Baurecht

Nachbareilantrag, Keine Notwendigkeit der Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans, Rücksichtnahmegebot

Aktenzeichen  1 CS 22.622

Datum:
14.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8490
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB §§ 30 Abs. 3, 34 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 11 S 21.5548 2022-02-22 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Einfamilienhauses mit Garage.
Das großzügige Eckgrundstück des Antragstellers ist im westlichen Teil mit einem Wohnhaus bebaut. An den unbebauten Gartenbereich grenzt im Südosten das Baugrundstück an. Die Erschließung des Baugrundstücks und des sich südlich daran anschließenden Grundstücks FlNr. …, das ebenfalls bebaut werden soll, erfolgt abweichend von der Erschließung der Nachbargrundstücke, die über ein im Westen verlaufendes Teilstück der K* H1. straße erschlossen werden, durch die im Osten angrenzende H2.straße. Für die Errichtung einer 6 m breiten Zufahrt, die zusammen mit dem weiteren Baugrundstück genutzt werden soll, wurde eine Befreiung von den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans Nr. … „K* H1. straße“, 6. Änderung, erteilt.
Gegen die mit Bescheid vom 22. September 2021 erteilte Baugenehmigung erhob der Antragsteller Klage und stellte einen Eilantrag. Diesen lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. Februar 2022 ab. Die Baugenehmigung verletze den Antragsteller voraussichtlich nicht in seinen Rechten. Die im Bebauungsplan festgesetzte Grünfläche entlang der H2.straße habe keine nachbarschützende Wirkung. Durch die geplante Zufahrt, die in das Erdreich eingegraben werde und nach den vorgelegten Plänen lediglich im überdachten, untergeschossigen Bereich eine Breite von 6 m haben solle, werde der Antragsteller nicht unzumutbar beeinträchtigt. Auch im Übrigen liege eine Verletzung des nachbarschützenden Gebots der Rücksichtnahme nicht vor. Die Abstandsflächen seien nach den vorgelegten Plänen eingehalten. Weder sei die Anzahl der Fenster zum Grundstück des Antragstellers „rücksichtslos“ noch habe das Vorhaben erdrückende Wirkung.
Mit der Beschwerde macht der Antragsteller geltend, dass Festsetzungen für Stellplätze und Garagen nachbarschützend seien. Diese gelte auch für deren Zuwegung. Das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass das Grundstück des Antragstellers bereits an drei Seiten von Verkehrslärm umgeben sei; der Garten sei für den Antragsteller ein Rückzugsort. Das Bauvorhaben füge sich nicht in die Umgebung ein, üblicherweise würden Häuser parallel, auf derselben oder einer ähnlichen Baulinie errichtet. Das Wohnhaus sei extrem nahe an sein Grundstück geplant, es habe für den Antragsteller und sein Grundstück erdrückende und beherrschende Wirkung.
Der Antragsgegner und die Beigeladene beantragen die Zurückweisung der Beschwerde.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachbarklage des Antragstellers im Hauptsachverfahren voraussichtlich erfolgslos bleiben wird, so dass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist.
