Baurecht

Isolierte Befreiung von einer Bebauungsplanfestsetzung, Funktionslosigkeit einer Bebauungsplanfestsetzung, Grundzüge der Planung

Aktenzeichen  M 11 K 19.510

Datum:
20.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49486
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.
I. Die Kläger haben gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten isolierten Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans Nr. 49/ …; der streitgegenständliche Versagungsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt daher keine Rechte der Kläger (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der von den Klägern geltend gemachte Anspruch besteht nicht, weil das errichtete Nebengebäude der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans Nr. 49/ … widerspricht (nachfolgend 1.), diese Festsetzung wirksam ist (nachfolgend 2.) und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nicht vorliegen (nachfolgend 3.).
1. Das streitgegenständliche Gebäude widerspricht der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans. Der durchgeführte Augenschein hat bestätigt, dass das Gebäude so errichtet ist, wie dies aus dem eingereichten Bauplan (Bl. 21 d. A.) hervorgeht und durch das Foto auf Bl. 28 d. A. dokumentiert ist. Es liegt daher – was von den Klägern auch nicht bestritten wird – vollständig mit seiner gesamten Grundfläche von 17,15 m² in dem in Nr. A.8.4 als Vorgartenzone bezeichneten Bereich des Bebauungsplans. In diesem Bereich sind nach der textlichen Festsetzung Nr. A.8.4 u.a. Nebenanlagen nicht zulässig, wobei es keine Gründe für die Annahme gibt, dass die Beklagte den Begriff der „Nebenanlage“ in der fraglichen Festsetzung anders verstanden wissen wollte als in § 14 Abs. 1 BauNVO. Da das streitgegenständliche Gebäude ohne weiteres als Nebenanlage i. S. v. § 14 Abs. 1 BauNVO zu qualifizieren ist, widerspricht es daher der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans.
2. Die Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans ist wirksam.
a) Die Festsetzung wurde von der Beklagten anfänglich wirksam getroffen.
Die Beklagte war befugt, über die im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen hinaus eine den Standort von Nebenanlagen einschränkende Regelung zu treffen. Das folgt ohne weiteres aus § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO, wonach Nebenanlagen im Sinne des § 14 BauNVO außerhalb der Baugrenzen zwar zugelassen werden können, aber nur, soweit der Bebauungsplan nichts anderes festsetzt.
Sonstige Rechtsfehler, die zur anfänglichen Unwirksamkeit der Festsetzung führen könnten, bestehen nicht. Insbesondere kann dem Vortrag der Klägerseite nicht gefolgt werden, die Festsetzung zur Vorgartenzone sei von der Beklagten abwägungsfehlerhaft getroffen worden. Der Planzeichnung des Bebauungsplans, in der die Bestandsgebäude dargestellt sind, kann man entnehmen, dass der gesamte als Vorgartenzone festgesetzte Bereich des Bebauungsplans zum Zeitpunkt seiner Aufstellung praktisch frei von jeglichen Gebäuden war. Das ohne weiteres erkennbare und städtebaulich legitime Ziel der Gemeinde, diesen Bereich auch künftig u. a. von Gebäuden freizuhalten, war daher zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans umsetzbar. Da die Beklagte auf den Grundstücken Baugrenzen und in Nr. A.7.1 der textlichen Festsetzungen für Garagen und Carports einen Mindestabstand von 5 m zur Straßenbegrenzungslinie festgesetzt hat, hat sie auch hinreichende Regelungen dafür getroffen, dass in der Vorgartenzone keine Gebäude in der Vorgartenzone errichtet werden können, die keine Nebenanlagen im Sinne des § 14 Abs. 1 BauNVO darstellen. Soweit die Festsetzung über die Vorgartenzone auch verbietet, in diesem Bereich offene Stellplätze zu errichten, und je Grundstück in der Vorgartenzone nur eine 5 m breite Zufahrt sowie einen maximal 1,5 m breiten Zugang erlaubt, hat der Augenschein ergeben, dass die Funktion der Vorgartenzone lediglich im westlichen Bereich des Bebauungsplans auf zwei Grundstücken in der G. H1. Straße (Hausnummer 15 ½ und 25) sehr deutlich beeinträchtigt ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Situation auch zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans dort schon gegeben war, so gibt es andererseits keinen Grund für die Annahme, dass zum damaligen Zeitpunkt auf einer nicht unwesentlichen Anzahl weiterer Grundstücke im Umgriff des Bebauungsplans eine vergleichbare Situation bestanden hat. Das ist auch nicht substantiiert dargelegt. Insgesamt ist daher festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans die Festsetzung zur Vorgartenzone nur in untergeordneten Umfang nicht umsetzbar war, wenn man davon ausgeht, dass die vorhandenen Versiegelungen Bestandsschutz genossen. Nach Ansicht der Kammer beeinträchtigt dies die anfängliche Rechtmäßigkeit der getroffenen Festsetzung über die Vorgartenzone nicht. Die Festsetzung stellt auch keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Eigentums der Kläger dar. Insbesondere erlaubt der Bebauungsplan grundsätzlich, Nebenanlagen auch außerhalb der Baugrenzen zu errichten, nur eben nicht in der Vorgartenzone. Ohne Bedeutung ist schließlich, ob sich außerhalb des Gebietes des Bebauungsplans zum Zeitpunkt seiner Aufstellung in der Umgebung faktisch vergleichbare Vorgartenbereiche befunden haben oder nicht. Die Beklagte war berechtigt, das von ihr verfolgte städtebauliche Ziel im Umgriff des Bebauungsplans auch dann zu verfolgen, wenn in der Umgebung des Bebauungsplans keine vergleichbare Möglichkeit (mehr) bestand. Ob dies stets gilt, insbesondere auch dann, wenn der Umgriff des Bebauungsplans sich nur auf ein einzelnes oder ganz wenige Grundstücke begrenzt, kann dahinstehen. Im vorliegenden Fall ist das Plangebiet jedenfalls ohne weiteres so groß, dass nicht ersichtlich ist, weshalb das von der Beklagten mit der Festsetzung verfolgte Ziel kein städtebaulich legitimes Anliegen (gewesen) sein sollte.
