Baurecht

Gesamtunwirksamkeit eines Bebauungsplans wegen Abwägungsmangels

Aktenzeichen  15 N 19.667

Datum:
11.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9516
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47
BauGB § 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3, § 215 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Stärkung der Zentren durch Konzentration von Einzelhandelsnutzungen ist grundsätzlich ein Ziel, das den Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben (bzw. Sortimentsbeschränkungen) in nicht zentralen Lagen städtebaulich rechtfertigen kann. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Plangeber ist verpflichtet, die durch die „Erstplanung“ vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke nicht zu ignorieren und das Interesse des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands bei der Änderungsplanung in die Abwägung einzustellen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die gesetzliche Forderung, einen Mangel des Bebauungsplanes gegenüber der Gemeinde geltend zu machen (§ 215 Abs. 1 S. 1 BauGB), erfüllt auch ein im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens übermittelter Schriftsatz, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Parallelurteil zu BayVGH 15 N 19.1613 (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der am 17. Oktober 2018 öffentlich bekannt gemachte Bebauungsplan „An der A. straße I, 3. Änderung“ der Antragsgegnerin ist unwirksam.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Normenkontrollantrag hat Erfolg.
1. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Die Antragstellerin ist antragsbefugt, weil sie Eigentümerin mehrerer im Plangebiet gelegener Grundstücke ist und sich gegen die (u.a.) ihre Grundstücke betreffenden Festsetzungen des Bebauungsplans wendet, welche mit den dort normierten Nutzungsbeschränkungen in ihr Eigentumsrecht eingreifen und dieses dauerhaft belasten. Der Antragstellerin fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Normenkontrollantrag, weil die vorliegend streitgegenständliche 3. Änderung des Bebauungsplans „An der A. straße I“ durch die im Parallelverfahren 15 N 19.1613 streitgegenständliche 4. Änderung des Bebauungsplans ersetzt worden ist. Im Fall der Unwirksamkeit der 4. Änderung des Bebauungsplans würde die vorliegend streitgegenständliche 3. Änderung des Bebauungsplans wieder aufleben, da sich den Normaufstellungsakten nicht der Wille der Antragsgegnerin entnehmen lässt, die 3. Änderung des Bebauungsplans unabhängig von der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der 4. Änderung des Bebauungsplans aufzuheben. Die Antragstellerin hat daher zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unverändert ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung der Unwirksamkeit der 3. Änderung des Bebauungsplans. Sonstige Zweifel an der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags bestehen nicht.
2. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet.
a) Der streitgegenständliche Bebauungsplan ist unwirksam, weil er den Anforderungen des Abwägungsgebots nicht genügt.
aa) Das Abwägungsgebot verpflichtet die Antragsgegnerin, die für die Planung bedeutsamen öffentlichen und privaten Belange (Abwägungsmaterial) zu ermitteln und zu bewerten (§ 2 Abs. 3 BauGB) sowie sie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 Abs. 7 BauGB). Das Abwägungsgebot gilt gemäß § 1 Abs. 8 BauGB auch für die Änderung und Ergänzung von Bebauungsplänen. Gegen das rechtsstaatlich fundierte Gebot gerechter Abwägung wird verstoßen, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattfindet (Abwägungsausfall), in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss (Abwägungsdefizit), wenn die Bedeutung dieser Belange verkannt wird (Abwägungsfehleinschätzung) oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität). Für die Abwägung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan maßgebend (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB).
bb) Die Antragsgegnerin hat – ausweislich der Begründung zur 3. Änderung des Bebauungsplans – beabsichtigt, „zur Erhaltung einer funktionsfähigen Innenstadt und zur Attraktivitätssteigerung des Gesamt-Einzelhandelsstandortes…, die Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben und anderen Handelsbetrieben mit innenstadtrelevanten Sortimenten“ im Geltungsbereich des Bebauungsplans „nicht zuzulassen“. Die Stärkung der Zentren durch Konzentration von Einzelhandelsnutzungen ist grundsätzlich ein Ziel, das den Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben (bzw. Sortimentsbeschränkungen) in nicht zentralen Lagen städtebaulich rechtfertigen kann (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.10.2012 – 15 NE 12.1687 – juris Rn. 23 m.w.N.). Die Antragsgegnerin konnte dementsprechend diese – im Wortlaut der streitgegenständlichen Festsetzung allerdings nur unvollkommen zum Ausdruck gekommene – Planungsabsicht deshalb grundsätzlich auch im Rahmen der „Feinsteuerung“ der in einem Gewerbegebiet allgemein zulässigen Art der baulichen Nutzung nach Maßgabe des § 1 Abs. 5 BauNVO regeln. Sie hat jedoch im Planaufstellungsverfahren die hierbei zu