Soweit sich der Antragsteller gegen die erteilte Befreiung von der textlichen Festsetzung 2.2 des geltenden Bebauungsplans wendet, geht die erteilte Befreiung bereits ins Leere, da es nach den genehmigten Plänen einer Befreiung nicht bedurfte. Für das Baugrundstück und das Grundstück des Antragstellers gilt der Bebauungsplan Nr. … „K* H1. straße“ in der 6. Änderung, bekanntgemacht am 22. Juli 2020. Es handelt sich um einen einfachen Bebauungsplan, der nach seiner Begründung das Ziel einer Vereinfachung und die Möglichkeit einer besseren Nachverdichtung im Rahmen des § 34 BauGB verfolgt. Es werden Festsetzungen zur Mindestgrundstücksgröße von Baugrundstücken und zur Grünordnung getroffen. Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung fehlen; die Bauvorhaben sollen gemäß § 34 BauGB beurteilt werden. Entlang der Hauptstraße wird eine private Grünfläche in einer Breite von 10 m festgesetzt. Nach der textlichen Festsetzung 2.2 sind in dieser Grünfläche Grundstückszufahrten in einer maximalen Breite von 5 m zulässig. Dabei ist diese Vorschrift dahingehend zu verstehen, dass die Breite der Zufahrt bezogen auf das einzelne Grundstück geregelt wird. Nur durch die Zusammenlegung der Zufahrtsstreifen auf dem Baugrundstück und dem südlich angrenzenden Grundstück FlNr. …, das ebenfalls bebaut werden soll, wird aber die Zufahrtsbreite von 5 m im Bereich der Aufweitung zum Gehweg mit Umrandung geringfügig (vgl. den genehmigten Freiflächengestaltungsplan) und im Bereich der Umkehrfläche vor der unterirdischen Garage überschritten. Dabei liegt die Umkehrfläche im Übrigen nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, im Bereich der festgesetzten Grünfläche, sondern wurde mit einer Planänderung in den unterirdischen Bereich verschoben. Ein Verstoß gegen das Nachbarrecht kann sich daher vorliegend nicht aus den Festsetzungen des Bebauungsplans ergeben.
Das Bauvorhaben verstößt voraussichtlich auch nicht gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot. Das Rücksichtnahmegebot ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts oder gar des gesamten öffentlichen Baurechts steht, sondern Bestandteil einzelner gesetzlicher Vorschriften des Baurechts. Findet § 34 Abs. 1 BauGB Anwendung, geht es in dem Begriff des Einfügens auf. Das bedeutet, dass das Rücksichtnahmegebot nur verletzt sein kann, wenn sich ein Vorhaben objektiv-rechtlich nach seiner Art oder seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche nicht in die Eigenart seiner näheren Umgebung einfügt (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879). Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte. Substantiierte Einwände gegen das Maß der baulichen Nutzung, das im Rahmen des § 34 BauGB unabhängig von der Grundstücksgröße zu beurteilen ist, liegen nicht vor. Der Antragsteller wendet sich vor allem gegen den konkreten Standort des Bauvorhabens, der das Merkmal der überbauten Grundstücksfläche betrifft. Er bezieht sich darauf, dass die Bebauung auf seinem und den südlich anschließenden Grundstücken mit Ausnahme des vorliegenden und des weiteren Baugrundstücks jeweils einen großen Abstand zu der Hauptstraße einhalte; die Grundstücke würden nicht durch die im Osten liegende Hauptstraße, sondern das im Westen verlaufende Teilstück der K* H1. straße erschlossen. Damit macht er einen Verstoß gegen die Bebauungstiefe geltend, da die Bebauungstiefe von der als Erschließungsanlage gewählten öffentlichen Straße ermittelt wird (vgl. BVerwG, B.v. 12.8.2019 – 4 B 1.19 – BauR 2019, 1889).
