Baurecht

Erfolglose Nachbarklage gegen eine Befreiung für eine auf drei Jahre befristete Nutzungsänderung zu Asylunterkünften im faktischen Industriegebiet

Aktenzeichen  AN 9 K 16.00991

Datum:
23.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 33465
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1, § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 29 Abs. 1, § 31 Abs. 2, § 34 Abs. 2, § 246 Abs. 10, Abs. 12 S. 1 Nr. 2
BauNVO § 9 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2
AsylG § 44 Abs. 1, § 53
BayBO Art. 6, Art 28 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 1, Art. 62 Abs. 3 S. 3

 

Leitsatz

1 An der Verfassungsmäßigkeit des § 246 Abs. 12 S. 1 Nr. 2 BauGB bestehen keine Zweifel.(Rn. 67) (redaktioneller Leitsatz)
2 Jedenfalls die Voraussetzungen des § 246 Abs. 12 S. 1 Nr. 2 BauGB, die die Anwendbarkeit determinieren, sind nachbarschützend.(Rn. 70) (redaktioneller Leitsatz)
3 Sogenannte dezentrale Unterkünfte sind ebenfalls Gemeinschaftsunterkünfte im Sinne des Asylrechts, werden jedoch baurechtlich durch den Begriff der sonstigen Unterkunft abgebildet. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
4 Es ist grundsätzlich Sache des Bauherrn, durch geeignete Maßnahmen für gesunde Wohn- und Unterbringungsverhältnisse in einer Asylbewerberunterkunft zu sorgen. (Rn. 73, 74, 75 und 78) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
3. Das Urteil ist in Ziffer 2 vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% der vollstreckbaren Kosten.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
1.1 Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 11. Mai 2016 in der Fassung, die er durch den Änderungsbescheid vom 7. Juni 2016 und den Ergänzungsbescheid vom 1. August 2017 gefunden hat.
1.2 Die am 8. Juni 2016 erhobene Klage ist zulässig. Die Erweiterung des Streitgegenstandes auf den Ergänzungsbescheid ist als Klageänderung gem. § 91 Abs. 1, 2 VwGO zulässig.
1.3 Die Klage ist unbegründet, da der Bescheid vom 11. Mai 2016 in der Fassung, die er durch den Änderungsbescheid vom 7. Juni 2016 und den Ergänzungsbescheid vom 1. August 2017 gefunden hat, keine nachbarschützenden Vorschriften, die im Wege des streitgegenständlichen Baugenehmigungsverfahrens zu prüfen waren, verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1.3.1 Richtet sich die Zulässigkeit eines Vorhabens im unbeplanten Innenbereich seiner Art nach nach den Vorschriften der Baunutzungsverordnung (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. der jeweiligen Vorschrift der BauNVO über den Gebietstyp), so steht dem Nachbarn eines in demselben Gebiet liegenden Grundstücks kraft Bundesrechts ein Abwehrrecht in Gestalt eines Gebietserhaltungsanspruchs gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung zu (BVerwG, B.v. 22.12.2011, 4 B 32.11). Da § 34 Abs. 2 BauGB faktische Baugebiete hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung den festgesetzten Baugebieten gleichstellt und deshalb derselbe Nachbarschutz besteht wie bei bauplanerischen Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, ist bei einer fehlerhaften Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung auch im faktischen Baugebiet ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben (BVerwG, B.v. 27.8.2013, 4 B 39.13). Diese Rechtsprechung zu § 31 Abs. 2 BauGB lässt sich auf § 246 Abs. 12 BauGB übertragen (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694 zur artverwandten Befreiungsvorschrift des § 246 Abs. 10 BauGB).
1.3.2 Nach diesen Grundsätzen verletzt der Bescheid vom 11. Mai 2016 in der Fassung, die er durch den Änderungsbescheid vom 7. Juni 2016 und den Ergänzungsbescheid vom 1. August 2017 gefunden hat, keine nachbarschützende Vorschriften, soweit eine Befreiung nach § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB erteilt wurde.
1.3.2.1 Die Voraussetzungen der hier für das Bauvorhaben einschlägigen Befreiungsvorschrift des § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB liegen vor, soweit diese nachbarschützend sind.
Einschlägig ist die Befreiungsvorschrift des § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB deshalb, da hier – davon gehen auch die Beteiligten übereinstimmend aus – sowohl das Bauvorhaben als auch das südlich angrenzende Nachbargrundstück der Klägerin in einem faktischen Industriegebiet nach § 9 BauNVO liegen. Ein Vorhaben mit der beantragten Nutzung ist gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 9 BauNVO im faktischen Industriegebiet seiner Art nach weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig, insbesondere auch nicht als Anlage für soziale Zwecke nach § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Im Gegensatz zu den sonstigen Fällen von Anlagen für soziale Zwecke, also Anlagen, die der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt, aber nicht der Übernachtung dienen, können auch Gebäude, die der Unterbringung von Asylbewerbern dienen, Anlagen für soziale Zwecke darstellen, soweit keine autonome Wohnnutzung vorliegt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, § 4 BauNVO, Rn. 91 ff.). Als Unterkunft für Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, verträgt sie sich jedoch nicht mit den emissionsstarken, störungsintensiven Gewerbebetrieben, wie sie in einem Industriegebiet zulässig sind. Auch wenn sie nicht dem Wohnen dienen, stehen sie doch dieser Nutzungsart erheblich näher als einer industriegebietstypischen gewerblichen Nutzung. Solche Unterkünfte sind auch nicht mit den ausnahmsweise zulässigen Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter (§ 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO) zu vergleichen, da solche in einem funktionalen Zusammenhang zwischen der Unterbringung von Menschen und einem Gewerbebetrieb stehen. Angesichts dessen, dass es sich bei Industriegebieten um die immissionsstärksten und störungsunempfindlichsten Baugebiete der BauNVO handelt, sind derartige Unterkünfte im Industriegebiet somit nicht gebietsverträglich, da sie mit der Zweckbestimmung des Gebiets unvereinbar sind (OVG Münster, B.v. 4.11.2003, 22 B 1345/03).
1.3.2.2 Das erkennende Gericht geht davon aus, dass die Vorschrift des § 246 Abs. 12 Nr. 2 BauGB verfassungsgemäß ist, insbesondere wegen des beschränkten Anwendungsbereiches (vgl. BayVGH, B.v. 2.9.2016, 1 CS 16.1275).
1.3.2.3 Die Vorschrift des § 246 Abs. 12 Nr. 2 BauGB ist – schon nach ihrem Wortlaut – auch für faktische Baugebiete i.S.d. § 34 Abs. 2 BauGB anwendbar.
1.3.2.4 Es bestehen verschiedenen Auffassungen dazu, ob sich der Nachbar auf die Einhaltung der Voraussetzungen des § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB bei einer darauf gestützten Befreiung berufen kann (einen Nachbarschutz bezweifelnd OVG NRW, B.v. 20.12.2016; für eine Überprüfbarkeit aller Voraussetzungen, wohl BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694 – das Urteil betrifft jedoch § 246 Abs. 10 BauGB zu unbefristeten Befreiungen für Asylunterkünfte in Industriegebieten -, für bloße Rügbarkeit des Gebotes der Rücksichtnahme wohl Ernst/Zinkahn/Bielen-berg/Krautzberger, § 246 BauGB, Rn. 59a). Nach Auffassung der Kammer sind jedenfalls die Voraussetzungen der Vorschrift, die die Anwendbarkeit determinieren, nachbarschützend, mithin die Frage, ob eine auf drei Jahre befristete Nutzugsänderung für zulässigerweise errichtete bauliche Anlagen in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Asylbegehrende vorliegt. Denn die Vorschrift schränkt den Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn erheblich ein, da sie, im Gegensatz zur allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB auf die Einhaltung der Grundzüge der Planung verzichtet und damit auch gebietsfremde Nutzungen zulässt (vgl. BayVGH, B.v. 2.9.2016, 1 CS 16.1275). Der Gesetzgeber hat für die Vorschrift des § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB, die zur Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ geschaffen wurde, daher (neben weiteren Voraussetzungen) die Anwendungsvoraussetzungen geschaffen, dass auf dieser Grundlage erlassene Baugenehmigungen auf drei Jahre befristet sein müssen und nur Nutzungsänderungen zulässig sind (Nr. 2). Dauerhafte Einwirkungen auf den Charakter des Gebiets sollen dadurch gerade vermieden werden (BT-Drs. 18/6185, S. 54). Da die genannten Anwendungsvoraussetzungen die Gebietserhaltung gewährleisten – eine befristete Nutzungsänderung schafft keine dauerhaften geänderten und womöglich für den Nachbar nachteiligen Verhältnisse – kann sich der Nachbar auf deren Einhaltung berufen. Nicht rügbar, weil nicht verfahrensgegenständlich, sind klägerseits befürchtete illegale Nutzungen nach Befristungsende oder zukünftige Genehmigungen für eine Asylunterkunft – was nach geltender Rechtslage nicht rechtmäßig möglich erscheint. Der Klägerin steht es frei, sich dann gegen derartige gebietsfremde Nutzungen rechtlich zu wehren.
1.3.2.5 Vorliegend stellt das Vorhaben eine Nutzungsänderung dar. Nach der Terminologie des BauGB ist zwischen Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen zu unterscheiden. Bei einer bloßen Nutzungsänderung wird die Variationsbreite der bisherigen Nutzung verlassen und bodenrechtliche Belange werden neu berührt (BVerwG U.v. 18.5.1990, 4 C 49.89). Demgegenüber meint Änderung die Umgestaltung (Umbau, Ausbau, Erweiterung, Verkleinerung) einer bestehenden baulichen Anlage in städtebaulich relevanter Weise, insbesondere bei Eingriffen in die vorhandene Bausubstanz, die die Standfestigkeit des gesamten Bauwerks berühren oder die dem ursprünglichen Bauwerk die Identität rauben (BVerwG, B.v. 10.10.2005, 4 B 60/05). Geringfügige Änderungen sind dann relevant, wenn sie für die Art, den Umfang oder die Intensität der baulichen Nutzung von Bedeutung sind (OVG Münster, 27.3.1969, X A 230/69).
Nach diesen Grundsätzen liegt nach Vergleich des am 11. Mai 2016 genehmigten Vorhabenplans vom 3. Februar 2016 (Grundrisse Erdgeschoss – Obergeschoss) mit dem genehmigten Bestand (Grundrisspläne vom 7. Mai 2008, genehmigt am 30. Juni 2008) eine bloße Nutzungsänderung vor: Im Obergeschoss wurde lediglich der Einbau weniger Zwischenwände genehmigt, so dass kein Eingriff in die Substanz tragender Wände ersichtlich ist. Soweit an der Ostseite des Obergeschosses zum Austausch der vorhandenen großen Fenster in kleine Fenster neues Mauerwerk vorgesehen ist, ist diese Änderung wegen Geringfügigkeit nicht beachtlich. Im Erdgeschoss sind im Hinblick auf die Nutzungsänderung der dort teilweise bislang vorhandenen Lagerfläche in Asylunterkünfte eine Reihe von zusätzlichen Zwischenwänden vorgesehen. Dass diese zusätzlichen Innenwände die Statik nachteilig berühren ist nicht ersichtlich. Ansonsten sind im Erdgeschoss eine Reihe von zusätzlichen Fenstern vorgesehen, insbesondere an der Nordwand, teilweise werden Außenmauern geschlossen (an der Westseite) und durch die mittig vorhandene Zwischenwand wird ein Durchbruch vorgenommen. Auch insofern wird die Standfestigkeitsfrage nicht neu aufgeworfen, so dass die Schwelle einer Änderung von baulichen Anlagen i.S.d. BauGB nicht erreicht wird. Der Mauerdurchbruch der Zwischenwand berührt nicht die Standfestigkeit des Gesamtgebäudes, im Obergeschoss ist an der Zwischenwand ein gleichartiger Durchbruch an derselben Stelle bereits vorhanden. Das Anbringen von Fenstern berührt die Standfestigkeit der Außenmauern nicht maßgeblich. Die Schließung der Lücke in der westlichen Wand dürfte die Standfestigkeit eher verbessern. Letztlich fehlt es auch deswegen an einer baulichen Änderung, da das Bauwerk seine Identität behält, da nicht nur der Grundriss, sondern auch die Kubatur im Ganzen unverändert bleiben, insbesondere auch die Höhe. Das Gebäude stellt sich für den Betrachter von außen als unverändert dar, insbesondere, was Lage, Höhe und Breite der Außenwände, Dach und Dachform betrifft. Dies stellt einen Unterschied zu dem westlich benachbarten Vorhaben (AN 9 K 17.00173) dar, bei dem das alte Dach über dem Erdgeschoss abgerissen wurde und das Gebäude insgesamt aufgestockt wurde. Im Übrigen liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass für letzteres Vorhaben die Außenmauern des Bestandgebäudes teilweise komplett abgerissen werden mussten, um das Gesamtvorhaben realisieren zu können. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen im Parallelverfahren AN 9 K 17.00173 Bezug genommen. Es liegt hinsichtlich des Bauvorhabens auch keine Erhöhung des Nutzungsmaßes vor, die eine bauliche Änderung bedeuten würde. Das Vorhabengebäude wird zwar möglicherweise intensiver genutzt, die nutzbare Grundfläche jedoch nicht erhöht (vgl. BVerwG, U.v. 27.8.1998, 4 C 5-98).
