Baurecht

Beseitigungsanordnung einer Glaseinhausung samt Überdachung, kein Einfügen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche, bodenrechtliche Spannungen

Aktenzeichen  W 4 K 20.82

Datum:
7.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42424
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 76 S. 1
BauGB § 34
BauNVO § 23
BauNVO § 14

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierauf im Rahmen des Augenscheintermins verzichtet haben (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Das Gericht geht dabei davon aus, dass sich die Klage nur insoweit gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2019 richtet, als sich die darin enthaltenen Verfügungen gegen den Kläger richten (§ 88 VwGO). Der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2019 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die hier streitgegenständliche Beseitigungsanordnung wurde auf Art. 76 Satz 1 BayBO gestützt. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde dann, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
2. Die Beseitigungsanordnung ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde der Kläger vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids mit Schreiben der Beklagten vom 14. November 2019 ordnungsgemäß angehört.
3. Die Beseitigungsanordnung ist auch materiell rechtmäßig.
Die errichtete Glaseinhausung samt Überdachung, bei der es sich zweifelsfrei um eine bauliche Anlage handelt (vgl. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayBO), steht in Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften.
3.1. Denn die hier streitgegenständliche Anlage ist bereits formell baurechtswidrig.
Gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO bedürfen die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von baulichen Anlagen grundsätzlich der Baugenehmigung.
Die hier errichtete Glaseinhausung samt Abdeckung ist insbesondere nicht verfahrensfrei im Sinne des Art. 57 BayBO. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Markisenabdeckung baulich fest mit der Glaseinhausung verbunden ist. Denn die entsprechenden Schienen, in denen die Markisenabschnitte geführt werden, sind auf der Glaseinhausung abgestützt und mit dieser fest verbaut (vgl. hierzu insbesondere die Lichtbilder auf Seite 68, 69 und 73 der Gerichtsakte). Berücksichtigt man zudem die Größe der abgedeckten Fläche (14,5 m x 2,5 m), ist auch nicht davon auszugehen, dass die Markise ohne die Glaseinhausung für sich genommen standhalten würde bzw. funktionstauglich wäre. Die Glaseinhausung samt der Markisenabdeckung sind unter Berücksichtigung der vor Ort vorgefundenen Umstände somit als einheitliches Vorhaben zu bewerten.
Dementsprechend liegt hier auch keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g) BayBO vor, da es sich vorliegend nicht nur um eine Terrassenüberdachung, sondern eine Glaseinhausung mit Überdachung handelt. Die vom Kläger errichtete Anlange ist auch nicht nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a) BayBO verfahrensfrei, da es sich dabei eben nicht nur um eine Einfriedung im Sinne dieser Vorschrift handelt. Auch ein Fall des Art. Art. 57 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. d) BayBO ist hier nicht gegeben, da es sich vorliegend nicht um eine Freischankfläche handelt. Mit dem errichteten Vorhaben wurde vielmehr im Grunde ein weiterer Raum für die Gaststätte des Klägers geschaffen. Schließlich liegt auch keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. g) BayBO vor, weil vorliegend nicht nur eine Markise errichtet wurde, sondern ein gebäudeähnlicher Raum.
Da das vom Kläger errichtete Vorhaben somit gem. Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtig ist, eine Baugenehmigung aber nicht vorliegt, ist die errichtete Anlage bereits formell baurechtswidrig.
3.2. Die errichtete Anlage ist darüber hinaus auch materiell baurechtswidrig, da sie sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die nähere Umgebung einfügt.
3.2.1. Maßgeblich für die bauplanungsrechtliche Beurteilung der bereits errichteten baulichen Anlage des Klägers ist hier § 34 BauGB, da das Baugrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt, ein Bebauungsplan aber nicht vorliegt. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils zulässig, wenn es sich hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es hinsichtlich dieser vier Kriterien innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Auch ein den Rahmen überschreitendes Bauwerk kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn es trotz der Überschreitung keine städtebaulichen Spannungen hervorruft (vgl. nur BVerwG, U.v. 26.5.1978 – BVerwGE 55, 369 ff.).
