Baurecht

Gebühren für in einer Baugenehmigung erteilte Befreiungen

Aktenzeichen  M 29 K 18.3388

Datum:
12.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40811
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayKG Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, 6 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Eine Gebührenfestsetzung für erteilte Befreiungen ist materiell rechtswidrig, wenn der Bebauungsplan hinsichtlich der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze funktionslos geworden ist und die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB insoweit nicht notwendig war. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Die Kostenrechnung vom 5. Juni 2018, die Bestandteil der Baugenehmigung vom 5. Juni 2018 ist, wird insoweit aufgehoben, als Gebühren für Befreiungen in Höhe von 37.419,34 Euro erhoben wurden. 
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Die Anfechtungsklage ist im beantragten Umfang begründet, da die Gebührenfestsetzung insoweit rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Unabhängig von der Frage, ob die im Rahmen der Kostenrechnung festgesetzten Gebühren für Befreiungen schon deshalb rechtswidrig sind, da vorliegend – jedenfalls teilweise – keine Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen, sondern die Beklagte für die Bemessung der Gebühren nach dem Rechtsgedanken aus der BauNVO hier die eigenen Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 5 BauNVO hätte heranziehen müssen, ist die Gebührenfestsetzung für die erteilten Befreiungen jedenfalls materiell rechtswidrig, da der einfache Bebauungsplan vorliegend hinsichtlich der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze funktionslos geworden ist und die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB insoweit nicht notwendig war.
1. Rechtgrundlagen für die Kostenrechnung vom 5. Juni 2018 sind Art. 1, 2, 5, 6 und 10 des Kostengesetzes (KG) i.V.m. der Verordnung über den Erlass des Kostenverzeichnisses zum Kostengesetz (Kostenverzeichnis – KVz).
Die Behörden des Staates erheben für Tätigkeiten, die sie in Ausübung hoheitlicher Gewalt vornehmen (Amtshandlungen), Kosten (Gebühren und Auslagen) nach den Vorschriften dieses Abschnitts (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 KG). Das Staatsministerium der Finanzen und für Heimat erlässt im Benehmen mit den beteiligten Staatsministerien, der Staatskanzlei und den Mitgliedern der Staatsregierung, denen Sonderaufgaben nach Art. 50 der Verfassung übertragen worden sind, das Kostenverzeichnis als Rechtsverordnung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KG). Die Höhe der Gebühren bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 KG nach dem Kostenverzeichnis.
Das Kostenverzeichnis sieht in der Anlage zum Kostenverzeichnis für die Baugenehmigungsgebühr als Tarifnummer zu Nr. 2.I.1 für die Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB die Tarifstelle 1.31 vor. Danach ist eine Gebühr in Höhe von „10 v.H. des Werts des Nutzens, der durch die Befreiung in Aussicht steht, mindestens 75,- €“ zu erheben.
2. Vorliegend waren jedoch Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB von der rückwärtigen Baugrenze aufgrund deren Funktionslosigkeit nicht zu erteilen; das Vorhaben fügt sich vielmehr gemäß § 34 Abs. 1 BauGB auch nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
Im maßgeblichen Bereich ist ein gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitetes und fortgeltendes Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB vorhanden, welches für den Bereich …, … und …- …-Straße einen Bauraum bestehend aus Baugrenzen vorsieht. Regelungen eines auf der Grundlage der Münchner Bauordnung vom 29. Juli 1895 (BayBS II S. 430) erlassenen Baulinienplans gelten als Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans weiter, soweit es sich um verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art handelt (BayVGH, U.v. 14.12.2016 – 2 B 16.1574 – juris Rn. 32; U.v. 26.10.2004 – 2 B 03.321 – juris Rn. 15; U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 13).
a. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine bauplanerische Festsetzung funktionslos sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i.S. des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8). Dass auf den unüberbaubaren Flächen verschiedentlich Nebenanlagen vorhanden sind, tut der Geltungskraft der planerischen Aussagen keinen Abbruch (BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 11). Entscheidend für die Frage der Funktionslosigkeit eines Bebauungsplanes sind bei alledem nicht die Motive der planenden Gemeinde, sondern die tatsächlichen Verhältnisse, d.h. die konkreten baulichen Entwicklungen im Planbereich (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2008 – 15 ZB 07.154 – juris Rn. 13).