b) Die Festsetzung ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
Eine bauplanerische Festsetzung tritt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (grundlegend BVerwG, Urteil vom 29. April 1977 – IV C 39/75 – juris). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, Urteil vom 28. April 2004 – 4 C 10/03 – juris Rn. 15).
Eine solche Situation liegt hier nicht vor. Unerheblich ist insoweit, welche baulichen Anlagen sich in den Vorgärten auf außerhalb des Plangebiets gelegenen Grundstücken befinden. Maßgeblich ist die Vorgartenzone des Bebauungsplans, die nahezu das gesamte Plangebiet „einrahmt“, aus dem Plan mit dem Lineal gemessen eine Länge von jedenfalls mehr als 800 m hat und aktuell nach dem Lageplan etwa 23 selbständige Grundstücke betrifft. An Gebäuden vorgefunden wurden beim Augenschein in der Vorgartenzone des Plangebiets – neben dem streitgegenständlichen Gebäude und dem vergleichbaren Gebäude auf dem Nachbargrundstück Flurnummer 1618/12 – lediglich ein kleineres Funktionshäuschen auf dem Anwesen G. H1. straße 6b und ein größeres Müllhäuschen und Mülltonnen auf dem Anwesen G. H1. Straße 19. Entlang der G. Straße ist die Vorgartenzone teilweise in einem mit der Festsetzung Nr. A.8.4 unvereinbaren Umfang versiegelt. Insgesamt genügen diese wenigen in Widerspruch zur Festsetzung Nr. A.8.4 stehenden Fälle jedoch nicht, um angesichts der Größe des Bebauungsplangebiets, der Gesamtlänge der Vorgartenzone und der Anzahl der von ihr betroffenen Grundstücke annehmen zu können, dass im Bebauungsplangebiet die tatsächliche Entwicklung einen Zustand erreicht hätte, der nach der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einem in die Fortgeltung der Festsetzung Nr. A.8.4 gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nehmen würde. Das gilt unabhängig davon, ob man die Regelung, dass in der Vorgartenzone keine Nebenanlagen errichtet werden dürfen (Nr. A.8.4 Satz 2) und die weitere Regelung, dass die Vorgartenzone je Baugrundstück nur durch eine maximal 5 m breite Zufahrt und einen maximal 1,5 m breiten Zugang unterbrochen werden darf (Nr. A.8.4 Satz 1) als getrennte Festsetzungen im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung betrachtet oder – zusammengenommen – als eine Festsetzung in diesem Sinne. In beiden Fällen ergibt die Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung der Größe des Gebiets, der Länge der Vorgartenzone und der Anzahl der betroffenen Grundstücke, dass eine Funktionslosigkeit nicht angenommen werden kann, selbst wenn insbesondere auf den Grundstücken G. H1. Straße 15 ½ und 25 die Festsetzung Nr. 8.A.4 Satz 1 nicht durchsetzbar sein sollte.
3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 liegen nicht vor. Nach § 31 Abs. 2 BauGB ist die Erteilung einer Befreiung ungeachtet weiterer Voraussetzungen nur zulässig, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Das ist jedoch der Fall.
a) Die festgesetzte Vorgartenzone ist ein Grundzug der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB.
Mit den Grundzügen der Planung umschreibt das Gesetz die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu Grunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2004 – 4 B 35/04 – juris). Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind (vgl. BayVGH, Urteil vom 30. März 2009 – 1 B 05.616 – BauR 2009, 1414). Davon ausgehend ist nicht zu verneinen, dass die festgesetzte Vorgartenzone einen Grundzug der Planung darstellt. Die Beklagte hat mit einer einzigen Ausnahme – der heutigen Flurnummer 1625/2 – für alle Grundstücke, die an einer der das Plangebiet umgrenzenden öffentliche Straße liegen, einen solchen Vorgartenbereich festgesetzt. Nahezu der gesamte Umgriff des Bebauungsplans wird durch die Vorgartenzone „eingerahmt“. Der Begründung des Bebauungsplans ist auch zu entnehmen, dass die Einhaltung dieser Vorgartenbereiche eine wichtige Zielvorstellung der Gemeinde war (vgl. Nrn. 3 und 4.3 der Begründung).
b) Die begehrte Befreiung berührt auch im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB diesen Grundzug der Planung.
Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der (Um-)planung möglich ist. Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen (vgl. BayVGH Urteil vom. 12. Februar 2015 – 2 B 14.2817 – juris).
Daran gemessen berührt die begehrte Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans die Grundzüge der Planung. Das streitgegenständliche Nebengebäude besitzt nach den vorliegenden Plänen eine Grundfläche von 17,15 m² und eine Höhe von 2,20 m. Es liegt vollständig in der Vorgartenzone. Es handelt sich nicht um eine bauliche Anlage, die das mit der Festsetzung verfolgte städtebauliche Ziel nicht nennenswert beeinträchtigt. Schon allein nach seiner Größe gehört dieses Gebäude ersichtlich zu denjenigen Nebenanlagen, die die Beklagte nach dem erkennbaren Zweck der Vorgartenzone an dem gewählten Standort gerade nicht zulassen wollte und das für die übrigen im Bebauungsplangebiet liegenden Grundstücke, auf denen ebenfalls eine Vorgartenzone von Bebauung freigehalten werden muss, eine ganz erhebliche negative Vorbildwirkung hat.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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