Baurecht

Erfolglose Klage eines Nachbarn gegen einen Bauvorbescheid für Umbau zur Wohnnutzung im Kerngebiet bei Zielsetzung im Bebauungsplan, der Verödung der Innenstadt entgegenzuwirken

Aktenzeichen  AN 9 K 19.01105

Datum:
20.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18288
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 68, Art. 71
BauNVO § 7
BauGB § 9 Abs. 3 S. 2

 

Leitsatz

1. Der Kerngebietscharakter geht nicht dadurch verloren, dass im Kerngebiet nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans oder ausnahmsweise Wohnungen zulässig sein können.  (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Bestreben, einer Verödung der Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten entgegenzuwirken, stellt einen nachvollziehbaren und gewichtigen planerischen Belang dar.  (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Streitgegenstand ist der von der Klägerin beantragte Vorbescheid, soweit dieser die beantragte Nutzung als planungsrechtlich zulässig einstuft.
Das Gericht geht davon aus, dass der Vorbescheid bezüglich der Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit und der übrigen Fragen materiell-rechtlich teilbar ist. Sollte man diese Teilbarkeit verneinen, käme der Hilfsantrag zum Tragen, wonach der Vorbescheid in Gänze angegriffen wird. Die nachstehenden Ausführungen gelten für diese Variante gleichermaßen.
2. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Vorbescheid der Beklagten vom 3. Mai 2019 ist, soweit er mit der Klage angegriffen wurde, rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2.1 Gemäß Art. 71 BayBO hat der Bauherr bereits vor Einreichung des Bauantrags die Möglichkeit, zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens einen Vorbescheid zu beantragen. Dieser darf nach Art. 71 Satz 4 in Verbindung mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. BayBO nur versagt werden, wenn das Vorhaben gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Der Nachbar hingegen kann den Vorbescheid mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn er rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen sind, sondern gerade dem Schutz eines von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises, namentlich des betroffenen Nachbarn zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das ist der Fall, wenn er in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist (st. Rspr. zur Baugenehmigung, vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87; BVerwGE 89, 69; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017, m.w.N. – juris). Hinzu kommt, dass ein Verstoß nur gegen solche Vorschriften in Betracht kommt, zu denen der Vorbescheid rechtliche Aussagen bzw. Feststellungen trifft, weil nur insoweit eine Bindungswirkung für das spätere Baugenehmigungsverfahren eintritt (vgl. Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 71 Rn. 17).
2.2 Ein entsprechender Verstoß ist im vorliegenden Fall nicht gegeben; insbesondere kann sich die Klägerin nicht auf eine Verletzung eines ihr zustehenden Gebietserhaltungsanspruchs oder des Rücksichtnahmegebotes berufen.
2.2.1 Zwar befinden sich die Grundstücke der Klägerin und der Beigeladenen in einem einheitlichen Plangebiet, so dass grundsätzlich ein Gebietserhaltungsanspruch in Betracht kommt. Das streitgegenständliche Vorhaben entspricht aber gerade den Festsetzungen des Bebauungsplanes, so dass der Gebietscharakter gewahrt wird.
2.2.1.1  Der Bebauungsplan Nr. … der Beklagten, setzt für das Vorhabensgrundstück und die Grundstücke der Klägerin als Art der Nutzung Kerngebiet (MK) fest, wobei nach § 2 Nr. 1.2.3 des Bebauungsplans im Kerngebiet oberhalb des 1. Obergeschosses Wohnungen zulässig sind.