b. Nach diesen Vorgaben ist die parallel zur … und nord-südlich verlaufende – rückwärtige – festgesetzte Baugrenze im Bereich der Baulinienfestsetzung an der … zwischen … und …-Straße funktionslos geworden. Die dortigen rückwärtigen Grundstücksbereiche sind nicht mehr in wesentlichen Bereichen von Bebauung freigehalten.
Der Baulinienplan zeigt dabei, dass in diesem Bereich ein Baufenster und durch die rückwärtige Baugrenze freie rückwärtige Grundstücksbereiche geschaffen werden sollten. Mit der Verwirklichung der mit der Baugrenzenfestsetzung beabsichtigten Freiräume in den hinteren Grundstücksbereichen kann jedoch nach der derzeitigen Bebauungssituation ernsthaft nicht mehr gerechnet werden. Zwar ist zunächst festzustellen, dass die sich in dem streitgegenständlichen Baulinienplan befindlichen Hauptgebäude allesamt in westlicher Richtung auch außerhalb des festgesetzten Bauraums liegen. Alle diese Gebäude sind aber unmittelbar an der östlich liegenden … situiert. Das Geviertsinnere bleibt von dieser Bebauung unberührt. Diese Grundstücke werden darüber hinaus durch die … erschlossen.
Das streitgegenständliche Grundstück … … * … (Fl.Nr. 1070/994) ist jedoch nach dem Ergebnis des Augenscheins entlang der … nahezu vollständig mit einem eingeschossigen Gebäude, in dem sich eine Apotheke befindet, und einer Garage überbaut. Im südlich davon gelegenen Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/997) befindet sich im hinteren Grundstücksbereich eine gemauerte Doppelgarage. Im hinteren westlichen Teil des Grundstücks … … (Fl.Nr. 1070/998) befinden sich Garagen sowie ein offensichtlich wohngenutztes Gebäude – ersichtlich durch ein Fenster mit Gardine und einen Briefkasten. Das daran angebaute Gebäude, das sich auf dem Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/944) befindet, beherbergt wiederum fünf Garagen. Auf dem Grundstück … … (Fl.Nr. 1070/945) befindet sich schließlich neben zwei Garagen ein weiteres rückwärtiges Gebäude, das tatsächlich doppelt so lang ist, wie im Lageplan dargestellt und damit weit in den westlichen hinteren Grundstücksbereich hineinragt. Diese Gebäude hat einen Kamin und ebenfalls ein Fenster mit Gardine. Westlich daran ist noch eine Holzhütte angebaut. Lediglich das südlichste Grundstück mit der Fl.Nr. 1064/142 ist noch gänzlich unbebaut.
Die Schaffung von rückwärtigen Gartenbereichen bzw. Freiräumen ist bei der genannten gegenwärtigen Bebauungssituation aufgrund der Quantität und Massivität der teilweisen Hauptnutzungen und Garagen, die die vorgegebenen Maße nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. BayBO überschreiten und damit nicht mehr nach § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen zugelassen werden können, und auch angesichts der großflächigen gepflasterten und geteerten Bereiche vor den rückwärtigen Gebäuden nicht mehr zu erreichen. Die westlichen rückwärtigen Grundstücksbereiche sind damit nicht (mehr) im Wesentlichen von Bebauung freigehalten. Es handelt sich bei der genannten Bebauung nicht um bloße Ausreißer oder eine flächenmäßig geringfügige Bebauung mit relativ geringfügigen Überschreitungen durch untergeordnete Nebenanlagen. Die Überschreitungen sind in Anbetracht der Anzahl und des Umfangs der Abweichungen vielmehr geeignet, die Wirksamkeit des übergeleiteten Bauliniengefüges insoweit in Frage zu stellen. Die Verwirklichung der Festsetzung ist auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen und leistet zur städtebaulichen Ordnung keinen sinnvollen Beitrag mehr. Die Festsetzung rückwärtiger Baugrenzen hat ihre diesem Ziel dienende Funktion verloren.
c. Das Vorhaben fügt sich daher gemäß § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
Der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB verwendete Parameter „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“ umfasst sowohl die konkrete Größe der Grundfläche der baulichen Anlage im Sinne einer absoluten Zahl als auch ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1987 – 4 B 60/87 – juris Rn. 2, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50/08 – juris Rn. 4). In Bezug auf Letzteres ist zu prüfen, ob sich aus der als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Umgebungsbebauung Beschränkungen in Form von faktischen Baulinien/Baugrenzen entnehmen lassen, welche bei einer Realisierung des Bauvorhabens beachtet werden müssen. Selbst wenn man eine faktische westliche Baugrenze annehmen wollte, so überschreitet das geplante Vorhaben diese nicht, da es ausweislich der Planunterlagen lediglich so weit in den hinteren Grundstücksbereich hineinragt, wie die rückwärtig gelegenen Gebäude der übrigen Grundstücke an der …
3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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