Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung für Turnhalle wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch Lärmimmissionen

Aktenzeichen  M 8 K 16.1215

Datum:
1.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 19464
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 3
18. BImSchV § 2 Abs. 1, § 5 Abs. 3

 

Leitsatz

Auch wenn die schulische Nutzung gegenüber der außerschulischen Nutzung in Bezug auf die zulässigen und zumutbaren Lärmimmissionen privilegiert ist, bedeutet dies nicht, dass von Schulsport jedwede Lärmimmissionen ausgehen dürfen, die die Nachbarschaft hinzunehmen hat. Vor allem die Privilegierung in § 5 Abs. 3 18. BImSchV ändert nichts daran, dass grundsätzlich auch die durch die Regelung privilegierten Nutzungen die materiellen Anforderungen des § 2 Abs. 1 der 18. BImSchV einhalten müssen. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 (Az.: ……) in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 (Az.: ……) und des Änderungs- bzw. Nachgangsbescheides vom 18. Februar 2016 (Az.: ……) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vorläufig vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Das Gericht konnte über die Klage ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2018 zum Übergang in das schriftliche Verfahren ihr Einverständnis erteilt haben, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), und die der Beklagten gesetzte und verlängerte Frist zum Erlass eines neuen (Änderungs-)Bescheides abgelaufen ist.
2. Die Klage hat Erfolg. Die zulässige Klage ist begründet, weil der Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016, der die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 ergänzt bzw. ändert, rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2.1 Die Klage ist zulässig.
2.1.1 Streitgegenstand ist der Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016, der die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 ergänzt bzw. ändert. Die hiergegen erhobene Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist trotz des rechtshängigen Berufungszulassungsverfahrens bezüglich der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 (also ohne die Änderungen des Bescheides vom 18.2.2016) zulässig.
Nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) kann während der Rechtshängigkeit – im verwaltungsgerichtlichen Prozess ab Erhebung der Klage, § 90 Satz 1 VwGO – die Sache von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden. Zweck dieser Vorschrift ist es, doppelte Prozesse mit gegebenenfalls divergierenden Entscheidungen zu vermeiden. Das Verbot der doppelten Klage bezieht sich auf dieselbe Sache, also auf „die Streitsache“; maßgeblich ist somit der Streitgegenstand. Dieser wird durch den prozessualen Anspruch und den zu seiner Begründung vorgebrachten tatsächlichen Klagegrund festgelegt (vgl. Rennert in Eyermann, 14. Aufl. 2014, § 41/§§ 17 – 17b GVG Rn. 11 ff. m.w.N.).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (vgl. B.v. 9.5.2016 – 2 AS 16.420 – juris Rn. 3) geht davon aus, dass es sich bei dem Änderungs- bzw. Nachgangsbescheides vom 18. Februar 2016 um einen eine Nachbarrechtsverletzung korrigierenden Tekturbescheid zu einer Baugenehmigung handele, der diese nicht aufhebe und durch eine gänzlich neue ersetze, sondern sie lediglich in einigen Punkten modifiziere und daher nicht selbständig ausgenutzt werden könne, was zur Folge habe, dass keine Änderung des Streitgegenstands entsprechend § 91 VwGO vorliege. Dies würde dafür sprechen, von identischen Streitgegenständen in diesem und im Berufungszulassungsverfahren – gegebenenfalls unter Anwendung von § 264 Zivilprozessordnung (ZPO) – auszugehen mit der Folge, dass die erstinstanzliche Klage gegen den Bescheid vom 18. Februar 2016 wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit unzulässig wäre. Im Berufungszulassungsverfahren dürfte folglich über die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 sowie des Änderungs- bzw. Nachgangsbescheides vom 18. Februar 2016 zu entscheiden sein, da sich beispielsweise ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auch aus einer nach materiellem Recht für die Beurteilung des Streitgegenstandes entscheidungserheblichen Veränderung der Sach- oder Rechtslage, die nach Erlass der (erstinstanzlichen) verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zur Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind, ergeben können (vgl. Roth in BeckOK VwGO, 45. Edition, Stand 1.4.2018, § 124 Rn. 28 m.w.N.).
Diese – lediglich im Rahmen der summarischen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren angedeuteten – Ansicht überzeugt das Gericht nicht. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass es sich bei dem Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016, der die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 ergänzt bzw. ändert, und der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 um verschiedene Streitgegenstände handelt. Das Gericht geht davon aus, dass die Beklagte durch Erlass des Bescheides vom 18. Februar 2016 eindeutig und schlüssig zum Ausdruck gebracht hat, dass sie bzw. ihr Referat für Bildung und Sport an der Umsetzung der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 kein Interesse mehr hat. Hierfür spricht insbesondere der Erlass in Reaktion auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Zahlreiche Neuregelungen wurden in dem Änderungsbescheid im Hinblick auf die Parkplatzsituation getroffen, die sowohl in erster Instanz als auch in zweiter Instanz als problematisch bewertet wurde. Außerdem wurde die für die Nutzung der Turnhalle und die Beurteilung der nachbarlichen Belange bedeutsame Situierung des Haupteingangs verändert (vgl. S. 4 des Bescheids vom 18.2.2016). Es bestehen umgekehrt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte die ursprünglichen Baugenehmigungen irgendwann – auch bei Obsiegen im Rahmen des Berufungszulassungs- bzw. eines sich anschließenden Berufungsverfahrens – umsetzen möchte. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte – anders als private Bauherren – neben den öffentlichen Interessen ganz maßgeblich auch die Interessen der klagenden Nachbarn zu berücksichtigen hat. Eine Ausnutzung der ursprünglichen Baugenehmigungen ist vor diesem Hintergrund fernliegend.
Dies alles hat somit zur Folge, dass das ursprünglich geplante Vorhaben (Baugenehmigung vom 28.6.2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7.1.2015) nicht mehr verfolgt wird, sondern ein anderes Vorhaben (Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18.2.2016 zur Baugenehmigung vom 28.6.2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7.1.2015). Zwar lassen Tektur- und Änderungsgenehmigungen als Änderungsgenehmigungen erteilter Baugenehmigungen die ursprünglichen Baugenehmigungen (Grundgenehmigungen) grundsätzlich rechtlich noch bestehen. Da für ein Grundstück mehrere Baugenehmigungen für verschiedenartige Bauvorhaben gleichzeitig oder nacheinander erteilt werden können, hat der Bauherr somit die Wahl, ob er nach der Grund-, Tektur- oder Änderungsgenehmigung bauen will. Der Tektur- oder Änderungsantrag enthält grundsätzlich insoweit keine „automatische“ Zurücknahme des ursprünglichen Bauantrags (vgl. Lechner in Simon/Busse, BayBO, 129. EL März 2018, Art. 68 Rn. 117; Weinmann in BeckOK BauordnungsR Bayern, 7. Edition, Stand 15.4.2018, Art. 64 Rn. 41 m.w.N.). Jedoch ergibt obige Auslegung (entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB), dass das Referat für Bildung und Sport ihren ursprünglichen Bauantrag zurückgenommen hat bzw. die Beklagte die ursprüngliche Baugenehmigung inzident aufgehoben hat.
Daher liegen zwei Streitgegenstände vor – einer, der sich mittlerweile erledigt hat und der hier streitgegenständliche.
Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob es sich bei dem Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016 um eine Tekturgenehmigung, eine Änderungsgenehmigung oder um ein „aliud“ handelt (vgl. zum Ganzen Struzina/Lindner, ZfBR 2015, 750; Kerkmann/Sattler, BauR 2005, 47). Denn vorliegend ist nach Überzeugung des Gerichts eindeutig erkennbar, dass die Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 7. Januar 2015 durch Erlass des Bescheids vom 18. Februar 2016 aufgehoben wurde, weshalb sich die Frage nach dem Verhältnis der ergangenen Bescheide zueinander nicht stellt.
2.1.2 Die Klägerin ist als Wohnungseigentümergemeinschaft und Nachbarin im baurechtlichen Sinne klagebefugt.
2.2 Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 26.07.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 21; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
2.3 Die angefochtene Baugenehmigung verstößt nach wie vor gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
Nach wie vor enthält die streitgegenständliche Baugenehmigung trotz erneuter Abänderung und Ergänzung durch Auflagen festgelegte Immissionsrichtwerte für ein allgemeines Wohngebiet. Aus dem Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016 geht hervor, dass die Auflagen der Bescheide vom 28. Juni 2013 und vom 7. Januar 2015 – mit Ausnahme von Ziffer 2 – weitergelten sollten, also auch Ziffer 7, welche die Immissionsrichtwerte betrifft. Das Gericht ist aber nach wie vor davon überzeugt, dass damit nicht dem der Klägerin zustehenden Schutzniveau Rechnung getragen wird, da es sich bei der näheren Umgebung um ein reines Wohngebiet handelt, dessen Immissionsrichtwerte bzw. deren Beauflagung die Klägerin beanspruchen kann. Insofern wird vollumfänglich – auch zur Vermeidung von Wiederholungen – auf die Ausführungen im Urteil vom 15. Juli 2015 im Verfahren M 8 K 13.3533 Bezug genommen (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO).
Ergänzend sei lediglich auf Folgendes hingewiesen: Durch die durch den Änderungs- bzw. Nachgangsbescheid vom 18. Februar 2016 erfolgten baulichen und nutzungsbezogenen Lärmschutzmaßnahmen dürften die Immissionsschutzrichtwerte eines reinen Wohngebietes hinsichtlich der Nutzung der Turnhalle weitestgehend oder vollständig eingehalten werden können. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sich die Klägerin durch behördlichen Bescheid für zulässig erklärten Höchstwerten für die Belastung mit Immissionen – selbst wenn diese tatsächlich nicht erreicht werden – ausgesetzt sieht, die sie nicht hinnehmen muss. Sollten durch die außerschulische Nutzung entgegen der zum Bestandteil der Baugenehmigung erklärten Gutachten und entgegen der Auflagen höhere Immissionen als die im reinen Wohngebiet zulässigen Immissionen ausgelöst werden, könnte zwar die Beklagte als Bauaufsichtsbehörde die Einhaltung der genehmigten Vorgaben verlangen. Die Klägerin könnte sich dagegen nicht auf diese Überschreitung(en) berufen, wenn in einer ihr gegenüber bestandskräftig gewordenen Baugenehmigung (die höheren) Immissionsrichtwerte für ein allgemeines Wohngebiet festgesetzt wurden.
Dies gilt auch für die schulische Nutzung. Zwar mag der Bayerische Verwaltungsgerichtshof damit Recht haben, dass das streitgegenständliche Vorhaben bzw. die dieses genehmigende Baugenehmigung rechtlich teilbar ist, insbesondere in schulische und außerschulische Nutzung (B.v. 3.11.2015 – 2 AS 15.1886 – n.v.). Die fehlerhaften Immissionsrichtwerte wurden jedoch ohne Differenzierung für alle Nutzungen – und damit insbesondere auch für die schulische Nutzung – festgesetzt. Auch wenn die schulische Nutzung gegenüber der außerschulischen Nutzung in Bezug auf die zulässigen und zumutbaren Lärmimmissionen privilegiert ist, bedeutet dies nicht, dass von Schulsport jedwede Lärmimmissionen ausgehen dürfen, die die Nachbarschaft hinzunehmen hat. Vor allem die Privilegierung in § 5 Abs. 3 der Achtzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – 18. BImSchV ändert nichts daran, dass grundsätzlich auch die durch die Regelung privilegierten Nutzungen die materiellen Anforderungen des § 2 Abs. 1 der 18. BImSchV einhalten müssen (vgl. Reidt/Schiller in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 85. EL Dezember 2017, 18. BImSchV § 5 Rn. 38; aA OVG RhPf, B.v. 8.3.2018 – 8 A 11829/17 – juris Rn. 20). § 22 Abs. 1a Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) ist vorliegend außer Betracht zu lassen, da er nach der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs keine Anwendung auf Anlagen, die der 18. BImSchV unterfallen (vgl. Gesetzentwurf vom 22.2.2011, BT-Drs. 17/4836, S. 6).
Allein die fehlerhafte (abstrakte) Beauflagung von Immissionsrichtwerten verletzt die Klägerin – auch in Bezug auf die Schulnutzung – daher in ihren Rechten.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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