1.3.2.6 Es handelt sich bei der beantragten Nutzung nach der Betriebsbeschreibung und dem Vorhabenplan zudem um eine Gemeinschaftsunterkunft bzw. sonstige Unterkunft i.S.d. § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB. Das bundesrechtlich geregelte Asylverfahren sieht die Unterbringung von Asylbegehrenden in Erstaufnahmeeinrichtungen (§ 44 Abs. 1 AsylG) und Gemeinschaftsunterkünften (§ 53 AsylG) vor. Sogenannte dezentrale Unterkünfte (ein Begriff, der teilweise im Landesrecht verwendet wird) sind ebenfalls Gemeinschaftsunterkünfte im Sinne des Asylrechts, werden jedoch baurechtlich durch den Begriff der sonstigen Unterkunft abgebildet (Ernst/Zink-ahn/Bielenberg/Krautzberger, § 246 BauGB, Rn. 56d). Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und somit auch sonstigen Unterkünften stellt kein Wohnen im Sinne des Baurechts dar. Dieses zeichnet sich durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie die Freiwilligkeit des Aufenthalts aus. Wegen der verpflichtenden Unterbringung (§ 53 AsylG), die die eigengestaltete Haushaltsführung einschränkt, und der nur für die Dauer des Asylverfahrens vorgesehenen Unterbringung fehlt es an diesen Elementen (BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694 zu § 246 Abs. 10 BauGB, bei der diese Problematik ebenfalls aufgeworfen wird). So liegt es auch im vorliegenden Fall. Nach der Betriebsbeschreibung und nach den vorgelegten Plänen besteht durch die Selbstverpflegung und wegen des Fehlens eines Portiers zwar eine gewisse Eigenständigkeit. Der Unterbringungscharakter überwiegt jedoch wegen des avisierten nur vorübergehenden Aufenthalts und der verpflichtenden Unterbringung, zumal in Mehrbettzimmern.
1.3.2.7 Hinsichtlich der übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen, der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen (hierzu sind insbesondere gesunde Wohn – bzw. Unterbringungsverhältnisse gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB zu rechnen, BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694 zu der Vorschrift des § 246 Abs. 10 BauGB, bei der diese Problematik ebenfalls aufgeworfen wird) unter Würdigung nachbarlicher Interessen ist fraglich, inwieweit sich der Nachbar darauf berufen kann. Angesichts dessen, dass § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB die Gebietserhaltung tangiert, scheint es denkbar, dass sich der Nachbar auf die Einhaltung aller Befreiungsvoraussetzungen berufen kann, gerade da explizit auf die nachbarlichen Interessen abzustellen ist. Der Rechtskreis des Nachbarn ist jedoch im Rahmen einer Befreiung nach § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB nicht tangiert. Dieser hat im Regelfall ein Interesse, durch die Unterkunft nicht in der Gewerbeausübung eingeschränkt zu werden, etwa durch Immissionsauflagen, nicht daran, gesunde Unterbringungsverhältnisse für Asylbewerber zu gewährleisten; die Prüfung gesunder Unterbringungsverhältnisse ist primäre Aufgabe der Genehmigungsbehörden (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, § 246 BauGB, Rn. 59a). Auch ist es primär Sache des Bauherren im Hinblick auf die zu besorgenden gesunden Unterbringungsverhältnisse (passive) Immissionsschutzmaßnahmen zu treffen (BayVGH, B.v. 2.9.2016, 1 CS 16.12759). Zudem sind die Auswirkungen auf die Gebietserhaltung bei Befreiungen nach der § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB durch die Normstruktur praktisch ausgeschlossen. Denn diese zur Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ bzw. „Flüchtlingsunterbringungskrise“ geschaffene Vorschrift erlaubt keinen neuen Bestand und befristet Umnutzungen einmalig auf drei Jahre. Vor diesem Hintergrund erfolgt nach Auffassung der Kammer Nachbarschutz im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen, insbesondere gesunde Wohn- bzw. Unterbringungsverhältnisse unter Würdigung nachbarlicher Interessen nur nach Maßgabe des Gebotes der Rücksichtnahme (Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, § 246 BauGB, Rn. 59a). Dem steht die bisherige Rechtsprechung der Kammer, wonach bei Nachbarklagen alle Tatbestandvoraussetzungen bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans für Asylunterkünfte rügbar sind (U.v. 29.6.2016, AN 9 K 15.01348), nicht entgegen, denn diese erging auf Grundlage von § 246 Abs. 10 BauGB, der in Gewerbegebieten unbefristete Befreiungen für Asylunterkünfte ermöglicht, was die Gebietserhaltung nachhaltig, insbesondere im Hinblick auf künftige Vorhaben der Nachbarn, tangiert.
1.3.2.8 Das Vorhaben ist im Hinblick auf den Immissions- bzw. Gesundheitsschutz gegenüber der Klägerin nicht rücksichtlos. Denn, wie dargelegt, ist es Sache des Bauherren, für gesunde Wohn- und Unterbringungsverhältnisse zu sorgen. Daher ist nichts dafür ersichtlich, dass die Beklagte im Hinblick auf die im Vorhaben zu besorgenden Wohn- bzw. Unterbringungsverhältnisse die Klägerin mit immissionsschutzrechtlichen Auflagen belegen wird. Die angefochtene Baugenehmigung trägt der bezeichneten Verpflichtung des Bauherren und Beigeladenen in genügendem Maße Sorge. Er wird mit Auflagen zur Einhaltung von Lärmwerten in den Unterkunftsräumen (tags 40 dB(A), nachts 30 dB(A) und zur Einhaltung der Erschütterungsimmissionsschutzrichtwerte (Tabelle 1, Zeile 1 der DIN 4150-2) mit Ergänzungsbescheid vom 1. August 2017 verpflichtet. Diese Richtwerte sind zutreffend, da die Rechtsprechung auch Dauerschallpegel über 30 dB(A) in Schlafräumen in Wohngebieten für zulässig hält (BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 1694 m.w.N.) und es sich bei der DIN 4150-2 um das einschlägige Regelwerk für Erschütterungsimmissionsschutz handelt und richtigerweise von den Werten für Industriegebiete auszugehen ist (Zeile 1), da die Untergebrachten in Asylunterkünften in Industriegebieten sich mit der im Industriegebiet zulässigen Immissionsbelastung abfinden müssen (BayVGH, B.v. 2.9.2016, 1 CS 16.1275; vgl. U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694). Die Beklagte geht selbst davon aus, dass, insofern im Bescheid vom 11. Januar 2017 (AN 9 K 17.00173) Erschütterungswerte der Zeile 2 (Gewerbegebiet) festgesetzt sind, der von dem Beigeladenen verlangte Schutz über das gebotene Maß hinausgeht. Der Beigeladene ist angesichts dieser Auflagen auch gegenüber einschneidenden Anordnungen bei Nichteinhaltung nicht schutzwürdig, auch nicht im Hinblick darauf, dass nicht bereits im Genehmigungsverfahren von der Beklagten ein entsprechender Nachweis zur Einhaltung bzw. Einhaltbarkeit der Auflagen gefordert wurde. Denn dies ist die Verantwortung und das Risiko des Beigeladenen, dem es unbenommen ist, sich bei Unsicherheiten durch Einholung von Messgutachten abzusichern. Die skizzierte Risikoverteilung ist auch interessengerecht, da der Beigeladene mit der Unterbringung von Asylbegehrenden erwerbswirtschaftliche Zwecke verfolgt. Der angefochtene Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die streitgegenständliche Genehmigung keine Auflagen zu Lichteinwirkungen, Gerüchen und Abgasen enthält, da es sich hierbei um untergeordnete Immissionsarten handelt, die Klägerin insoweit ohnehin zur Einhaltung einschlägiger Grenzwerte verpflichtet ist und die in der Unterkunft Untergebrachten durch den Einbau abdichtender Fenster und dadurch, dass bis auf eine Ausnahme die Schlafräume hofseitig, abgewandt vom Grundstück der Klägerin gelegen sind, geschützt sind.
Weiterhin belegt der Entwurf des immissionsschutzrechtlichen Bescheids „Neufassung der Genehmigung für Werk 2“ vom 4. Oktober 2018, dass die Beklagte die befristete Nutzung als Asylunterkunft im genehmigten Vorhaben nicht als relevant für den Betrieb der Klägerin ansieht. Denn das Vorhabengebäude ist dort nicht als Immissionsort festgelegt.
Angesichts der vorstehenden Gründe kommt es auf die Frage, ob die im Ergänzungsbescheid vom 1. August 2017 festgesetzten Grenzwerte eingehalten sind oder eingehalten werden können, nicht entscheidungserheblich an. Daher waren die diesbezüglichen Beweisanträge abzulehnen. Es bestehen zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Bescheid insofern fehlerhaft ist, weil die festgesetzten Grenzwerte von vorneherein nicht eingehalten werden könnten. Obwohl eine vorherige gutachtliche Abklärung im Genehmigungsverfahren trotz Befürwortung der Baugenehmigungsbehörde nicht erfolgte, konnte die Beklagte angesichts der vorherigen beanstandungslosen Büronutzung und der bis 2008 erfolgten beanstandungslosen Nutzung als Hausmeisterwohnung davon ausgehen, dass das Vorhabengelände für die vorgesehene Umnutzung nicht völlig ungeeignet ist. Dies bestätigt auch der von der Beigeladenenseite vorgelegte gutachtliche Bericht vom 24. Januar 2018 des Gutachters …, auf den das Gericht nach § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 VwGO zurückgreifen kann. Trotz der von der Klägerseite angeführten Zweifel an der Eignung des Gutachters, die Begutachtung und die Darstellung der Begutachtung ist er zumindest hinsichtlich der Messergebnisse verwertbar, nachdem der Gutachter beim Augenschein und der anschließenden mündlichen Verhandlung seine Vorgehensweise nachvollziehbar erläutert hat. Demnach liegen, mehrere Messreihen und -zeiten zugrunde gelegt, die Erschütterungswerte weit unterhalb der Grenzwerte, die Lärmwerte können nach Anbringung einer Vorsatzschale auch im Messraum, an der Wand zum klägerischen Betrieb eingehalten werden. Letzteres dokumentiert, dass effektive passive Schutzmaßnahmen möglich sind. Angesichts dessen, dass insbesondere die gemessenen Erschütterungswerte deutlich unter den einzuhaltenden Grenzwerten liegen, ist auch nicht davon auszugehen, dass die Kumulation von Erschütterungen und Lärm – zu diesem Effekt trägt die Klägerseite vor – auch unterhalb der Schwelle der jeweiligen Richtwerte zu Gesundheitsgefährdungen führt. Weiterhin bestehen deswegen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass bei einer höheren Auslastung des klägerischen Betriebs – nach Angabe der Klägerin seien diese um die Jahreswende 2017/2018 gering gewesen und die Messungen daher nicht repräsentativ – die Grenzwerte mit Sicherheit überschritten wären, zumal nach den nachvollziehbaren und nicht substantiiert bestrittenen Angaben des Herrn … in der mündlichen Verhandlung bei den Messungen die besonders laute Fräsmaschine gelaufen war und häufigere Erschütterungsereignisse aufgrund des Messverfahrens nicht zwangsläufig zu höheren Messwerten führen. Dieser Eindruck vom Vorhaben wurde beim Augenschein der Kammer bestätigt, bei dem die Räumlichkeiten des Vorhabens, insbesondere der Raum, in dem die Messung stattfand sowie der darunter befindliche Raum, begangen wurden. Der richterliche Augenschein diente zwar nicht der Überprüfung von Grenzwerten, vermittelte jedoch einen Eindruck von den Einwirkungen von Immissionen auf den Menschen und seine Gesundheit in den gegenständlichen Räumen. So waren im erdgeschossigen und hofseitigen Raum 1, der wie alle Räume mit Schallschutzfenstern versehen und als Schlafraum genehmigt ist, bei geschlossenem Fenster weder Erschütterungen noch Geräusche spürbar. Im obergeschossigen, zur Kommunwand zum klägerischen Betrieb gelegenen Raum 18, in dem die Messungen des Gutachters … durchgeführt wurden, und der mit einer Gipsvorsatzschale zum Lärmschutz versehen worden war, waren Außengeräusche nur leise wahrnehmbar. Allerdings waren im erdgeschossigen Raum 9, der als Schlafraum genehmigt ist und der ebenfalls zur Kommunwand zum klägerischen Betrieb gelegen ist, auch bei geschlossenem Fenster (leise) Dauergeräusche wahrnehmbar, sowie während der Aufenthaltsdauer von fünf Minuten ein schlagendes Geräusch. Dieser Raum ist als Schlafraum genehmigt, wird derzeit jedoch allerdings als Unterrichtsraum genutzt: Sollte sich herausstellen, etwa durch Beschwerden von dort untergebrachten Asylbewerbern, dass ein dauernder Aufenthalt wegen des Lärms und/oder den Erschütterungen dort nicht zumutbar wäre, könnte dem einerseits durch bauliche Maßnahmen, andernfalls durch Sperrung für die Unterkunftsnutzung – dass die Kapazität der anderen, unproblematischen Schlafräume nicht ausreichen würde, ist nicht ersichtlich – begegnet werden; insgesamt hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass zumindest die Nutzung der hofseitigen Schlafräume, die den derzeitigen Unterbringungsbedarf problemlos abdecken, keine auf der Hand liegenden Gesundheitsgefahren auslöst.
Das Vorhaben ist auch nicht rücksichtslos im Hinblick auf die von der Klägerseite vorgetragene Absicht, den Betrieb im Werk 2 im Rahmen der genehmigten Kapazitätsgrenze hochzufahren. Da die für den klägerischen Betrieb festgesetzten Immissionsrichtwerte (s. Bescheid vom 1.3.2016) unverändert gelten, ist ein rechtlicher Nachteil durch befürchtete Auflagen durch eine möglicherweise faktische höhere Immissionsbelastung durch den klägerischen Betrieb auf das Vorhaben nicht gegeben, zumal es bei der Verpflichtung des Beigeladenen bleibt, für gesunde Wohn- und Unterbringungsverhältnisse zu sorgen und dieser insofern bei Genehmigungserteilung mit Immissionen innerhalb der im Industriegebiet zulässigen Grenzwerte (etwa 70 dB(A) nach 6.1 TA Lärm) rechnen musste, also dafür Sorge zu tragen hat, dass gesunde Wohnverhältnisse bei der im Industriegebiet zulässigen Immissionsbelastung eingehalten sind (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2018, 9 BV 16.1694). Da die Klägerin die für ein Industriegebiet geltenden Immissionsrichtwerte ohnehin einzuhalten hat und sie die ihr erteilte, auf diese Werte aufbauende immissionsschutzrechtliche Genehmigung bis zur Kapazitätsgrenze ausnutzen kann, solange sie die dort festgesetzten Grenzwerte einhält, ist eine Gefährdung des Betriebes der Klägerin, soweit er sich im maximal genehmigten Rahmen hält, nicht gegeben.
1.3.3 Eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO gegenüber der Klägerin durch das Vorhaben ist nicht ersichtlich. Selbst wenn die Nutzungsänderung hier abstandsflächenbeachtlich wäre, könnte sich die Klägerin nicht auf eine Nichteinhaltung der Abstandsflächen berufen, da sie ihr Werk selbst grenzständig errichtet hat und sie nicht mehr an Rücksichtnahme verlangen kann, als sie ihrerseits gewährt (BayVGH, B.v. 20.3.1991, 14 CS 90.3097).
1.3.4 Auch eine Verletzung der einschlägigen Vorschriften (Art. 60 Nr. 3, Art. 28 Abs. 1, 2 Nr. 1, 3 Satz 1 BayBO) zum Brandschutz durch die streitgegenständliche Genehmigung ist nicht ersichtlich. Der Brandschutznachweis wurde hier gemäß Art. 62 Abs. 3 Satz 3 BayBO am 11. Mai 2016 geprüft und genehmigt. Eine durchgehende Brandwand im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Satz 1, 8 BayBO ist in den entsprechenden Plänen vorgesehen. Nicht verfahrensgegenständlich ist die brandschutzkonforme Ausführung des Bauvorhabens, diese ist zudem durch die Beklagte bestätigt (Blatt 171 der Bauakte).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen gem. § 162 Abs. 3 VwGO, da dieser einen eigenen Antrag gestellt hat und sich daher einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3 VwGO.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
4. Die Zulassung der Berufung beruht auf § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.


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