Baurecht

Nachbar, Vorbescheid, Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung, Rücksichtnahmegebot, Nachbarschutz bei Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (verneint)

Aktenzeichen  M 8 K 19.5290

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49256
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 71
§ 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage der Klägerin gegen den der Beigeladenen zu den Fragen 1, 2, 3, 6.1, 7 und 8.2 erteilten Vorbescheid vom 2. September 2019 ist unbegründet. Die angefochtenen Vorbescheidsfragen verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Streitgegenstand ist der Vorbescheid vom 2. September 2019 infolge der Konkretisierung des Klagebegehrens in der mündlichen Verhandlung nur insoweit, als die Fragen 1, 2, 3, 6.1, 7 und 8.2 positiv beantwortet wurden. Mit der so zu verstehenden Klage kann die Klägerin als Nachbarin nur dann Erfolg haben, wenn der Vorbescheid im angefochtenen Umfang rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Ein solcher Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften ist hinsichtlich der Beantwortung der Fragen Nrn. 1, 6.1, 7 und 8.2 nicht gegeben, da weder ein Gebietserhaltungsanspruch besteht (1.) noch eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die vom zugelassenen Vorhaben verursachten Immissionen in Betracht kommt (2.). Die positive Beantwortung der Fragen 2 und 3 verletzt keine Vorschriften, die dem Schutz der Klägerin dienen, da die Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche keinen Drittschutz entfalten (3.).
1. Die positive Antwort auf Fragen 1, 6.1, 7 und 8.2 des Vorbescheidsantrags, mit denen die Art der baulichen Nutzung bauplanungsrechtlich für zulässig erklärt wurde, verletzt die Klägerin nicht in einem von ihr behaupteten Gebietserhaltungsanspruch.
Der Gebietserhaltungsanspruch wurde in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes entwickelt (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151). Er gewährt dem Eigentümer eines Grundstücks hinsichtlich der durch einen Bebauungsplan festgesetzten Nutzungsart einen Abwehranspruch gegen die Genehmigung eines Bauvorhabens im Plangebiet, das von der zulässigen Nutzungsart abweicht und zwar unabhängig davon, ob die zugelassene gebietswidrige Nutzung den Nachbarn selbst unzumutbar beeinträchtigt oder nicht (vgl. z.B. Stühler, BauR 2011, 1576; Decker, JA 2007, 55). Denn die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat grundsätzlich nachbarschützende Wirkung zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993, a.a.O.). Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen bodenrechtlichen Austauschverhältnisses. Soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können (vgl. BayVGH, B.v.22.8.2016 – 2 CS 16.737 – juris Rn. 3). Im Ergebnis ist der Anspruch auf Gebietserhaltung mithin darauf gerichtet, solche Nachbarvorhaben zu verhindern, die weder regelmäßig noch ausnahmsweise in einem Baugebiet zulässig sind. Dies gilt sowohl für geplante als auch faktische Baugebiete nach § 34 Abs. 2 BauGB (vgl. BVerwG, B.v. 22.12.2011 – 4 B 32.11 – juris Rn. 5). In beiden Fällen setzt ein Gebietserhaltungsanspruch indes voraus, dass sowohl die genehmigte Nutzung als auch das Nachbargrundstück in einer bau- und bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft in Form der Einbeziehung in einen einheitlichen Baugebietstyp verbunden sind (vgl. BayVGH, U.v. 12.07.2012 – 2 B 12.1211 – juris Rn. 27 ff.). Ein gebietsübergreifender Gebietserhaltungsanspruch besteht demgegenüber nicht. Das gilt auch dann, wenn unterschiedliche Baugebiete in demselben Bebauungsplan festgesetzt wurden (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 4).
Unabhängig davon, ob die Festsetzung der Gebietsart für das Baugrundstück wirksam ist, scheidet ein Gebietserhaltungsanspruch damit im vorliegenden Fall aus, da das Baugrundstück jedenfalls in einem anderen Baugebiet als das Klägergrundstück liegt.
Nach den Festsetzungen des Bebauungsplans liegt das Klägergrundstück in einem Bereich, der als Reines Wohngebiet (WR 5) festgesetzt ist, während sich das Baugrundstück überwiegend in einem Kerngebiet, zum Teil in einem Reinen Wohngebiet (WR 4) befindet. Im Fall des Fortgeltens dieser Festsetzung kommt ein Gebietserhaltungsanspruch damit nicht in Betracht.
Das Baugrundstück und das Klägergrundstück gehören auch bei einer Beurteilung nach § 34 Abs. 2 BauG keinem einheitlichen Baugebiet an. Im Fall der Unwirksamkeit der Festsetzungen zur Gebietsart wäre zu bestimmen, welcher Bereich als nähere Umgebung des Baugrundstücks gem. § 34 Abs. 2 BauGB anzusehen ist. Nach dem Ergebnis des Augenscheins und den Lageplänen ist das Klägergrundstück nicht zur näheren Umgebung gem. § 34 Abs. 2 BauGB zu zählen. Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, inwieweit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BayVGH, U. v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m. w. N.). Die Reichweite der wechselseitigen Prägung bestimmt sich nach den in § 34 Abs. 1 BauGB genannten Kriterien (BVerwG, U.v. 11.2.1993 – 4 C 15/92 – juris Rn. 20) und muss im Einzelfall festgestellt werden. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in der sich das Vorhabengrundstück befindet (BayVGH, U.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4; U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19).
Hier wird das Baugrundstück vom Klägergrundstück nach dem Ergebnis des gerichtlichen Augenscheins deutlich durch die vielbefahrene und ca. 27 m breite H1. Allee getrennt. Die Straße verfügt über getrennte Richtungsfahrbahnen, breite Geh- und Radwege beidseits sowie Parkstreifen für Kraftfahrzeuge. Ein verbindendes Element, das die im Bereich des Baugrundstücks ausgeübte Einzelhandelsnutzung und die Wohnnutzung auf dem Klägergrundstück als einheitliche Nutzungsstruktur erscheinen lassen könnte, besteht nicht. Vielmehr wird die trennende Wirkung der H1. Allee durch die große, dem Anwesen auf dem Klägergrundstück vorgelagerte Grünfläche noch verstärkt. Zudem unterscheidet sich der Bereich westlich der H1. Allee insbesondere auf dem Baugrundstück, aber auch nördlich davon hinsichtlich der Art der Nutzung und der Gebäudestruktur so erheblich von dem Bereich der reinen Wohnbebauung östlich der H1. Allee und südlich der H1. straße, dass angesichts der trennenden Wirkung der H1. Allee keine wechselseitige Prägung angenommen werden kann.
Nachdem die zulässige Art der baulichen Nutzung selbst im Fall der Unwirksamkeit des Bebauungsplans für das Klägergrundstück und das Baugrundstück gem. § 34 Abs. 2 BauGB für die jeweilige nähere Umgebung daher getrennt zu beurteilen wäre, kommt ein Gebietserhaltungsanspruch auch für diesen Fall nicht in Betracht.
2. Eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes aufgrund der zu erwartenden Immissionen kann die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen.
Mit der Frage nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung ist ungeachtet dessen, ob das Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB oder infolge der behaupteten Unwirksamkeit des Bebauungsplans nach § 34 BauGB zu beurteilen ist, zugleich über das Gebot der Rücksichtnahme zu entscheiden. Es kann aus der Prüfung der Art der baulichen Nutzung nicht ausgeklammert werden (vgl. auch BayVGH, U.v. 9.9.1999 – 1 B 96.3475 – juris Rn. 21 ff.; U.v. 14.10.2008 – 2 BV 04.836 – juris; B.v. 16.8.2016 – 15 B 14. 1625 – juris Rn. 14; B.v.15.9.2020 – 15 ZB 19.2405 – juris Rn. 38; Decker, in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL September 2021, Art. 71 Rn. 73). Eine solche, das Gebot der Rücksichtnahme ausklammernde Vorbescheidsfrage wäre nicht selbstständig beurteilbar und stellte eine unzulässige Vorbescheidsfrage dar (Decker, in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL September 2021, Art. 71 Rn. 73; BayVGH, B.v. 15.9.2020 – 15 ZB 19.2405 – juris Rn. 38 m.w.N.). Die uneingeschränkte Bejahung der Vorbescheidsfrage zur zulässigen Art der baulichen Nutzung im streitgegenständlichen Bescheid beinhaltet daher eine bindende Feststellung der Einhaltung des Rücksichtnahmegebots.
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes ergibt sich nicht schon aus der fehlenden Bestimmtheit des Vorbescheids in Bezug auf die von der zugelassenen Nutzungsart auf das Anwesen der Klägerin einwirkenden Immissionen. Dabei kann offen bleiben, ob der Bebauungsplan insgesamt oder teilweise unwirksam ist. Unabhängig davon, ob sich das Gebot der Rücksichtnahme im vorliegenden Fall aus dem Begriff des „Einfügens“ des § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO oder aus § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m § 15 Abs. 1 BauNVO ableitet, hat im Ergebnis in Bezug auf die Frage der zumutbaren Immissionsbelastung der Klägerin dieselbe Prüfung stattzufinden (BayVGH, B. v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 2).
Die von der mit dem Vorbescheid zugelassenen Nutzung für das Anwesen der Klägerin verbundenen Immissionen sind zwar weder durch die Bauvorlagen noch den Bescheid genau bestimmbar. Daraus allein folgt indes keine Verletzung der Nachbarrechte der Klägerin. Gemäß Art. 71 Satz 4, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist ein Vorbescheid zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben, soweit seine Zulässigkeit mit dem Vorbescheid abgefragt wird, keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Vorbescheidsverfahren zu prüfen sind. Dies setzt voraus, dass die einzelnen Vorbescheidsfragen auf der Grundlage des Vorbescheidsantrags und der Bauvorlagen (Art. 71 Satz 4, Art. 64 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BayBO) am Maßstab der heranzuziehenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften geprüft werden können. Art, Umfang und Inhalt der vorzulegenden Bauvorlagen ergeben sich dabei aus der Bauvorlagenverordnung (BauVorlV), Art. 80 Abs. 4 BayBO. Ein Nachbar hat indes keinen materiellen Anspruch darauf, dass der Bau- bzw. Vorbescheidsantragsteller einwandfreie und vollständige Bauvorlagen einreicht. Nachbarrechte können aber dann verletzt sein, wenn infolge der Unbestimmtheit der Bauvorlagen der Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung bzw. des Vorbescheids nicht eindeutig festgestellt und deshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass das (hinsichtlich einzelner Fragen vorab) genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützendes Recht verstößt (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2001 – 26 ZB 01.1775 – juris Rn. 11 m.w.N.; B.v. 25.7.2019 – 1 CS 19.821 – juris Rn. 14; VGH BW, B.v. 23.11.2017 – 3 S 1933/17 – juris Rn. 8; VG München, U.v. 24.11.2014 – M 8 K 13.5076 – juris Rn. 24). Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2016 – 15 B 16.1001 – juris Rn. 4; B.v. 5.7.2017 – 9 CS 17.603 – juris Rn. 13, jeweils m.w.N.). Ein solcher Fall ist hier indes nicht gegeben, da ungeachtet des Umstandes, dass die mit der zugelassenen Nutzung einhergehenden Immissionen mit den Bauvorlagen nicht dargestellt und von der Beklagten nicht untersucht wurden, eine unzumutbare Immissionsbelastung am Anwesen der Klägerin ausscheidet.
Die aus Emissionsgesichtspunkten problematischen Bereiche der Planung stellen vor allem die Tiefgaragenzufahrt sowie die Anlieferzone des Supermarktes dar, da diese auch zur Nachtzeit genutzt werden. Angesichts der Entfernung zwischen diesen Bereichen und dem nächstgelegenen Wohnbereich des Anwesens der Klägerin sind Überschreitungen der maßgeblichen Immissionsrichtwerte der TA Lärm nicht zu befürchten. Bei einer Abschätzung anhand des dem Gericht zur Verfügung stehenden Geoinformationssystems „BayernAtlasplus“ beträgt schon der Abstand zwischen der östlichen Grundstücksgrenze des Baugrundstücks und dem Gebäude auf dem Klägergrundstück ca. 55 m. Bis zu dem Bereich, in dem die Tiefgaragenabfahrt und die Anlieferzone zu liegen kommen sollen, beträgt die Entfernung annähernd 100 m. Angesichts dieser Entfernungsverhältnisse ist die Geräuscheinwirkung auf das Klägeranwesen durch den hier als maßgebliche Ursache für Emissionen zu erwartenden Kraftfahrzeugverkehr und die Anliefervorgänge zu vernachlässigen (vgl. als Orientierung: Parkplatzlärmstudie; Bayer. Landesamt für Umwelt, 6. Auflage, S. 106 f., Entfernungen Tab. 37). Einer Untersuchung derselben in den Bauvorlagen oder einer Begrenzung durch den Vorbescheid bedurfte es damit nicht.
3. Die Klage bleibt auch insoweit ohne Erfolg als sie sich gegen die positive Beantwortung der Fragen 2 und 3 im Vorbescheid vom 2. September 2019 richtet. Die mit dem Vorbescheid in Aussicht gestellten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans zu den überbaubaren Grundstücksflächen (Frage 2) und zum Maß der Nutzung (Frage 3) verletzen keine nachbarlichen Rechte.
Soweit eine Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB erteilt wird, ist hinsichtlich des Nachbarschutzes zu differenzieren, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans oder von nicht drittschützenden Festsetzungen befreit wird. Handelt es sich um eine nachbarschützende Festsetzung, so hat der Nachbar einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB (BayVGH, B. v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – juris Rn. 3). Entscheidend ist damit nicht nur, ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, sondern auch, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht drittschützend ist, werden nachbarschützende Rechte nur verletzt, wenn der Nachbar durch die Erteilung der Baugenehmigung unzumutbar beeinträchtigt wird; eine Rechtsverletzung kommt insoweit nur in dem im Begriff der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ verankerten Rücksichtnahmegebot in Betracht (BayVGH, B.v. 6.8.2010 – 15 CS 09.3006 – juris Rn. 26; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 33, BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 4 B 38.93 – juris Rn. 3).
3.1 Die Festsetzungen des Bebauungsplans zur zulässigen Geschossflächen- und Grundflächenzahl, der Zahl der Vollgeschosse sowie der Baugrenzen sind nicht drittschützend. Bei diesen Festsetzungen handelt es sich um Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche. Diesen kommt grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion zu (BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – NVwZ 1996, 888; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 34). Ob diesen Festsetzungen des Bebauungsplans ausnahmsweise gleichwohl Drittschutz zukommt, bestimmt sich danach, ob sie nach dem Willen des Plangebers ausschließlich städtebaulichen Gründen oder ausnahmsweise (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollen (BayVGH, B. v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – juris Rn. 4). Ein solcher Wille des Plangebers kann sich aus dem Bebauungsplan oder sonstigen mit der Planaufstellung in Zusammenhang stehenden Umständen ergeben (BayVGH, B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15).
Weder aus dem Bebauungsplan noch dessen Begründung ergeben sich hier Anhaltpunkte dafür, dass die Festsetzungen zur Geschossflächen- und Grundflächenzahl, der Zahl der Vollgeschosse sowie zum Bauraum drittschützend sein sollen. Soweit die Klägerin unterstellt, der Bebauungsplan wolle durch die niedrigen, in der Regel zweigeschossigen gewerblichen Versorgungszentren ein System aus Hoch- und Tiefpunkten schaffen, das eine optimale Belichtung, Belüftung und Grünflächengestaltung des Plangebiets bewirken solle, bleibt schon im Klagevortrag unklar, weshalb ein solcher planerischer Wille bestanden haben soll. Selbst wenn diese Interpretation der Planung durch die Klägerin ein städtebauliches Motiv der Planung gewesen sein sollte, lässt sich daraus kein Wille der Plangeberin ableiten, dass die Anordnung der Baukörper und deren Höhe auf dem Baugrundstück den nachbarlichen Interessen der Klägerin dienen sollte. Vielmehr zeigt die Anordnung der Wohnbaukörper auf dem Klägergrundstück und den weiteren Wohnbaugrundstücken in der unmittelbaren Umgebung, dass die Belichtung derselben gerade nicht durch niedrige Baukörper auf dem Baugrundstück sichergestellt wird. Die langgestreckten Baukörper sind jeweils nach Westen und/oder Süden ausgerichtet und haben auf diesen Seiten jeweils ausreichend Freiflächen auf dem eigenen Grundstück. Einer Sicherstellung der Belichtung und Belüftung durch niedrige Gebäude auf dem Baugrundstück bedarf es nicht, weshalb nicht erkennbar ist, dass die Plangeberin über ihre städtebaulichen Gestaltungsvorstellungen hinaus ein Abwehrrecht des Nachbarn gegen eine die geplante Baukörpergröße überschreitende Bebauung konstituieren wollte.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht bei Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu nachbarschützenden Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris). Zum einen ist die mit dieser Rechtsprechung für möglich erachtete Ermittlung eines „objektivierten“ planerischen Willens nur bei (übergeleiteten) Bebauungsplänen aus einer Zeit vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes 1960 möglich, der hier nicht vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 17). Zum anderen ist auch dann eine drittschützende Wirkung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn durch Auslegung des Bebauungsplans ein wechselseitiges Austauschverhältnis im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung zu ermitteln ist (vgl. BayVGH, B. v. 22.6.2020 – 2 CS 20.1085 – n.v. Rn. 4). Dies ist hier nach dem vorstehend Ausgeführten gerade nicht der Fall.
3.2 Eine Rechtsverletzung der Klägerin durch die in Aussicht gestellten Befreiungen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche und des Maßes der baulichen Nutzung lässt sich damit – obwohl für das Gericht die objektiv-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von derart umfangreichen Befreiungen nicht erkennbar sind – wegen des fehlenden drittschützenden Charakters der Festsetzungen nur aus einem diesbezüglichen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ableiten. Das Gebot der Rücksichtnahme verleiht dem Nachbarn als objektiv-rechtliche Anforderung nur dann ein subjektiv-öffentliches Recht, wenn dieser qualifiziert und individualisiert betroffen ist (BVerwG, U.v. 25.2.1977 – 4 C 22.75 – juris Rn. 28). Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen können, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er eine Rücksichtnahme verlangen. Das Rücksichtnahmegebot ist verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – juris Rn. 22).
In der Rechtsprechung zum Rücksichtnahmegebot ist anerkannt, dass eine Verletzung dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen).
Das streitgegenständliche Vorhaben hat vorliegend keine einmauernde oder erdrückende Wirkung auf das Anwesen der Klägerin. Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens, seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9). Eine erdrückende Wirkung scheidet regelmäßig schon aus, wenn der geplante Baukörper nicht erheblich höher ist als der des klagenden Nachbarn (BayVGH, B. v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5). Damit wird deutlich, dass die geplante 8-geschossige Bebauung gegenüber der Bebauung auf dem Grundstück der Klägerin mit ebenfalls 8 Geschossen nicht geeignet ist eine abriegelnde oder erdrückende Wirkung zu erzeugen. Dies gilt erst recht, wenn man die Entfernungen der Baukörper voneinander betrachtet.
Die Klägerin kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass bisher gegebene Blickbeziehungen beeinträchtigt würden. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17).
4. Die Klägerin hat als unterlegene Partei gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene hat keinen Sachantrag gestellt und sich insofern keinem Kostenrisiko unterworfen (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Es entspricht daher der Billigkeit im Sinne von § 162 Abs. 3 VwGO, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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