Baurecht

Klage gegen Bauvorbescheid nach Bestandskraft der daraus hervorgegangenen Baugenehmigung

Aktenzeichen  AN 9 K 16.00651

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34
BauNVO BauNVO § 15
BayBO BayBO Art. 6 Abs. 7, Art. 71

 

Leitsatz

1 Ein Bauvorbescheid wird durch eine spätere Baugenehmigung grundsätzlich nicht konsumiert, zumal er auch Grundlage für eine geänderte neue Baugenehmigung sein kann. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2 Sind die Regelungen des Bauvorbescheids vollständig in der Baugenehmigung umgesetzt worden und ist dieser bestandskräftig geworden, ist eine Klage gegen den Bauvorbescheid wegen Entfallens des Rechtsschutzbedürfnisses (zwischenzeitlich) unzulässig geworden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es besteht keine Verpflichtung der Baubehörde, neben der öffentlichen Bekanntmachung nach dem Maß der individuellen Betroffenheit einzelne Nachbarn zusätzlich noch gesondert zu unterrichten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
4 Bei den Abstandsvorschriften handelt es sich um Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Grundeigentums, die dem Grundsatz nach allein schon aufgrund ihrer Wechselseitigkeit gerechtfertigt sind. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
5 Der Nachbar ist nach dem Grundsatz von Treu und Glauben darin gehindert, die Verletzung nachbarschützender Vorschriften zu rügen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück nicht diesen Vorschriften entspricht und wenn die beiderseitigen Abweichungen etwa gleich gewichtig sind und nicht zu schlechthin untragbaren Verhältnissen führen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
I.
Das Gericht ist der Überzeugung, dass die Klage bereits mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist. Die Klägerin hat nämlich kein schutzwürdiges Interesse (mehr) daran, gerichtlichen Rechtsschutz gegen den Bauvorbescheid in Anspruch zu nehmen, da für das Vorhaben, dessen bauplanungs- und abstandsflächenrechtliche Zulässigkeit mit dem hier streitgegenständlichen Vorbescheid positiv beurteilt wurde, zwischenzeitlich eine der Klägerin gegenüber bestandskräftige Baugenehmigung vorliegt. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass ein Bauvorbescheid durch eine spätere Baugenehmigung zwar grundsätzlich nicht konsumiert wird und er auch Grundlage für eine geänderte neue Baugenehmigung sein kann. Dadurch, dass die Regelungen des Bauvorbescheids jedoch vollständig in der Baugenehmigung vom 19. September 2017 umgesetzt sind, kann die Klägerin die Nachteile, die sie durch ihre Anfechtungsklage gegen den Vorbescheid gerade abwehren möchte, nicht mehr vermeiden. Die bestandskräftige Baugenehmigung berechtigt die Beigeladene dazu, die erstrebte Klinikerweiterung vorzunehmen. Selbst bei einem Erfolg der Anfechtungsklage gegen den Vorbescheid könnte die Klägerin ihre Rechtsstellung gegenüber diesem Vorhaben damit nicht mehr verbessern, so dass ihre Klage wegen Entfallens des Rechtsschutzbedürfnisses (zwischenzeitlich) unzulässig geworden ist (vgl. BayVGH, U.v. 14.7.2006 – 1 BV 03.2179 u.a. – juris Rn. 26).
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die der Beigeladenen am 19. September 2017 erteilte Baugenehmigung ihr gegenüber auch bereits bestandskräftig geworden. So war die gemäß Art. 66 Abs. 2 Satz 4 BayBO im Amtsblatt der Beklagten vom 4. Oktober 2017 vorgenommene öffentliche Bekanntmachung nicht fehlerhaft, sondern erfüllte die gesetzlichen Voraussetzungen und damit auch die Anstoßwirkung, so dass die Zustellungsfiktion des Art. 66 Abs. 2 Satz 6 BayBO ausgelöst und bedingt dadurch der Lauf der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Gang gesetzt wurde.
