiter nach Osten verschoben und sich eine neue Bebauungstiefe entlang der …straße ergeben. Dies würde dazu führen, dass auch bei den übrigen Grundstücken östlich der …straße, nördlich an das Baugrundstück anschließend eine Bebauung jenseits der faktischen Baugrenze mit Hauptbaukörpern zugelassen werden müsste, da sich insoweit der Rahmen für die überbaubare Grundstücksfläche verändern würde. Angesichts dieser Vorbildwirkung ließe sich die derzeit vorhandene städtebauliche Struktur in Form einer einzeiligen Bebauung entlang der …straße nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr wäre das Entstehen einer durchgehenden zweizeiligen Bebauung östlich der …straße zu erwarten und der dort bestehende Grünzug verloren gehen. Eine solche Entwicklung würde städtebauliche Spannungen mit sich bringen, da die Hinterliegerbebauung und der Verlust der Freiflächen eine städtebaulich neue Situation entstehen ließe, ohne dass die Entwicklung bauleitplanerisch geordnet wird (§ 1 Abs. 3 BauGB).
Die Klagen waren nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO iVm §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben