Baurecht

Keine Rechtsverletzung des Nachbarn bei Bau eines Wohnhauses im unbeplanten Innenbereich, wenn sich das Vorhaben entsprechend “einfügt” – Kein spezieller Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn aufgrund der Dimension des Bauvorhabens

Aktenzeichen  AN 3 K 16.1273

Datum:
12.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO BauNVO § 23 Abs. 5 S. 2
BayBO BayBO Art. 6, Art. 57 Abs. 5 S. 1 Nr. 2, Art. 62 Abs. 4, Art. 65, Art. 66 Abs. 1 S. 1, S. 6
VwGO VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Voraussetzung für die Annahme eines speziellen Gebietsprägungserhaltungsanspruches ist es, dass nicht nur ein Widerspruch zur bisherigen Prägung des Baugebiets besteht, sondern dass durch die Dimension der Anlage eine neue Art der baulichen Nutzung ins Baugebiet hineingetragen wird, wenn also im Einzelfall „Quantität in Qualität“ umschlägt, d.h., wenn die Größe der baulichen Anlage die Zulässigkeit der Nutzungsart erfassen und beeinflussen kann (hier verneint). (Rn. 39) (red. LS Andreas Decker)
2 Die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächen stellt ein Indiz dafür dar, dass keine erdrückende Wirkung vorliegt. (Rn. 46) (red. LS Andreas Decker)
3 Einen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts, dass der einzelne einen Anspruch darauf hat, vor jeglicher Wertminderung bewahrt zu werden, gibt es nicht. (Rn. 49) (red. LS Andreas Decker)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Gegenstand der vorliegenden Klage ist die Baugenehmigung der Beklagten vom 10. Juni 2016 für ein Bauvorhaben der Beigeladenen.
Die erteilte Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie zugleich in seinen Rechten verletzt ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutze des Nachbarn dient, mithin drittschützende Wirkung hat (vgl. BVerwG v. 6.10.1989 – 4 C 40.87 – juris).
I.
Soweit die Klägervertreter vortragen, dass die Klägerin nur mangelhaft am Baugenehmigungsverfahren beteiligt worden sei, führt dies nicht zum Erfolg der Klage. Die Beteiligung des Nachbarn im Baugenehmigungsverfahren regelt Art. 66 BayBO. Nach Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind den Eigentümern der benachbarten Grundstücke vom Bauherrn Lageplan und Bauzeichnungen zur Unterschrift vorzulegen. Nach Art. 66 Abs. 1 Satz 6 BayBO ist einem Nachbarn eine Ausfertigung der Baugenehmigung zuzustellen, soweit er nicht zugestimmt hat oder seinen Einwendungen nicht entsprochen worden ist. Im vorliegenden Fall wurden der Klägerin bzw. deren Bevollmächtigten entsprechende Pläne von der Beigeladenen übersandt. Zudem hat die Beigeladene angeboten, der Klägerin in einem persönlichen Gespräch das Bauvorhaben vorzustellen. Dieses Angebot wurde von der Klägerin bzw. deren Bevollmächtigten nicht wahrgenommen. Nachdem die Klägerin die Unterschrift auf den Plänen verweigerte, wurde die Baugenehmigung von der Beklagten ordnungsgemäß zugestellt.
Die Voraussetzungen des Art. 66 BayBO sind damit erfüllt. Mängel an der Verfahrensbeteiligung sind nicht erkennbar.
II.
Die Baugenehmigung der Beklagten vom 10. Juni 2016 verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
1. Für das vorliegende Gebiet, in welchem das Bauvorhabengrundstück liegt, existiert kein qualifizierter Bebauungsplan, sondern lediglich ein Baulinienplan. Die Vorgaben des Baulinienplanes wurden vorliegend eingehalten. Im Übrigen beurteilt sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens nach § 34 BauGB, da sich das Vorhabengrundstück innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile befindet.
2. Soweit die Klägerbevollmächtigten vortragen, dass sich das Vorhaben der Beigeladenen nicht einfüge, da es höher, breiter und voluminöser als die bisherige Bebauung auf dem Grundstück der Beigeladenen sei und auch teilweise höher als die Umgebungsbebauung und die Klägerbevollmächtigten damit ein Einfügen des Bauvorhabens in die Umgebung dem Maß der baulichen Nutzung nach verneinen, führt dies nicht zum Erfolg der Klage.
Die Vorschriften zum Maß der baulichen Nutzung im Rahmen des § 34 BauGB sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris). Zum Schutze der Nachbarn ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend. Ein darüber hinausgehender, von einer tatsächlichen Beeinträchtigung unabhängiger Anspruch auf Einhaltung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung ist regelmäßig nicht zu bejahen.
3. Eine Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Wahrung der Gebietsart scheidet vorliegend aus. Das Vorhaben der Beigeladenen besteht aus einem Doppelhaus, welches demgemäß wohngenutzt werden soll. Unstreitig ist die umgebende Bebauung um das Vorhabengrundstück der Beigeladenen herum ganz überwiegend von Wohnbebauung geprägt, so dass ein Einfügen des Vorhabens der Art der baulichen Nutzung nach gegeben ist, der Gebietserhaltungsanspruch nicht verletzt ist.
4. Soweit die Klägerbevollmächtigten vortragen, dass das Vorhaben der Beigeladenen sich nicht einfüge, da es nicht dem Eigenheimcharakter des Wohngebietes entspreche, da das geplante Vorhaben der Beigeladenen zu hoch, zu breit, zu spitzgiebelig und insgesamt zu voluminös sei und es sich damit nicht in die Umgebung einfüge, so ist die Klage aus diesem Grund nicht erfolgreich.
Sofern durch diese Angaben der Klägerbevollmächtigten der sogenannte „spezielle Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ bemüht wird, so sind, sofern seine Existenz überhaupt ange nommen wird (zweifelnd etwa BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 2 ZB 11.2653 – juris; offengelassen in BayVGH, B.v. 3.2.2014 – 9 CS 13.1916 – juris), dessen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Nach diesem speziellen Gebietsprägungserhaltungsanspruch (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2002 – 4 B 86.01 – juris; VGH Baden-Württemberg, B.v. 27.7.2001 – 5 S. 1093.00 – juris; VG Ansbach, B.v. 13.1.2016 – AN 3 S. 15.02463 – juris) könnte ein allgemein oder ausnahmsweise zulässiges Vorhaben dennoch unzulässig sein auf Grund Widerspruchs des Vorhabens zur allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebiets (vgl. Decker, JA 2007, 55). Ein an sich zulässiges, jedoch gebietsunverträgliches Vorhaben, könnte damit vom Nachbarn ohne konkrete und individuelle Betroffenheit abgewehrt werden.
Voraussetzung für die Annahme eines derartigen Anspruchs wäre jedoch, dass nicht nur ein Widerspruch zur bisherigen Prägung des Baugebiets besteht, sondern dass durch die Dimension der Anlage eine neue Art der baulichen Nutzung ins Baugebiet hineingetragen wird. Dies kann aber nur dann der Fall sein, wenn im Einzelfall „Quantität in Qualität“ umschlägt, d.h., wenn die Größe der baulichen Anlage die Zulässigkeit der Nutzungsart erfassen und beeinflussen kann (vgl. BayVGH, B.v. 9.11.2008 – 14 ZB 08.2327 – juris), was nur in seltenen Einzelfällen denkbar sein dürfte.
Selbst bei Zugrundelegung, dass ein solcher spezieller Gebietsprägungserhaltungsanspruch existierte, sind dessen Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt.
Nach den von der Beigeladenen eingereichten Unterlagen und Plänen ergibt sich, dass das geplante Doppelhaus mit seinen zwei oberirdischen Vollgeschossen und einem nicht zu einem Vollgeschoss ausgebauten Dachgeschoss und einer Höhe von etwa 12,59 m nicht über das grundsätzlich übliche Maß einer Wohnbebauung hinausgeht. Zwar mag das Bauvorhaben der Beigeladenen in seiner Höhe und dem Volumen geringfügig einzelne Gebäude der Umgebungsbebauung übertreffen. Luftbilder der Umgebungsbebauung zeigen jedoch, dass dieses Übertreffen nur geringfügig ist und nicht von einem solchen Ausmaß, dass sich dieses Vorhaben der Beigeladenen in ein von Wohnnutzung geprägtes Gebiet nicht mehr einfügte.
5. Das nachbarliche Rücksichtnahmegebot, welches sich vorliegend aus dem Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ des § 34 Abs. 1 BauGB ergibt, ist vorliegend nicht verletzt.
Gegen eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens spricht bereits, dass die bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen eingehalten sind und damit eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung, wie von Art. 6 BayBO gefordert, gewährleistet ist (vgl. BVerwG v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris). Den durch das streitgegenständliche Bauvorhaben verwirklichten Größen- und Lageverhältnissen ist nach Auffassung des Gerichts nichts für die Annahme einer Rücksichtslosigkeit des Beigeladenenvorhabens gegenüber dem Klägergrundstück zu entnehmen. Insbesondere ist den im Genehmigungsverfahren vorgelegten Plänen betreffend die Abstandsflächen zu entnehmen, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen eingehalten werden.
Unter diesem Aspekt kann die von der Klägerin vorgetragene Verschattung insoweit nicht rücksichtslos sein.
Eine Rücksichtslosigkeit des Beigeladenenvorhabens wäre nur dann zu bejahen, wenn von diesem Vorhaben für die Klägerin eine unzumutbare Beeinträchtigung ausginge, welche insbesondere dann anzunehmen wäre, wenn nach den Umständen des konkreten Einzelfalles das geplante Bauvorhaben das Grundstück der Klägerin „einmauern“ würde, wenn dem streitgegenständlichen Vorhaben „abriegelnde“ oder „erdrückende“ Wirkung zukäme, was vorliegend jedoch, so die Auffassung des Gerichts, unter Zugrundelegung der genehmigten Pläne nicht der Fall ist.
Eine derartige Wirkung eines Vorhabens kann nur dann vorliegen, wenn ein durch seine Ausmaße und Gestaltung als außerordentlich zu qualifizierender Baukörper den Bewohnern des Nachbargrundstücks den Eindruck des „Eingemauertseins“ vermittelt (vgl. BVerwG v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris; BayVGH v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris). Dies kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris). Dabei stellt, wie bereits ausgeführt, die vorliegend gegebene Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächen ein Indiz dafür dar, dass keine erdrückende Wirkung vorliegt (vgl. BayVGH v. 30.9.2015 – 9 CS 15.1115 – juris). Solche „übergroße“ Baukörper wurden in der obergerichtlichen bzw. höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang beispielsweise dann angenommen, wenn ein zwölfgeschossiges Gebäude in einer Entfernung von 15 m zu einem Wohnhaus errichtet werden sollte oder bei Errichtung dreier 11,0 m hoher Siloanlagen in einem Abstand von 6 m zu einem Wohnhaus (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2006 – 1 ZB 04.3506). Aus den vorliegenden Lageplänen wird deutlich, dass der Abstand zwischen dem Vorhaben der Beigeladenen und dem Wohnhaus der Klägerin nach den genannten Maßstäben zu groß ist, als dass für eine Rücksichtslosigkeit Anhaltspunkte bestünden; insbesondere ist auch der gesetzliche Mindestabstand von 3 m eingehalten. Es ist vorliegend nicht auszuschließen, dass das Grundstück der Klägerin durch das Vorhaben mehr verschattet wird. Jedoch wird die Grenze zur Rücksichtslosigkeit nicht überschritten.
Abgesehen von der Einhaltung der Abstandsflächen befinden sich sowohl nordöstlich als auch südwestlich des klägerischen Grundstücks Bebauungen erst in einigem Abstand, insbesondere, da im Südwesten die Straße … verläuft. Auf Grund dieser Begebenheiten und der weiten Abstände kann vorliegend ein „Erdrücken“ oder „Einmauern“ des klägerischen Grundstücks nicht angenommen werden.
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots muss auch insoweit ausscheiden, als die Klägerbevollmächtigten vortragen, es käme durch den Bau des Vorhabens der Beigeladenen zu einem Wertverlust des Grundstücks der Klägerin.
Einen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts, dass der einzelne einen Anspruch darauf hat, vor jeglicher Wertminderung bewahrt zu werden, gibt es nicht (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2016 – 15 CS 16.244 – juris). Darüber hinaus hat die Klägerin bzw. ihre Bevollmächtigten nichts Substantiiertes hierzu vorgetragen. Auch sonst ist hierzu nichts erkennbar.
Nach alldem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Da sich die Beigeladene nicht durch eine eigene Antragstellung am Kostenrisiko des Verfahrens beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.


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