Entgegen dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung lässt sich eine Notwendigkeit, in der Bekanntmachung auch die Identität des Bauherrn preiszugeben, aus dem Gesetz nicht herleiten und wäre mit bestehenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen auch nicht in Einklang zu bringen. Auch besteht keine Verpflichtung der Beklagten, neben der öffentlichen Bekanntmachung nach dem Maß der individuellen Betroffenheit einzelne Nachbarn zusätzlich noch gesondert zu unterrichten bzw. eine Zustellung der Baugenehmigung an diese zu bewirken. Eine derartige Verpflichtung wäre mit der mit Art. 66 Abs. 2 Satz 4 bis 6 BayBO verbundenen gesetzgeberischen Intention der Rechtssicherheit und Verfahrensvereinfachungen schon nicht vereinbar. Die Klagefrist wurde mithin mit Ablauf des 4. Oktober 2017 in Gang gesetzt und endete damit am 6. November 2017 (Montag). Die Baugenehmigung vom 19. September 2017 ist mithin bestandskräftig.
An dem Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses ändert sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nichts dadurch, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben letztlich mit dem Vorhaben des Baugenehmigungsbescheids, insbesondere im Hinblick auf die Veränderung der Wandhöhe, nicht mehr vergleichbar sei. Verkannt wird hierbei nämlich bereits, dass die Baugenehmigung diesbezüglich noch über den Vorbescheid hinausgeht, dem Vorbescheid also auch insoweit keine eigenständige Regelungswirkung mehr verbleibt. Auch wurde durch die Änderung des Vorhabens dieses weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht derart modifiziert, dass es sich als ein völlig anderes (aliud) darstellen würde. Einzig in dieser Situation wäre denkbar, dass dem Vorbescheid auch nach Erteilung der zwischenzeitlich bestandskräftigen Baugenehmigung noch eine Regelungswirkung zukommt und damit ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung des Vorbescheides (noch) anzuerkennen wäre.
II.
Selbst wenn man aber entgegen der Auffassung der Kammer das Rechtsschutzinteresse bejahen würde, hätte die Klage keinen Erfolg, da sie in jedem Fall (auch) unbegründet ist. Der Vorbescheid der Beklagten vom 9. März 2016 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 14. September 2016 verletzt die Klägerin nicht in subjektiv-öffentlichen Rechten, so dass ihr auch kein Anspruch auf dessen Aufhebung zusteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Bei der Klage eines Dritten – hier eines baurechtlichen Nachbarn – hat dieser aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nämlich nicht schon dann einen Anspruch auf Aufhebung des an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt, wenn dieser lediglich objektiv rechtswidrig ist; vielmehr muss sich die Rechtswidrigkeit gerade aus solchen Normen ergeben, die zum behördlichen Prüfungsumfang gehören (vgl. Art. 68 Abs. 1 Satz 1; BayVGH, B.v. 10.10.2013 – 15 ZB 11.1480 – juris Rn. 9) und zugleich auch dem Schutz dieses Dritten dienen (sog. Schutznormtheorie, vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Eine Rechtsverletzung der Klägerin durch den streitgegenständlichen Vorbescheid kommt daher nur in Betracht, soweit die darin getroffenen Feststellungen zur Zulässigkeit des Vorhabens gegen den nachbarschützenden Gehalt der im Verfahren geprüften Normen verstoßen. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Klägerin wird weder durch die Feststellung der abstandsrechtlichen Zulässigkeit (dazu unter 1.) noch durch die Feststellung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit (dazu unter 2.) in ihren Rechten verletzt.
1. Aufgrund der von der Beklagten am 11. Juli 2016 erlassenen und am 1. August 2016 in Kraft getretenen Abstandsflächensatzung (AFS) ist für die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen schon nicht mehr notwendig (dazu unter 1.1). Die von der Beklagten im Vorbescheid vom 9. März 2016 erteilte Abweichung wäre aber unabhängig davon im Ergebnis auch nicht als rechtsfehlerhaft zu beanstanden (§ 114 VwGO; dazu unter 1.2).
1.1 Durch den Erlass der AFS der Beklagten ist gegenüber der Sach- und Rechtslage bei Erteilung des Vorbescheids im März 2016 eine Änderung eingetreten, die sich insgesamt zugunsten des streitgegenständlichen Vorhabens auswirkt und schon deshalb im Verfahren zu berücksichtigen ist (vgl. Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 66, Rn. 591). Unabhängig davon hat die Beklagte den Abstandsflächenplan der Beigeladenen vom 30. August 2016 mit einer Tiefe von 0,4 H zudem auch ausdrücklich in den Ergänzungsbescheid vom 14. September 2016 einbezogen und damit die Feststellung des Vorbescheides auch auf Grundlage der neuen Rechtslage bestätigt. Aufgrund der AFS beträgt die Tiefe der grundsätzlich erforderlichen Abstandsflächen auf dem streitgegenständlichen Areal der Beigeladenen statt 1 H nunmehr nur noch 0,4 H. Durch diese Verkürzung der Abstandsflächen werden die Abstandsflächen nach Westen zum Grundstück der Klägerin hin sowohl für den bisherigen Bestand wie auch für die geplanten Neubauten auf dem Baugrundstück selbst eingehalten, so dass das Vorhaben der Beigeladenen keiner Abweichung (mehr) bedarf.
Die AFS der Beklagten ist auch wirksam. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Klägerin die Satzungsermächtigung nach Art. 6 Abs. 7 BayBO nicht als verfassungswidrig anzusehen. Bereits mit Entscheidung vom 15. Dezember 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zur Rechtmäßigkeit einer auf Grundlage des Art. 6 Abs. 7 BayBO erlassenen AFS Stellung genommen (22 B 07.143), ohne die Verfassungsmäßigkeit dieser Ermächtigung in Frage zu stellen. Auch für das hier entscheidende Gericht ergeben sich keine Hinweise, die geeignet erscheinen, hieran zu zweifeln. Der Charakter des Abstandsflächenrechts ist dadurch geprägt, dass es die bauliche Nutzung eines Grundstücks zum Schutze des jeweiligen Nachbargrundstücks einschränkt; Schutzgut ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Gewährleistung einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung (BayVGH, B.v. 17.8.2015 – 2 ZB 13.2522 – juris Rn. 4). Bei den Abstandsvorschriften handelt es sich mithin um Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Grundeigentums, die dem Grundsatz nach allein schon aufgrund ihrer Wechselseitigkeit gerechtfertigt sind. Ihre Grenze finden sie lediglich darin, dass nach den dem Gesetzgeber obliegenden Schutzpflichten ein gewisses Mindestmaß zu gewährleisten ist, um die Belichtung, Besonnung und Belüftung sicherzustellen.
Dies ist mit Blick auf das Abstandsflächensystem nach Art. 6 Abs. 7 BayBO allerdings gewahrt. So liegen dafür, dass bei 0,4 H vor allem keine ausreichende Belichtung mehr gewährleistet sei, keine Anhaltspunkte vor. Insbesondere der Hinweis auf einen vermeintlichen Widerspruch zur DIN 5034 vermag hieran nichts zu ändern. Die DIN 5034 als bloßes technisches Regelwerk ist schon im Grundsatz nicht geeignet, verfassungs- und einfachrechtliche Maßstäbe zu ersetzen. Auch kann nicht allein aus der Unterschreitung des darin geforderten Maßes an Tageslicht auf eine unzumutbare Verschattung geschlossen werden (BayVGH, U.v. 18.7.2014 –1 N 13.2501 – juris Rn. 35). Darüber hinaus besteht der klägerseits vorgetragene Widerspruch zur DIN 5034 nach Überzeugung des Gerichtes ohnehin nicht. Dies wird in der Begründung zur Musterbauverordnung aus dem Jahre 2002, die für das landesrechtliche Abstandsflächenrecht generell einen Abstand von nur 0,4 H empfiehlt, ausführlich und in sich schlüssig dargelegt (vgl. MBO – Begründung in der Fassung November 2002, S. 19); diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an. Ebenso wenig ergibt sich eine Verfassungswidrigkeit von Art. 6 Abs. 7 BayBO daraus, dass die Entscheidung für die Reduktion der Abstandsflächen der Gemeinde überlassen wird, der Gesetzgeber sich insoweit quasi seiner Entscheidungsobliegenheit entledigt habe. Der Gesetzgeber hat nämlich durch Art. 6 Abs. 7 BayBO alle notwendigen inhaltlichen Anforderungen für das darin enthaltene alternative Abstandsflächensystem bereits abschließend selbst geregelt. Art. 6 Abs. 7 BayBO bietet mithin nur noch die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene für dieses alternative, aber eben schon konkret bestimmte Abstandsflächensystem zu optieren. Korrespondierend hierzu verbleibt der Gemeinde auch lediglich die Wahl in Bezug auf dessen Anwendung; im Übrigen hat sie, ausgenommen vom räumlichen Geltungsbereich, keine Entscheidungsbefugnis (vgl. zum Ganzen BayVGH, U.v. 15.12.2008 – 22 B 07.143 – juris Rn. 25; Jäde, BayBO, Stand Juli 2015, Art. 6 Rn. 211).
Schließlich ist die AFS auch als solche rechtmäßig, da sie von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Mit der AFS wiederholt die Beklagte lediglich den Wortlaut des Art. 6 Abs. 7 BayBO und übernimmt damit das vom Gesetzgeber bereitgestellte alternative Abstandsflächensystem für ihr Stadtgebiet. Von der grundsätzlich bestehenden Möglichkeit, die Regelungen nur auf Teile des Stadtgebietes zu begrenzen, wurde zulässigerweise kein Gebrauch gemacht. So soll die AFS nach ihrem § 1 Abs. 2 unbeplante Gebiete und Gebiete mit Bebauungsplänen betreffen, also das gesamte Gebiet der Beklagten. § 1 Abs. 2 Nr. 2 AFS ist auch nicht dahingehend zu verstehen, dass damit der räumliche Geltungsbereich einschränkt werden würde, indem beplante Gebiete nur teilweise erfasst würden, mit der Folge, dass die Beschränkung dann an den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes zu messen wäre. Vielmehr wird dort die Geltung des in § 1 Abs. 1 AFS enthaltenen Abstandsflächensystems auch in den beplanten Gebieten vollumfänglich vorausgesetzt und als Folge hieraus nur das Vorrangverhältnis von sich widersprechenden bauplanungsrechtlichen Abstandsanforderungen geregelt. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte das ihr in Art. 6 Abs. 7 BayBO eingeräumte Ermessen in unzulässiger Art und Weise ausgeübt hätte. Da das alternative Abstandsflächensystem hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Mindestansprüche bereits abschließend vom Gesetzgeber abgewogen wurde (vgl. BayVGH, U.v. 15.12.2008 – 22 B 07.143 – juris Rn. 25), war es zutreffend, dass diese Aspekte im Rahmen der von der Beklagten getroffenen Ermessenentscheidung keine Berücksichtigung mehr fanden. Der Beklagten oblag es nur die Ausübung ihrer Wahl für dieses Alternativsystem zu rechtfertigen. Dies zugrunde gelegt ist die von der Beklagten getroffene Entscheidung nicht zu beanstanden. Insbesondere hat sie sich ausführlich mit dem Bedarf für die Wahl des reduzierten Abstandsflächensystems nach Art. 6 Abs. 7 BayBO im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Nachverdichtung auseinandergesetzt. Die diesbezüglichen Ausführungen in der Entscheidungsvorlage an den Stadtplanungsausschuss am 9. Juni 2016 sind in sich schlüssig und wurden nicht in Frage gestellt.
1.2 Unabhängig davon, dass die erteilte Abweichung damit ins Leere geht, wäre diese rechtlich auch nicht zu beanstanden. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen der BayBO zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind. Auch diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Die für eine solche Abweichung grundsätzlich erforderliche vom Regelfall abweichende Fallgestaltung (Atypik) hält das Gericht vorliegend für gegeben. Diese resultiert insbesondere aus der äußerst beengten städtebaulichen Situation, die von wechselseitigen Verstößen gegen Abstandsflächenvorschriften geprägt ist. So ist auch das nachbarliche Austauschverhältnis zwischen der Klägerin und der Beigeladenen durch die beiderseitig dichte Bebauung gekennzeichnet. Beide haben unter Verzicht auf die Einhaltung von Gebäudeabständen eine enge Wechselbeziehung geschaffen, die jeden von ihnen zugleich begünstigt und belastet.
Überdies wäre die Erteilung einer Abweichung hinsichtlich der Einhaltung der vollen Abstandsflächen mit den nachbarlichen Belangen vorliegend schon deswegen vereinbar, weil auf dem klägerischen Grundstück selbst Gebäude stehen, die die Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen nicht einhalten. In solchen Fällen ist der Nachbar nämlich nach dem Grundsatz von Treu und Glauben darin gehindert, die Verletzung dieser nachbarschützender Vorschriften zu rügen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück nicht diesen Vorschriften entspricht und wenn die beiderseitigen Abweichungen etwa gleich gewichtig sind und nicht – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – zu schlechthin untragbaren als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37). Bei der Frage, ob wechselseitige Verletzungen der Abstandflächenvorschriften annähernd gleich gewichtig sind, ist keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern es ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen (OVG Berlin, U.v. 11.2.2003 – 2 B 16.99 – juris Rn. 30). Auch ist für die zu treffende Entscheidung irrelevant, ob die baulichen Anlagen auf dem Grundstück des klagenden Nachbarn seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden sind. Dies würde den Vorwurf der unzulässigen Rechtsausübung nicht entfallen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn.10), da die Versagung des Abwehranspruchs gerade darauf beruht, dass es unbillig wäre, einen Nachbarn den durch die grenznahen baulichen Anlagen des anderen Nachbarn ausgehenden Nachteilen auszusetzen, ihm selbst aber eine Ausnutzung seines Grundstücks im Grenzbereich zu verwehren.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die erteilte Abweichung unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Aus den Bauakten wird deutlich, dass der Anteil der vom nördlichen Wohnhaus der Klägerin auf das Baugrundstück entfallenden Abstandsflächen sogar größer ist als die Abstandsflächen, die von dem im Wirtschaftshof vorgesehenen 3-geschossigen Anbau auf das Grundstück der Klägerin fallen. Zwar ist der Klägerin einzuräumen, dass man hier, da die hinzukommenden Erweiterungsbauten sich nicht als selbstständige Gebäude, sondern als Teil des einheitlichen Klinikkomplexes darstellen, nicht lediglich das streitgegenständliche Vorhaben in den Blick nehmen kann (vgl. Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 6 Rn. 15 ff). Jedoch würde auch eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des baulichen Bestands der Beigeladenen zu keinem anderen Ergebnis führen. Von diesen auf dem Grundstück bereits vorhandenen baulichen Anlagen fallen zwar bei Zugrundelegung einer Tiefe von 1 H bereits die Abstandsflächen des jeweils über 20 m hohen und nur knapp über 10 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernten Betten- und Treppenhauses in nicht unerheblichen Umfang auf das Grundstück der Klägerin. Allerdings wären im Rahmen einer Gesamtbetrachtung neben dem nördlich gelegenen Wohnhaus (…) auch die übrigen auf dem klägerischen Grundstück befindlichen baulichen Anlagen mit in die Betrachtung einzubeziehen. Nicht außer Acht bleiben kann daher, dass insbesondere auch ein großer Teil der Abstandsflächen des südlich gelegenen – ca. 17 m hohen und ca. 7 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernten – Wohnhauses (…) nicht auf dem eigenen, sondern auf dem Grundstück der Beigeladenen zum Liegen kommt. Auch wenn die abstandsflächenmäßige Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks durch die Beigeladene flächenmäßig insgesamt etwas größer sein mögen, ist zugunsten der Beigeladenen zu berücksichtigen, dass mit der quantitativ am ausgeprägtesten Überschreitung (Bettenhaus und Treppenhaus) zugleich jedoch eine geringere qualitative Beeinträchtigung verbunden ist. Die Abstandsflächen kommen nämlich weitgehend zwischen den beiden klägerischen Gebäuden zum Liegen. Im Hinblick auf die geschützten Belange wie Belichtung, Besonnung und Belüftung sind damit weitgehend geringere Beeinträchtigungen verbunden, als dies der Fall wäre, wenn die Abstandsflächen unmittelbar vor einem anderen Gebäude enden würden. Vor diesem Hintergrund und mit Blick darauf, dass im Wohnhaus … ausweislich der Planunterlagen Bereiche wie Wohnzimmer und auch Balkone nach Westen zu der vom Klinikareal abgewandten Seite hin ausgerichtet sind, wäre die Erteilung der Abweichung für das Vorhaben im Wirtschaftshof auch unter Berücksichtigung der Belastung des klägerischen Grundstücks durch den bestehenden Bestand rechtmäßig. Auch eine unzumutbare Beeinträchtigung geschützter Nachbarbelange wie Belichtung, Belüftung und Besonnung ist nicht ersichtlich. Insbesondere wird im Hinblick auf die Belichtungssituation aus den Bauvorlagen sowie aufgrund der Erkenntnisse des Augenscheins deutlich, dass in Höhe der Fensterbrüstung der Aufenthaltsräume der klägerischen Gebäude jedenfalls ein Lichteinfallswinkel von 45° gewahrt ist, so dass eine ausreichende Belichtung sichergestellt ist (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 8).