3.2.2. Als nähere Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB ist dabei der Bereich anzusehen, innerhalb dessen sich einerseits das Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369 ff., BayVGH, U.v. 24.11.2010 – 9 B 10.363 – juris m.w.N.). Die Grenzen sind dabei nicht schematisch, sondern nach der jeweiligen städtebaulichen Situation zu bestimmen. Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der Merkmale des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB gesondert zu ermitteln, weil die wechselseitige Prägung unterschiedlich weit reichen kann.
Hinsichtlich der hier allein streitigen überbaubaren Grundstücksfläche ist bezüglich der näheren Umgebung nach den im Augenschein gewonnenen Erkenntnissen auf den Bereich nördlich der N H1. Straße, zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, abzustellen. Denn innerhalb dieses Bereichs kann sich das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung auswirken und wirkt sich andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend aus. Dagegen ist der Bereich nördlicher der N H1. Straße, der westlich der N …-H H2. Straße liegt, nicht mehr in die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB einzubeziehen, da dort die einheitliche Häuserfront weiter von der N H1. Straße zurückweicht und zudem der Bereich dort zwischen der N H1. Straße und der nördlich davon gelegenen Häuserfront mit einer B.allee versehen ist (vgl. hierzu insbesondere das untere Bild auf Seite 68 und das obere Bild auf Seite 69 der Gerichtsakte, S. 3 der Behördenakte sowie entsprechende Karten und Luftbilder des Bayern Atlas). Der Bereich westlich der N …-H H2. Straße ist damit mit dem Bereich zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, in dem das Baugrundstück liegt, nicht vergleichbar.
3.2.3. Unter Berücksichtigung der im Rahmen des Augenscheins gewonnen Erkenntnisse lässt die vorhandene Bebauung in der hier maßgeblichen Umgebung eine faktische Baulinie entlang der N H1. Straße erkennen. Diese wird durch die bereits errichte Anlage des Klägers auf einer Länge von 14,5 m um 2,5 m überschritten. Die vom Kläger errichtete Anlage fügt sich damit nicht in die nähere Umgebung ein.
Hierfür sprechen auch die rechtlichen Wertungen in § 23 Abs. 2 Satz 2 und § 23 Abs. 5 BauNVO, die im Rahmen der Beurteilung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB herangezogen werden können (vgl. hierzu etwa BVerwG, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50/08 – ZfBR 2009, 693; BayVGH, B.v. 25.4.2005 – 1 CS 04.3461 – juris Rn. 16). Von einem Vortreten in nur geringfügigem Ausmaß (vgl. § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO) kann bei einer Überschreitung der der faktischen Baulinie von 2,5 m auf einer Länge von 14,5 m nach Überzeugung des Gerichts keine Rede sein. Darüber hinaus handelt es sich bei der vom Kläger errichten Glaseinhausung samt Überdachung auch nicht um eine Nebenanlage im Sinne des § 14 i.V.m. § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO. Denn der damit geschaffene Raum dient ersichtlich der Gaststätte des Klägers und ist als Erweiterung des Gaststättenraumes anzusehen, wie der Augenschein ergeben hat, und kann daher auch nicht als Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO angesehen werden (vgl. zu einem ähnlichen Fall BVerwG, B.v. 13.6.2005 – 4 B 27.05 – ZfBR 2005, 698). Schließlich wäre das errichtete Vorhaben auch nicht nach Art. 6 Abs. 9 BayBO in der bis zum 31. Januar 2021 geltenden Fassung bzw. Art. 6 Abs. 7 BayBO der geltenden Fassung zulässig, so dass auch die Wertung des § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO gegen ein Einfügen des Vorhabens in die nähere Umgebung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche spricht.
3.2.4. Die Anlage ruft aufgrund seiner negativen Vorbildwirkung schließlich auch bodenrechtliche Spannungen hervor.
Solche bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhaben die vorhandene Situation im bauplanungsrechtlich relevante Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen (vgl. hierzu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.9.2010 – 4 C 7.10 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 212 Rn. 23; BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 16 ff.). Hierfür reicht die mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens, die ein Bedürfnis nach planerischer Gestaltung auslösen kann (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148 Band, 290 bis 297, Rn 17).
Von baulichen Anlagen freie Bereiche vor einer Häuserfront sind ein das Orts- und Straßenbild mitbestimmendes städtebauliches Element. Die bauliche Anlage des Klägers bildet den ersten Ansatzpunkt für eine Beeinträchtigung der durch dieses Element geprägten Bebauung entlang der Nordseite der N H1. Straße im hier maßgeblichen Abschnitt und begründet damit eine negative Vorbildwirkung für weitere Beeinträchtigungen. Aus diesem Grund ruft das Vorhaben des Klägers städtebauliche Spannungen hervor. Das errichtete Vorhaben des Klägers ist damit auch materiell baurechtswidrig.
3.3. Die Anlage ist unter Berücksichtigung der gemachten Ausführungen zur materiellen Baurechtswidrigkeit (siehe oben unter 3.2.) auch nicht genehmigungsfähig, so dass auch nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände herbeigeführt werden. Ergänzend wird insoweit auf die Entscheidungsgründe im Urteil des erkennenden Gerichts vom selben Tag im Verfahren W 4 K 20.435 Bezug genommen.
3.4. Die Beseitigungsanordnung lässt unter Berücksichtigung von § 114 VwGO schließlich auch keine Ermessensfehler erkennen.
Die Beklagte hat den Kläger als Handlungsstörer in Anspruch genommen. Rechtsfehler sind diesbezüglich weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch sonst sind keine Ermessensfehler erkennbar. Insbesondere ist der Vortrag des Klägers, er benötige die Glaseinhausung als Lärmschutz ersichtlich nur vorgeschoben. Wäre es dem Kläger allein um den Lärmschutz für seine Gaststätte gegangen, so hätte es nahegelegen, einfach die im Hauptgebäude befindlichen Fenster auszutauschen. Der vom Kläger gewählte Weg lässt dagegen nur den Schluss zu, dass es dem Kläger weniger oder jedenfalls nicht primär um Lärmschutz, sondern um die räumliche Erweiterung seiner Gaststätte ging.
Darüber hinaus liegt auch keine gleichheitswidrige Behandlung vor, wie der Kläger vorträgt. Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 118 Abs. 1 Satz 1 BV verbieten, Ungleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln. Unter Berücksichtigung der im Augenschein gewonnenen Erkenntnisse liegt aber bereits keine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte vor. Denn in der hier maßgeblichen näheren Umgebung, also im Bereich nördlich der N H1. Straße, zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, liegt keine derartig massive Überschreitung der überbaubaren Grundstücksgrenzen durch ein gebäudeähnliches Vorhaben vor. Vor dem etwas weiter westlich gelegenen Eiscafé (N H1. Straße ) besteht lediglich eine deutlich weniger tiefe Terrassenfläche aus Holz mit einer nur an der Hauswand befestigten Markise darüber. Diese Anlage ist daher mit der raum- bzw. gebäudeähnlichen Anlage des Klägers nicht vergleichbar. Gleiches gilt bezügliches des Wintergartens einer etwas weiter östlich gelegenen Eisdiele (N H1. Straße ), der deutlich weniger weit über die faktische Baulinie hinausreicht und sich damit unter Berücksichtigung der rechtlichen Wertung des § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO noch einfügt. Soweit der Kläger weitere Bezugsfälle anführt, die westlich der N …-H H2. Straße gelegen sind, befinden sich diese nicht innerhalb der hier maßgeblichen näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, so dass eine Ungleichbehandlung schon aus diesem Grund nicht vorliegen kann.
Die von der Beklagten getroffenen Ermessensentscheidung ist unter Berücksichtigung der Maßgaben des § 114 Satz 1 VwGO daher rechtlich nicht zu beanstanden.
4. Schließlich bestehen auch gegen die Zwangsgeldandrohung und die Kostenentscheidung keine rechtlichen Bedenken. Zwar ist die Frist zur Beseitigung der hier streitgegenständlichen baulichen Anlage mittlerweile abgelaufen, ohne dass der Kläger der Beseitigungsverpflichtung bisher nachkommen brauchte, da die hier erhobene Klage Suspensiveffekt hat (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO). Damit ist die Zwangsgeldandrohung aber nicht rechtswidrig, sondern nur gegenstandslos geworden (vgl. BayVGH, B.v. 21.8.2006 – 24 CS 06.1945 – juris Rn. 85). Daher muss die Beklagte für die (zwangsweise) Durchsetzung der Beseitigungsanordnung ggf. eine erneute Zwangsgeldandrohung mit verhältnismäßiger Frist aussprechen.
Rechtsfehler hinsichtlich der unter Ziffer IV. ausgesprochenen Kostenentscheidungen sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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