Baurecht

Erfolgreiche Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung – Einfügen nach der überbaubaren Grundstücksfläche

Aktenzeichen  M 8 K 16.2971

Datum:
9.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO BauNVO § 23 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Der in § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB verwendete Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, umfasst sowohl die konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage, als auch ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung sind grundsätzlich solche baulichen Anlagen auszusondern, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild her nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, sowie solche, die von ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen und deshalb als Fremdkörper erscheinen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hinsichtlich der Bebauungstiefe spielt die Frage, in welcher Baureihe das Gebäude steht, keine Rolle. Die Anzahl der Baureihen ist weder ein eigenständiger Parameter des § 34 Abs. 1 BauGB noch ein Kriterium in der rein rechnerisch zu ermittelnden Bebauungstiefe. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
4. Beim Tatbestandsmerkmal des “Einfügens nach dem Maß der baulichen Nutzung” im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB gehört bei offener Bebauung auch das Verhältnis des Gebäudes zur umliegenden Freifläche zu den Bezugsgrößen zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 14. Juni 2016 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Bauantrag vom 23. Februar 2016, Plan-Nr. … zu genehmigen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vorläufig vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg, da der Klägerin ein Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung zusteht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich im Hinblick auf das übergeleitete Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
1.1 Maßgeblicher Beurteilungsrahmen für das Vorhaben ist die nähere Umgebung. Berücksichtigt werden muss hier die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstückes prägt oder doch beeinflusst. Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, inwieweit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und sich andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m.w.N.). Daraus folgt, dass nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks zu berücksichtigen ist, sondern auch die Bebauung der Umgebung insoweit berücksichtigt werden muss, als auch diese noch prägend auf das Baugrundstück wirkt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 119. EL, 11/2015, § 34 Rn. 36). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. In der Regel gilt bei einem, inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben als Bereich gegenseitiger Prägung das Straßengeviert und die gegenüberliegende Straßenseite (BayVGH, B.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4; U.v. 10.7.1998 – 2 B 96.2819 – juris Rn. 25; U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 und U.v. 24.7.2014 – 2 B 14.1099 – juris Rn. 20).
Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97, NVwZ-RR 1998, 539; BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19). Bei den Kriterien Nutzungsmaß und überbaubare Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart (BayVGH, B.v. 16.12.2009 – 1 CS 09.1774 – juris Rn. 21 m.w.N.). Entscheidend bleiben in jedem Fall die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall (vgl. OVG NRW, U.v. 1.3.2017 – 2 A 46/16 – juris Rn. 35 m.w.N.).
Danach ist vorliegend, wovon auch die Klägerin und die Beklagte ausgehen, dass Quartier …str. …str. …str. … Str. der maßgebliche Bereich mit gegenseitigen Prägung.
1.2 In diesen Bereich fügt sich das streitgegenständliche Vorhaben mit zwei Doppelhäusern nach der Art und der Bauweise unproblematisch ein, da dieser Bereich von Wohnnutzung und einer offenen Bauweise geprägt ist. Im Hinblick auf das Einfügen steht zwischen den Beteiligten die Frage des Einfügens nach der überbaubaren Grundstücksfläche und dem Maß der baulichen Nutzung in Frage.
1.2.1 Der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verwendete Begriff der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, umfasst sowohl die konkrete Größe der Grund-fläche der baulichen Anlage, als auch ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1987 – 4 B 60/87 – juris Rn. 2; B.v. 16.6.2009 – 4 B 50/08 – juris Rn. 4). Damit werden an das Tatbestand:smerkmal der „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“ Anforderungen an die räumliche Lage des Baukörpers auf dem Grundstück gestellt, bei denen zu prüfen ist, ob sich aus der als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Umgebungsbebauung Beschränkungen in Form von faktischen Baulinien oder Baugrenzen entnehmen lassen, die bei der Verwirklichung des Bauvorhabens zu beachten sind.
Eine entsprechende Bebauungstiefe, wie das Vorhaben sie in Anspruch nimmt, sind sowohl bei den Bestandsgebäude …str. 5 als auch bei dem Gebäude …str. 3 vorzufinden. Die vom Bauvorhaben verwirklichte Bebauungstiefe, die grundsätzlich von der Erschließungs Straße her zu beurteilen ist (vgl. VG München U.v. 3.4.2017 – M 8 K 15.5546 – juris Rn. 35; B.v. 6.4.2017 – M 8 SN 17.676 – juris Rn. 76 mit Verweis auf § 23 Abs. 4 BauNVO), beträgt beim Bauvorhaben 39 m unter Berücksichtigung des westlichen Erkers an Haus 4 (ohne 37,80 m) – abgriffen aus dem Grundrissplan des Erdgeschosses. Die Bebauungstiefe des Gebäudes …str. 5 beträgt 39,00 m, die des Gebäudes …str. 3 44,00 m, da der eingeschossige rückwärtige Anbau an diesem Gebäude – wie beim Augenschein festzustellen war – ebenfalls wohngenutzt ist.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sind diese beiden Gebäude auch nicht als sogenannte Ausreißer ohne Vorbildwirkung anzusehen. Bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung sind grundsätzlich solche baulichen Anlagen auszusondern, die von ihren quantitativen Erscheinungsbild her nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, sowie solche, die von ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen und deshalb als Fremdkörper erscheinen (vgl. OVG NRW, U.v. 1.3.2017 – 2 A 46/16 – juris Rn. 39 f. m.w.N.). Die genannten Voraussetzungen treffen auf die Gebäude …str. 3 und 5 nicht zu. Es handelt sich hierbei nicht um untergeordnete bauliche Anlagen, denen die Fähigkeit zur Prägung der Umgebung abzusprechen wäre. Vielmehr befinden sich beide Gebäude auf relativ großen Grundstücken, sodass sie durchaus augenfällig in Erscheinung treten. Sie weichen auch nicht von den, auf den übrigen Grundstücken verwirklichten Gebäudegrößen in einem Maß ab, das es erlauben würde, ihnen eine prägende Wirkung abzusprechen. Dementsprechend fallen sie auch keinesfalls völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung.
Entgegen der Ansicht der Beklagten spielt hinsichtlich des Parameters Bebauungstiefe die Frage, in welcher Baureihe das Gebäude steht, keine Rolle. Die Anzahl der Baureihen ist weder ein eigenständiger Parameter des § 34 Abs. 1 BauGB noch ein Kriterium in der rein rechnerisch zu ermittelnden Bebauungstiefe (ständige Rechtsprechung des erkennenden Gerichts vgl. insoweit U.v. 30.6.2014 – M 8 K 13.2180 – juris.).
1.3 Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung finden sich in der näheren Umgebung zweifellos weitere Gebäude mit einer vergleichbaren Gesamtkubatur, insbesondere die Gebäude …straße 7,11/13, 15/17, …str. 14, 16/16a, 18, …str. 46/46a, 52 und 52a und 54 und 54a.
Im Übrigen wird das Maß der baulichen Nutzung in Hinblick auf die Kubatur der beiden Einzelgebäude von der Beklagten auch nicht in Frage gestellt.
1.3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehört im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB zum Tatbestandsmerkmal des „Einfügens nach dem Maß der baulichen Nutzung“ bei offener Bebauung auch das Verhältnis des Gebäudes zur umliegenden Freifläche zu den Bezugsgrößen zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung (BVerwG, B.v. 14.3.2012 – 4 B 49/12 – juris; B.v. 3.4.2014 – 4 B 12/14 – juris Rn. 3 m.w.N.; VG München, in st. Rspr. 8. Kammer, U.v. 28.9.2015 – M 8 K 14.3006 – juris Rn. 23; U.v. 11.4.2016 – M 8 K 15.31603; U.v. 18.4.2016 – M 8 K 15.1531; U.v. 10.10.2016 – M 8 K 15.4275 – juris Rn. 21 m.w.N.).
Einschließlich der Auswertung der vom Gericht angeforderten Bauakten der …str. 5 und 29 sowie …str. 60, 62 und 64 ergeben sich im Quartier für die dichter bebauten Grundstücke folgende Verhältniszahlen in Hinblick auf die mit Hauptgebäuden bebauten Flächen und Freiflächen bzw. nicht mit Hauptgebäuden bebaute Flächen.
Das Bauvorhaben weist insoweit eine Verhältniszahl von 0,25 auf. Die …str. 1 die Verhältniszahl 0,20, die …str. 14 0,26, die …str. 16 0,22 und die …str. 18 ebenfalls 0,22. Bei dem Grundstück …str. 5 ergibt sich für das Bestandsgrundstück nach Grundstücksteilung – hier wurden die Fl.Nr. …, …, … für den Dreispänner und … für ein eigenständiges Garagengrundstück abgetrennt – eine Verhältniszahl von 0,15. Nach den vorgelegten Unterlagen ergibt sich allerdings für den genehmigten Dreisteller, dessen Errichtung nach den Feststellungen beim Augenschein offensichtlich unmittelbar bevorsteht, eine Verhältniszahl von 0,30. Weiterhin weisen die …str. 27/29 und die …str. 60 ein Verhältnis von 0,20, die …str. 62 von 0,30 und die …str. 64 0,28 auf. Damit liegt das Vorhaben auch in seinem Verhältnis von mit Hauptgebäuden bebauter Fläche im Verhältnis zu der Fläche der nicht mit Hauptgebäuden bebaut ist, im Rahmen der Umgebungsbebauung. Abgesehen davon, dass bereits der Bestand in der …str. 14 und in der …str. 62 und 64 eine höhere Verhältniszahl aufweisen als das Bauvorhaben, tritt dieses auch im Hinblick auf die Verhältniszahlen der …str. 16 und 18 nicht rahmensprengend in Erscheinung. Hierbei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Maßstab des § 34 Abs. 1 BauGB naturgemäß gröber ist als strenge mathematische Berechnungen nach der Baunutzungsverordnung, da es in Hinblick auf die Frage des Einfügens nach § 34 Abs. 1 BauGB auf die nach außen wahrnehmbare Erscheinung ankommt. Unterschiede im Verhältnis der mit Hauptgebäuden bebauten Flächen zu den von diesen Hauptgebäuden freien Flächen im niedrigen 100stel Bereich treten aber nach außen nicht wahrnehmbar in Erscheinung. Insoweit kommt es letztlich nicht mehr auf das genehmigte Neubauvorhaben …str. 5 mit einer Verhältniszahl von 0,30 an, abgesehen davon, dass diese Genehmigung ein Indiz dafür ist, dass auch die Beklagte Verhältniszahlen von 0,25 bis 0,30 in der maßgeblichen Umgebung für unbedenklich hält.
2. Da dem Vorhaben weder sonstige planungsrechtliche noch bauordnungsrechtliche Vorschriften – und zwar weder im Prüfprogramm enthaltene noch als Gründe nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO zur Ablehnung berechtigende – entgegenstehen, war die Beklagte mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, die streitgegenständliche Baugenehmigung zu erteilen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 f. ZPO.


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