2. Hinsichtlich der im Vorbescheid enthaltenen Feststellung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit erscheint allenfalls eine Verletzung der §§ 29 ff. BauGB insbesondere des allgemeinen Rücksichtnahmegebots denkbar, wobei ein derartiger Verstoß hier aber letztlich nicht vorliegt.
Nach gefestigter Rechtsprechung ist das Maß der gebotenen Rücksichtnahme jeweils von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig. Gegeneinander abzuwägen sind Schutzwürdigkeit des Betroffenen, Intensität der Beeinträchtigung, Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen. Erforderlich ist eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen (vgl. BVerwG v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – juris Rn. 7 m.w.N.). Gemessen an diesen Vorgaben stellt sich das streitgegenständliche Vorhaben weder im Hinblick auf die gerügte erdrückende Wirkung noch hinsichtlich anderer Gesichtspunkte als unzumutbar und damit rücksichtslos dar.
Eine optisch erdrückende Wirkung scheidet bereits mangels einer erheblichen Höhendifferenz zwischen dem Vorhaben der Beigeladenen und den Wohngebäuden der Klägerin aus. Eine erdrückende Wirkung kommt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung allenfalls in Ausnahmefällen bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BayVGH, B.v. 20.7.2010 – 15 CS 10.1151 – juris Rn. 18). Bejaht wurde eine solche Wirkung beispielsweise bei einem zwölfgeschossigen Gebäude in Entfernung von 15 m zum zweigeschossigen Nachbarwohnhaus (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33 f.) oder bei einer 11,5 m hohen Siloanlage im Abstand von 6 m zu einem Wohnanwesen (BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris Rn. 2 und 15). Allein anhand dieser Beispielsfälle wird deutlich, dass es für die Rüge einer erdrückenden Wirkung auf ein krasses Missverhältnis zwischen Höhe und Nähe der jeweils betroffenen Gebäude ankommt. Hier besteht zwischen den Gebäuden kaum eine Höhendifferenz. Zudem liegen die betroffenen Grundstücke wie bereits ausgeführt in einem von dichter und hoher Bebauung geprägten innerstädtischen Bereich, in dem die Belichtung und die Belüftung ohnehin bereits eingeschränkt sind.
Soweit die Klägerin eine riegelartige Bebauung befürchtet, ist ihr zwar einzuräumen, dass in ihrer Nachbarschaft bei Verwirklichung des Vorhabens ein massiver Bau entstehen wird. Dennoch erreicht dieser Bau nicht eine derartige Qualität, dass darin eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots gesehen werden könnte. Auch wenn die parallel zu der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu errichteten baulichen Anlagen letztlich eine Länge von ca. 70 m aufweisen werden, wird durch die Baumaßnahmen in der Horizontalen eine starke Gliederung der Gebäude erreicht, die die massive Wirkung der baulichen Anlagen abmildert. So springt beispielsweise der nordwestliche Erweiterungsbau mit seinem obersten Geschoss deutlich gegenüber der Grundstücksgrenze zurück.
Bezogen auf mögliche Immissionen geht die Kammer davon aus, dass der Vorbescheid hierzu keine Feststellungen trifft, da die Bauvorlagen der Beigeladenen insoweit keine (konkreten) Angaben enthalten und soweit ersichtlich diesbezüglich auch keine Prüfung durch die Beklagte stattgefunden hat. Hinsichtlich einer mit dem Vorhaben möglicherweise einhergehenden Lärmbelastung ist das Gericht unabhängig davon aufgrund des im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens erstellten gutachterlichen Berichts des Ingenieurbüros für Bauphysik … davon überzeugt, dass durch das geplante Vorhaben die zulässigen Lärmwerte am klägerischen Grundstück bei Weitem eingehalten werden, da die nach diesem Gutachten errechneten Werte nicht etwa im Grenzbereich des noch Zulässigen liegen, sondern mehr als 10 dB(A) unter den für ein allgemeines Wohngebiet zulässigen Immissionsrichtwerten bleiben, so dass keine Auswirkungen für die Klägerin zu erwarten sind, die über das zulässige Maß hinausgehen würden. Nicht zu beanstanden ist, dass der Gutachter unter Berücksichtigung der Vorgaben der Beklagten hier die technische Regel angewandt hat, wonach sich bei einer Unterschreitung der jeweiligen Immissionsrichtwerte um 10 dB(A) rechnerisch keine Erhöhung des Gesamtwertes ergeben kann (vgl. dazu auch Nr. 3.2.1 TA Lärm, wonach ein zusätzlicher Immissionsbeitrag regelmäßig schon nicht relevant ist, wenn die von der Anlage ausgehende Zusatzbelastung die jeweiligen Immissionsrichtwerte am maßgeblichen Immissionsort um mindestens 6 dB(A) unterschreitet). Die Schallimmissionsprognose ist für das Gericht plausibel und nachvollziehbar. Gegen die Objektivität des Berichts kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass es sich hierbei lediglich um ein von der Beigeladenen in Auftrag gegebenes Parteigutachten handele. Es ist gerade Aufgabe des Bauherrn, der Genehmigungsbehörde die zur Beurteilung des Vorhabens notwendigen Unterlagen vorzulegen. Dafür, dass durch das Vorhaben keine (relevante) Erhöhung der Lärmbelastung bewirkt wird, spricht auch, dass das Vorhaben den Angaben der Beigeladenen zufolge nicht einer Kapazitätserweiterung, sondern gerade „nur“ der Strukturverbesserung diene. Nach der Betriebsbeschreibung der Beigeladenen vom 15. Juni 2016 lösen die geplanten strukturellen Verbesserungsmaßnahmen und die Aufstockung der vorhandenen sieben OP-Säle auf neun OP-Säle keinen zusätzlichen Lieferverkehr aus. Auch ist nicht beabsichtigt, die Betten- oder Mitarbeiterzahl in relevanten Umfang aufzustocken. Überdies ist auch keine unzumutbare Beeinträchtigung der Klägerin durch Lichteinwirkung anzunehmen, wie dies beispielsweise bei direkt auf das Gebäude der Klägerin gerichteten Strahlern oder Beleuchtungen der Fall sein könnte. Derartige Lichtquellen sind weder vorhanden noch im Rahmen des streitgegenständlichen Vorhabens beabsichtigt. Soweit die Klägerin Belästigungen durch die durch die Fenster wahrnehmbare Rauminnenbeleuchtung befürchtet, obliegt es ihr, sich hiergegen entsprechend zu schützen. Dass die Helligkeit so stark ist, dass ein solcher Schutz nicht gewährleistet werden könne, ist nicht anzunehmen. Im Übrigen ist auch die konkrete Ausstattung mit Medizintechnik und der Standort der Geräte nicht Gegenstand des Vorbescheids, so dass die Beurteilung der Frage, ob von den medizinischen Geräten eine relevante Strahlenbelastung zu Lasten der Klägerin ausgeht, im vorliegenden Verfahren nicht zu erörtern ist.
3. Nach allem ist der streitgegenständliche Vorbescheid vom 9. März 2016 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 14. September 2016 nicht geeignet, die Klägerin in drittschützenden Vorschriften zu verletzen. Die Klage ist mithin unbegründet und war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren Unterlegene hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Es entspricht der Billigkeit, die der Beigeladenen entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen für erstattungsfähig zu erklären, da die Beigeladene sich aufgrund eigener Antragstellung im Verfahren am Prozessrisiko beteiligt hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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