berücksichtigenden privaten (eigentumsbezogenen) Belange der Antragstellerin nicht hinreichend ermittelt und bewertet. Sie hat insbesondere zu keiner Zeit in ihre Erwägungen einbezogen, dass auf den Grundstücken der Antragstellerin nach Maßgabe der bisher geltenden und auf der Grundlage der BauNVO 1968 erlassenen Festsetzungen des Bebauungsplans ohne weiteres auch die Errichtung (großflächiger) Einzelhandelsbetriebe und sonstiger (großflächiger) Handelsbetriebe zulässig gewesen wäre (vgl. § 8 BauNVO 1968) und im bisher festgesetzten Gewerbegebiet nur Einkaufszentren und Verbrauchermärkte, die vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienen und deshalb außerhalb von Kerngebieten nur in einem Sondergebiet festgesetzt werden dürfen (§ 11 Abs. 3 BauNVO 1968), ausgeschlossen gewesen wären (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1968). Der von der Antragsgegnerin für das Gewerbegebiet beabsichtigte streitgegenständliche Ausschluss von „Einzelhandelsbetrieben und anderen Handelsbetrieben mit innenstadtrelevanten Sortimenten“ bzw. die damit verbundenen Sortimentsbeschränkungen, welche erst auf der Grundlage der seit der BauNVO 1977 geltenden normativen Möglichkeit einer Feindifferenzierung der planungsrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Arten von Nutzungen im Baugebiet in Betracht kommen (vgl. § 1 Abs. 5 BauNVO in der seit der BauNVO 1977 geltenden und seitdem im Wesentlichen unveränderten Fassung), unterstellt demgegenüber das bisher auf der Grundlage der BauNVO 1968 festgesetzte Gewerbegebiet der nun aktuell geltenden Fassung der BauNVO mit der Folge, dass – von den Sortimentsbeschränkungen abgesehen – nunmehr auch großflächige Einzelhandelsbetriebe und sonstige großflächige Handelsbetriebe – anders als bisher – im Gewerbegebiet nicht mehr zulässig sind (vgl. § 11 Abs. 3 Nr. 2 und 3 BauNVO). Diese erhebliche und die Antragstellerin belastende Beschränkung des Eigentumsrechts hat die Antragsgegnerin im Planaufstellungsverfahren – ausweislich der Normaufstellungsakten – nicht berücksichtigt und auch in ihre Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange nicht einbezogen. Die der Abwägung im Stadtrat zugrunde liegende Beschlussvorlage befasst sich dementsprechend lediglich mit den von den Behörden und Trägern öffentlicher Belange im Planaufstellungsverfahren abgegebenen Stellungnahmen, nicht jedoch mit den von der Planung betroffenen privaten Belangen. Hierzu hätte jedoch – auch wenn die Antragstellerin während der Öffentlichkeitsbeteiligung keine Einwendungen erhoben hat – deshalb Anlass bestanden, weil die Antragsgegnerin verpflichtet gewesen ist, die durch die „Erstplanung“ vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke nicht zu ignorieren und das Interesse des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands bei der Änderungsplanung in die Abwägung einzustellen (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 18.5.2016 – 4 BN 7/16 – juris Rn. 4 m.w.N.). Dass sie dies unterlassen hat, begründet schon für sich allein einen beachtlichen Abwägungsmangel (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB). Denn die Antragsgegnerin hat damit einen von der Planung berührten wesentlichen Belang, der ihr bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, nicht zutreffend ermittelt und bewertet. Dieser Mangel ist auch offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen. Die Antragsgegnerin hätte bei hinreichender Berücksichtigung der – von ihr nur als geringfügig betroffen angesehenen – privaten Belange der Antragstellerin die streitgegenständlichen Festsetzungen des Bebauungsplans möglicherweise nicht oder mit anderem Inhalt beschlossen.
Der genannte Ermittlungs- und Bewertungsmangel ist nicht durch Fristablauf unbeachtlich geworden (§ 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB), weil die Antragstellerin mit der Stellung des Normenkontrollantrags diesen Mangel innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung der Satzung (rechtzeitig) schriftlich (auch) gegenüber der Antragsgegnerin unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht hat. Die gesetzliche Forderung, den Mangel gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, erfüllt auch der im Rahmen des Normenkontrollverfahrens der Antragsgegnerin übermittelte Schriftsatz der Antragstellerin, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 18.10.2016 – 15 N 15.2613 – juris Rn. 16).
cc) Der Abwägungsmangel in Bezug auf die Festsetzungen zum Gewerbegebiet führt zur Gesamtunwirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans, weil die Antragsgegnerin nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen den Bebauungsplan ohne den unwirksamen (wesentlichen) Teil betreffend das Gewerbegebiet insgesamt nicht beschlossen hätte.
b) Nach alledem kommt es für die gerichtliche Entscheidung nicht mehr darauf an, ob der Bebauungsplan ebenfalls wegen der von der Antragstellerin gerügten Verfahrensfehler oder eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit unwirksam ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
5. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.


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