Die den Maßstab für eine Bebauungstiefe bildenden umliegenden Grundstücke ergeben sich jedoch nicht nur aus der vom Antragsteller genannten einheitlichen Bebauung, sondern auch aus der Bebauung, die vor deren Abriss auf dem Baugrundstück und dem Grundstück FlNr. … bestand, und durch die Hauptstraße erschlossen wurde (vgl. die Darstellung der Gebäude im Bebauungsplan sowie das digitale Orthophoto 2018 in BayernAtlas). Auch beseitigte bauliche Anlagen prägen die Eigenart der näheren Umgebung weiter, solange mit einer Wiederbebauung zu rechnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 2.10.2007 – 4 B 39.07 – BauR 2008, 482; U.v. 27.8.1998 – 4 C 5.98 – NVwZ 1999, 523). Hier wurde ersichtlich der Baubestand beseitigt, um die Grundstücke neu zu bebauen (vgl. auch den Vortrag der Beigeladenen). Soweit der Antragsteller zuletzt vorgetragen hat, dass es sich bei dem vorherigen Baubestand um eine „Bauruine“ gehandelt habe, die nie fertiggestellt und bezogen worden sei, ist dieser Vortrag unsubstantiiert; er kann auch nach den oben genannten Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Aus der für § 34 Abs. 1 BauGB maßgeblichen Bebauung lässt sich daher nach Aktenlage keine einheitliche Bebauungstiefe bzw. ein „Spielraum“ herleiten, der mit dem streitgegenständlichen Bauvorhaben überschritten würde. Es kann damit dahingestellt bleiben, inwieweit bei einem Nichteinfügen gemäß § 34 Abs. 1 BauGB bezüglich der überbaubaren Grundstücksfläche das Rücksichtnahmegebot verletzt sein kann (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879; BayVGH, B.v. 20.5.2020 – 9 ZB 18.2585 – juris Rn. 5; B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 23). Dabei dürfte im Übrigen jedenfalls zu berücksichtigen sein, dass es sich aufgrund der vielbefahrenen Hauptstraße nicht um den klassischen rückwärtigen ruhigen Gartenbereich handelt.
Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend ausgeführt, dass der Antragsteller weder durch den Verkehrslärm noch durch die Anzahl der Fenster in der dem Grundstück des Antragstellers zugewandten Seite unzumutbar belastet wird.
Soweit geltend gemacht wird, dass das Eckgrundstück des Antragstellers bereits massiv mit Verkehrslärm belastet sei und eine weitere Belastung nicht mehr hinnehmbar sei, ergibt sich aus der Verkehrsbelastung des Grundstücks vor allem durch die stark befahrene Hauptstraße keine besondere Schutzwürdigkeit des Grundstücks im Hinblick auf die südliche Grundstücksgrenze. Der Antragsteller muss die Situationsbezogenheit seines Grundstücks hinnehmen. Nachbarn haben die von den Stellplätzen einer rechtlich zulässigen Wohnbebauung ausgehenden Emissionen im Regelfall hinzunehmen (vgl. BVerwG, U.v. 7.12.2006 – 4 C 11.05 – BVerwGE 127, 231; B.v. 20.3.2003 – 4 B 59.02 – NVwZ 2003, 1516). Besondere örtliche Verhältnisse, die zu einer Unzumutbarkeit führen könnten, liegen nicht vor. Die geplante Zufahrt befindet sich nicht an der Grundstücksgrenze zum Antragsteller, sondern ist so weit wie möglich davon entfernt. Weiter hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass die Rangierfläche in den unterirdischen Bereich verlagert wurde. Eine Situierung der Garage nahe der Hauptstraße ist aufgrund der Festsetzungen des geltenden Bebauungsplans nicht zulässig (vgl. textliche Festsetzung 2.2).
Die Möglichkeit der vermehrten Einsichtnahme oder der Erhalt einer Ruhezone stellen grundsätzlich kein Kriterium im Rahmen des Einfügens nach § 34 Abs. 1 BauGB dar, so dass auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme ausscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72.89 – NVwZ 1989, 1060; BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 1 CS 16.2396 – juris Rn. 9; B.v. 18.10.2010 – 2 ZB 10.1800 – juris Rn. 11). Im Übrigen weist das Bauvorhaben weder an der Nord- noch an der Westfassade eine besonders große Zahl von Fenstern aus. Die Fenster an der Nordseite betreffen vor allem das Treppenhaus und Sanitärräume. Von einer erdrückenden Wirkung des Baukörpers kann keine Rede sein. Auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Soweit in einem Satz ausgeführt wird, dass sich aus der Unwirksamkeit der Abstandsflächensatzung der Gemeinde die Nichteinhaltung von Abstandsflächen ergebe, fehlt bereits eine Auseinandersetzung mit der rechtlichen Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass in diesem Fall die Abstandsregeln des Art. 6 BayBO gelten und eingehalten würden (vgl. UA Rn. 29).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben