Baurecht

Gebot der Rücksichtnahme gegenüber benachbarter Wohnbebauung bei geplantem Reitplatz im Außenbereich

Aktenzeichen  1 ZB 15.126

Datum:
12.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 126512
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 35 Abs. 3 Nr. 3

 

Leitsatz

1 Im Außenbereich ansässige Betriebe müssen auf die benachbarte Wohnbebauung Rücksicht nehmen. Das in § 35 Abs. 3 Nr. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme gilt nicht nur für Außenbereichsvorhaben untereinander, sondern wirkt auch über Gebietsgrenzen hinweg und kommt auch Eigentümern zugute, deren Grundstücke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder im unbeplanten Innenbereich liegen.  (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2 Sind von dem in Rede stehenden Vorhaben Immissionen zu erwarten (hier von einem Reitplatz ausgehende Geräusche), so kann bezüglich der Zumutbarkeit auf Grundsätze und Begriffe des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zurückgegriffen werden. Stoßen Gebiete von unterschiedlicher Qualität aneinander, so sind auch sie mit einer „spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme“ belastet. Dabei ist auch der Gesichtspunkt von Bedeutung, welche der beiden miteinander unverträglichen Nutzungen zuerst verwirklicht wurde. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 K 13.224 2014-11-13 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht vorliegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Darlegungen des Klägers sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zu wecken.
An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel im Sinn dieser Vorschrift, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris). Das ist nicht der Fall.
Der Kläger wendet sich gegen die immissionsschutzrechtliche Nebenbestimmung Nummer 2.2 im Baugenehmigungsbescheid vom 9. April 2013, wonach die von dem Reitplatz mit Überdachung ausgehenden Geräusche an den nächstgelegenden relevanten Immissionsorten im allgemeinen Wohngebiet – den Wohngebäuden der Beigeladenen – tagsüber außerhalb der Ruhezeiten 55 dB(A) nicht überschreiten dürfen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, da der Kläger durch die angegriffene Nebenbestimmung nicht in seinen Rechten verletzt wird. Bei der bauplanungsrechtlichen Beurteilung hat es offen gelassen, ob das Vorhaben nach § 34 oder nach § 35 BauGB zu beurteilen ist.
Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich hinsichtlich keiner der beiden Alternativen der planungsrechtlichen Beurteilung ein Zulassungsgrund. Denn auf die unmittelbar angrenzende Wohnbebauung der Beigeladenen hat das Vorhaben des Klägers in beiden Fällen Rücksicht zu nehmen. Aus diesem Grund kann die Statthaftigkeit der vom Kläger erhobenen Anfechtungsklage (der Kläger begehrt erkennbar die Verpflichtung des Beklagten auf Anhebung des mit der Nebenbestimmung festgesetzten Immissionsrichtwerts um 5 dB(A) auf 60 dB(A) entsprechend einem Dorfgebiet) offen bleiben.
Für den Fall, dass das Vorhaben des Klägers nach § 35 BauGB zu beurteilen ist, ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Außenbereich ansässige Betriebe auf die benachbarte Wohnbebauung Rücksicht nehmen müssen. Das in § 35 Abs. 3 Nr. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme gilt nicht nur für Außenbereichsvorhaben untereinander, sondern wirkt – wie hier – auch über Gebietsgrenzen hinweg und kommt auch Eigentümern zugute, deren Grundstücke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder im unbeplanten Innenbereich liegen (vgl. BVerwG, U.v. 21.1.1983 – 4 C 59.79 – NVwZ 1983, 609 m.w.N.). Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Maßgebend ist u.a. Art und Ausmaß der schutzwürdigen Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten. Dessen Schutzbedürfnis ist gegen die ihrerseits schutzwürdigen Interessen des Bauherrn mit der Fragestellung abzuwägen, was dem einen und dem anderen nach Lage der Dinge – billigerweise – zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.1.1983 a.a.O.). Sind von dem in Rede stehenden Vorhaben Immissionen zu erwarten, so kann bezüglich der Zumutbarkeit auf Grundsätze und Begriffe des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zurückgegriffen werden. Stoßen Gebiete von unterschiedlicher Qualität aneinander, so sind auch sie mit einer „spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme“ belastet. Dass hierbei auch der Gesichtspunkt von Bedeutung ist, welche der beiden miteinander unverträglichen Nutzungen zuerst verwirklicht wurde, ergibt sich ebenfalls aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.1975 – IV C 71.73 – BVerwGE 50, 49; B.v. 28.9.1993 – 4 B 151.93 – juris Rn. 12).
Daran gemessen musste der Kläger auch schon bislang Rücksicht auf die vorhandene Wohnbebauung der Beigeladenen, die an den Außenbereich grenzt, nehmen. Angesichts der insoweit allein vorliegenden Wohnbebauung und deren konkreter Schutzwürdigkeit ist die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der maßgebliche Immissionsrichtwert liege hier bei den Immissionsrichtwerten für allgemeine Wohngebiete, nicht zu beanstanden (vgl. Hess. VGH, U.v. 30.10.2009 – 6 B 2689.09 – juris Rn. 11). Die Baugenehmigungen zur Errichtung der Wohnbebauung der Beigeladenen hat der Kläger nicht angegriffen. Auf die Frage, ob er als Nachbar im Rahmen dieser Baugenehmigungsverfahren beteiligt wurde, kommt es nicht an. Im Übrigen war der Kläger nach seinem Vortrag zu diesem Zeitpunkt bereits Eigentümer des streitgegenständlichen Grundstücks, sodass ihm die Wohnbebauung unabhängig von einer Beteiligung im Baugenehmigungsverfahren bekannt war. Soweit der Kläger auf eine etwaige Privilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB abstellt, legt die Zulassungsbegründung, in der er im Wesentlichen auf seine Äußerungen in dem Parallelverfahren (M 11 K 12.2710) verweist bzw. aus diesem zitiert, die Voraussetzungen einer Privilegierung nicht hinreichend substantiiert dar (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Daher kann offen bleiben, ob die Frage der Privilegierung für die Beurteilung, ob die (weiteren) Auswirkungen durch die Nutzung seines Grundstücks als Reitplatz mit Überdachung den Beigeladenen zuzumuten sind, eine Rolle spielt (vgl. dazu BayVGH, U.v. 30.03.2000 – 26 B 96.4101 – juris Rn. 22 wonach es in diesem Fall gleichgültig ist, ob es sich um einen „privilegierten“ Landwirt oder ein Nichtlandwirt handelt). Damit sind auch eine weitere Aufklärung sowie eine Beiziehung der Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts in dem vorgenannten Parallelverfahren nicht geboten. Dass die Beigeladenen wegen der Lage ihrer Grundstücke am Rand des Außenbereichs stärkere Immissionen hinnehmen müssen als in einem (reinen) Wohngebiet, liegt auf der Hand. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Schutzanspruch (hier der Beigeladenen) am Rande zum Außenbereich wegen dieser besonderen Lage generell vermindert (vgl. BVerwG, U.v. 19.1.1989 – 7 C 77.87 – BVerwGE 81, 197).
Auch im Innenbereich ist das Gebot der Rücksichtnahme zu beachten, und zwar unabhängig davon, ob sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB oder nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 bzw. § 6 BauNVO richtet. Das Gebot der Rücksichtnahme, das für nach § 34 Abs. 1 zu beurteilende Vorhaben im Begriff des „Einfügens“ enthalten und für nach § 34 Abs. 2 BauGB zu beurteilende Vorhaben in § 15 Abs. 1 BauNVO geregelt ist, ist in beiden Fällen zu beachten. Entgegen der Auffassung des Klägers stellt sich nach der vorliegenden Aktenlage die das Lärmschutzniveau vorgebende nähere Umgebung westlich der H. Straße nicht als Dorf- bzw. Mischgebiet dar, sondern als Gemengelage. Denn neben der Wohnbebauung auf den Grundstücken der Beigeladenen, der Wohnbebauung in dem ehemaligen Gasthaus auf FlNr. 191/3 und der Hofstelle auf dem Grundstück des Klägers sind in diesem Umgriff keine weiteren Nutzungen, die ein Dorf- bzw. Mischgebiet prägen könnten, vorhanden. Damit lässt sich die hier maßgebliche Umgebung nicht eindeutig einem bestimmten Baugebietstypus der BauNVO, insbesondere als Dorf- bzw. Mischgebiet, zuordnen. Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich der Gebietscharakter des Baugebiets auch nicht aus den Darstellungen des Flächennutzungsplans, der im fraglichen Bereich als „gemischte Baufläche“ dargestellt ist, ableiten. Der Flächennutzungsplan als vorbereitender Bauleitplan (§ 1 Abs. 2 BauGB) enthält im Grundsatz keine rechtsverbindlichen Festsetzungen und kann deshalb auch keinen rechtserheblichen Beitrag zur Wahrung der allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebiets leisten (vgl. BVerwG, U.v. 23.4.2009 – 4 CN 5.07 – BVerwGE 133, 377). Der Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Mittelwertbildung zwischen einem reinen Wohngebiet und einem Dorfgebiet sei angemessen, steht angesichts der vorstehend beschriebenen Gemengelage auch nicht die Größe der Wohnbebauung im Vergleich zur Hofstelle des Klägers entgegen.
Soweit der Kläger sich für die erstrebte Anhebung des Immissionsrichtwerts auf die Vorbelastung der Bahnstrecke München – Augsburg beruft, ist festzustellen, dass im Rahmen der Anwendbarkeit der hier maßgeblichen Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm – vom 26. August 1998 (GMBl S. 303), soweit sie – wie hier – für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen konkretisiert, als Vorbelastung nach Nummer 2.4 der TA Lärm nur Geräuschemissionen von solchen Anlagen zu berücksichtigen sind, für die die TA Lärm gilt. Der von der Bahnstrecke ausgehend Lärm hat daher außer Betracht zu bleiben. Des Weiteren kann auch dahingestellt bleiben, inwieweit der von der Bahnstrecke ausgehende Lärm in die Erweiterung und Änderung des Bebauungsplans „A… K… …garten“ der Gemeinde H… … eingeflossen ist. Dass die Gemeinde als Ortsgesetzgeber die Möglichkeiten zu nutzen hat, um im Rahmen sachgerechter Abwägung durch planerische Maßnahmen – soweit wie möglich – dafür zu sorgen, dass entstehende schädliche Umwelteinwirkungen sich nicht verwirklichen können, kann nicht zweifelhaft sein, ist aber mit der vorliegenden Genehmigung des Vorhabens des Klägers nicht vergleichbar. Entgegen der Auffassung des Klägers ist auch ohne Belang, dass die Beigeladenen als betroffene Nachbarn dem Vorhaben des Klägers zugestimmt hätten. Denn auf die Einhaltung öffentlicher Belange im Sinn des § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB können privat Betroffene nicht verzichten (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.1978 – 4 C 53.76 – juris Rn. 30).
Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, weil sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, weil sie sich im Zulassungsverfahren nicht geäußert haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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