Die allgemeine Zweckbestimmung von Kerngebieten im Sinne des § 7 BauNVO besteht darin, als Gebiete für zentrale Funktionen in der Stadt mit vielfältigen Nutzungen und einem urbanen Angebot an Gütern und Dienstleistungen für Besucher der Stadt und für die Wohnbevölkerung eines größeren Einzugsbereichs zur Verfügung zu stehen. Sie dienen dabei vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur und darüber hinaus auch in beschränktem Umfang dem Wohnen. Allgemein zulässig sind Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Einzelhandelsbetriebe, Schank- und Speisewirtschaften, Betriebe des Beherbergungsgewerbes und Vergnügungsstätten, sonstige nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe, Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke, Tankstellen im Zusammenhang mit Parkhäusern und Garagen, Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter und sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen eines Bebauungsplans (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 5.7.2017 – 2 B 17.824; VG Ansbach U.v. 5.12.2019 – AN 3 K 18.02386 – juris). Gebiete, in denen allgemein und überall gewohnt werden kann, sind keine Kerngebiete (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris).
2.2.1.2 Es handelt sich bei der Festsetzung § 2 Nr. 1.2.2 des Bebauungsplans nicht um eine Festsetzung nach § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauNVO, wonach ab einer bestimmten Geschosszahl nur Wohnungen zulässig wären oder im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauNVO, wonach Mindestanteile an Wohnnutzungen vorgegeben würden. Der Bebauungsplan eröffnet durch seine Festsetzung lediglich die Möglichkeit, ab dem 2. Obergeschoss auch Wohnnutzungen zuzulassen.
Es liegt auch weiterhin keine Festsetzung im Sinne des § 1 Abs. 7 BauNVO vor, da für den Bereich ab dem 2. Obergeschoss keine Nutzungen als ausschließlich zulässig oder ein Teil der allgemein zulässigen Nutzungen als unzulässig eingeordnet wird und auch nicht die Ausnahmetatbestände des § 7 BauNVO für nicht zulässig oder für allgemein zulässig erklärt wurden.
2.2.1.3 Es handelt sich vielmehr um eine Festsetzung gem. § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO i.V.m. § 9 Abs. 3 Satz 2 BauGB, die in einem bestimmten Bereich des Kerngebietes Wohnungen für zulässig erachtet.
Wohnungen, die keine Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter gem. § 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO sind, sind im Kerngebiet nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO zulässig, sofern sich im Bebauungsplan eine entsprechende Festsetzung findet. Liegt diese Voraussetzung vor, sind die „sonstigen Wohnungen“ allgemein im Kerngebiet zulässig.
Jedoch müssen die Festsetzungen des Bebauungsplanes die Zweckbestimmung des Kerngebietes wahren.
Das Bundesverwaltungsgericht führt mit Beschluss vom 6. Dezember 2000 (Az. 4 B 4/00) dazu aus:
„Dieser Kerngebietscharakter geht nicht dadurch verloren, dass im Kerngebiet nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans (§ 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BauNVO) oder ausnahmsweise (§ 7 Abs. 3 BauNVO) Wohnungen zulässig sein können. (…) Der Plangeber hat bei der Festsetzung von Wohnungen im Kerngebiet zu beachten, dass dieses in erster Linie und im Unterschied zu anderen Baugebieten der Baunutzungsverordnung den vorgenannten zentralen Funktionen und Einrichtungen zu dienen bestimmt ist. Führt das Nebeneinander von kerngebietstypischen Anlagen und Wohnungen im Einzelfall zu Nutzungskonflikten, beurteilt sich die Zulassung einer zur Genehmigung gestellten kerngebietstypischen Anlage nach § 15 Abs. 1 BauNVO.
Aufgrund der Tatsache, dass vorliegend eine Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss nur möglich, aber nicht zwingend ist und in den unterhalb des 2. Obergeschosses gelegenen Bereichen des Kerngebietes allenfalls als Wohnung nach § 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO oder im Wege einer Ausnahme gem. § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zulässig wäre, ist nach Auffassung der Kammer der generelle Vorrang der kerngebietstypischen Nutzungen hinreichend sichergestellt (vgl. diesbezüglich auch VG Ansbach, U.v. 24.3.2010 – AN 3 K 09.00735 – juris Rn. 15; VG Gelsenkirchen, U.v. 20.1.2015 – 9 K 196/12 – juris Rn. 71; zur Unwirksamkeit einer Festsetzung von Wohnungen ab dem 1. Obergeschoss OVG NRW U.v. 18.12.2009 – 7 D 62/08.NE – juris). Zudem besteht die Möglichkeit gem. § 15 Abs. 1 BauNVO im Einzelfall entsprechende Maßnahmen zur Vermeidung von Nutzungskonflikten zu ergreifen.
Die erforderliche städtebauliche Rechtfertigung (vgl. hierzu Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 2020, § 7 BauNVO Rn. 41) liegt in der Zielsetzung einer „allgemeinen Belebung der Altstadt auch außerhalb der Geschäftszeiten“ und ist Seite 2 der Begründung zum Bebauungsplan zu entnehmen. Das Bestreben, einer Verödung der Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten entgegenzuwirken, stellt einen nachvollziehbaren und gewichtigen planerischen Belang dar.
Auch unter Zugrundelegung der beim Augenschein gewonnenen Erkenntnisse sind keine Anhaltspunkte vorgetragen oder sonstwie erkennbar, dass die Zulassung des streitgegenständlichen Vorhabens zu einem „Umkippen“ des Gebietscharakters führen würde. Dies ergibt sich insbesondere im Hinblick darauf, dass im maßgeblichen Geviert bislang, soweit ersichtlich, nur eine – nicht genehmigte – Wohnnutzung vorhanden ist.
2.2.1.4 Somit liegt eine wirksame Bebauungsplanfestsetzung vor, die im Kerngebiet Wohnnutzung ab dem 2. Obergeschoss für zulässig erklärt.
Eben dieser Festsetzung entspricht das streitgegenständliche Vorhaben, das Handel im Erdgeschoss, Büro im Zwischengeschoss, das als Vollgeschoss anzusehen sein dürfte (siehe hierzu auch VG Ansbach, B.v. 16.7.2009 – AN 9 S 09.00821, AN 9 S 09.00895 – juris), Technik im 1. Obergeschoss, das somit als 2. Obergeschoss zu betrachten sein dürfte und Wohnnutzung in den daran anschließenden 2 Geschossen sowie im Dachgeschoss vorsieht, weshalb ein Anspruch auf Gebietserhaltung ausscheidet.
2.2.2 Es ist auch kein Verstoß gegen das (drittschützende) Gebot der Rücksichtnahme erkennbar, da keine Anzeichen für eine Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens gegenüber der Klägerin gegeben sind.
Bezüglich des klägerischen Hinweises auf die zu den klägerischen Anwesen gehörenden Lüftungsanlagen ist schon kein hinreichender Vortrag erfolgt, welche für die künftige Wohnnutzung nicht hinnehmbaren Lärmemissionen von diesen ausgehen sollten. So wurden keinerlei Angaben gemacht, welche Technik zum Einsatz kommt und welche Emissionsbelastung mit diesen Anlagen einhergeht. Die (materielle) Beweislast liegt diesbezüglich bei der Klägerin (vgl. insofern VG Ansbach, U.v. 20.11.2014 – 3 K 14.00461 – BeckRS 2014, 120155).
Es gilt weiterhin zu berücksichtigen, dass sich im Innenhofbereich südlich und südwestlich des streitgegenständlichen Grundstückes sowohl auf dem Baugrundstück als auch auf den Nachbrgrundstücken – und damit in einem geringeren Abstand als die klägerische Anlage – eine Vielzahl von Lüftungsanlagen befindet, von denen sich ein Großteil näher am Vorhabensgrundstück der Beigeladenen befindet als die Anlagen der Klägerin. Beim Augenschein waren auch von diesen Lüftungsanlagen ausgehende Geräusche wahrnehmbar.
Zudem finden sich nach den Erkenntnissen des Augenscheins und dem Beteiligtenvortrag in den oberen Geschossen des maßgeblichen Gevierts bereits gegenwärtig zahlreiche Büronutzungen. Auch hinsichtlich dieser Nutzungen sind die Immissionsrichtwerte der TA Lärm für Kerngebiete, die den Mischgebietswerten entsprechen, einzuhalten.
Es ist auch zu berücksichtigen, dass ein Kerngebiet generell durch ein höheres Störpotential sowie ein geringeres Ruhebedürfnis geprägt ist, so dass die in diesem ansässige Wohnbevölkerung Störungen in einem gewissen Maß hinzunehmen hat (siehe hierzu BayVGH, U.v. 5.7.2017 – 2 B 17.824 – juris).
In der Zusammenschau ist somit nicht ersichtlich und auch nicht dargelegt, dass die Klägerin durch das streitgegenständliche Vorhaben Einschränkungen zu befürchten hätte.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.


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