Aktenzeichen M 11 K 14.1687
Leitsatz
Die Klage eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung kann nur dann begründet sein, wenn die Baugenehmigung – unabhängig von ihrer objektiven Rechtmäßigkeit -, den Nachbarn in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Zu diesen für eine entsprechende Rechtsverletzung in Frage kommenden Rechtsvorschriften gehört auch das Rücksichtnahmegebot, soweit eine Regelung einschlägig ist, die eine gesetzliche Ausprägung des Rücksichtnahmegebotes darstellt. Insoweit kommt für den Fall des Baus eines Viehstalls in einem festgesetzten Dorfgebiet, mithin in einem qualifizierten Bebauungsplangebiet gemäß § 30 Abs. 1 BauGB, die Vorschrift des § 15 Abs. 1 BauNVO in Betracht. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Änderungsbescheid des Landratsamtes … vom 19. März 2014 wird aufgehoben.
II.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Berages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat Erfolg.
Über die Klage konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2015 damit ihr Einverständnis erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Änderungsbescheid vom 19. März 2014 verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Bei einer Klage eines Dritten – hier: eines baurechtlichen Nachbarn -, mit der eine Baugenehmigung angefochten wird – hier: der streitgegenständliche Änderungsbescheid vom 19. März 2014 – ergibt sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, dass die Klage nur dann begründet ist – unabhängig von der objektiven Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung -, wenn diese den Dritten bzw. Nachbarn in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Zu diesen für eine entsprechende Rechtsverletzung in Frage kommenden Rechtsvorschriften gehört auch das Rücksichtnahmegebot, soweit eine Regelung einschlägig ist, die eine gesetzliche Ausprägung des Rücksichtnahmegebotes darstellt. Insoweit kommt für den vorliegenden Fall insbesondere – da das Vorhaben in einem festgesetzten Dorfgebiet, mithin in einem qualifizierten Bebauungsplangebiet gemäß § 30 Abs. 1 BauGB gelegen ist – die Vorschrift des § 15 Abs. 1 BauNVO in Betracht.
Gleichwohl kann für den vorliegenden Fall offenbleiben, ob das Änderungsvorhaben den Klägern gegenüber im Ergebnis eine Verletzung im Rücksichtnahmegebot auf der Grundlage von § 15 Abs. 1 BauNVO darstellt. Denn hier besteht die Besonderheit, dass mit der Nebenbestimmung des ursprünglichen Genehmigungsbescheides Nr. II 6. – welche mit dem streitgegenständlichen Bescheid aufgehoben wird -, wie sich aus dem ursprünglichen Bescheid ohne Weiteres wortlautgetreu und auch dem Sinn nach ergibt – eine Schutzposition für die Kläger bezweckt werden sollte. Die entsprechende Auflage im ursprünglichen Genehmigungsbescheid regelt speziell – bezogen auf das Grundstück der Kläger -, dass zur Herstellung eines für die Kläger zumutbaren Zustandes die Ostseite des Jungviehstalles geschlossen werden muss.
Mit dem Erlass dieser Nebenbestimmung wurde den Klägern eine geschützte Rechtsposition vermittelt, die nur dann wieder aufgehoben werden darf, wenn die Voraussetzungen für die Aufhebung dieser Auflage vorliegen, nicht aber nur dann, wenn im Ergebnis keine Verletzung im Rücksichtnahmegebot festzustellen ist.
Das bedeutet mit anderen Worten, dass das Landratsamt nicht einfach die Auflage per Änderungsbescheid aufheben darf, wenn es vermutet, dass im Ergebnis insgesamt keine Verletzung der Kläger in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO vorliegt. Vielmehr darf das Landratsamt die umstrittene Auflage nur dann aufheben, wenn es nachweisen kann, dass die Voraussetzungen, unter denen die Auflage im Genehmigungsbescheid verfügt wurde, inzwischen dahingehend verändert sind, dass die Auflage nicht mehr erforderlich ist. Diesen Nachweis hat das Landratsamt jedoch nicht erbracht.
Das gilt sowohl unter Berücksichtigung der vom Landratsamt im Verwaltungsverfahren angestellten Überlegungen wie auch unter Berücksichtigung der im gerichtlichen Verfahren auf die entsprechende Aufforderung des Gerichts im Laufe der mündlichen Verhandlung am 22. Oktober 2015 nachgereichten Geruchsberechnungen.
Die im Zuge des Verwaltungsverfahrens insofern angestellten Überlegungen des Landratsamtes tragen die im Änderungsbescheid verfügte Aufhebung der Auflage jedenfalls nicht.
Weder aus dem Bescheid selbst noch aus den ergänzend heranzuziehenden Verwaltungsakten des Landratsamtes geht nachvollziehbar hervor, worauf die angeblich geänderten Anzahlen der Großvieheinheiten des Beigeladenen – die zu einer im Vergleich zur ursprünglichen Genehmigung mittlerweile geringeren Geruchsbelästigung führen sollen – zurückgehen.
Zwar ist der Beigeladene vom Landratsamt insofern aufgefordert worden, aktuelle Zahlen seiner Großvieheinheiten zu benennen. Im Verwaltungsvorgang findet sich jedoch keine Reaktion des Beigeladenen hierauf. Einzig und allein im Lageplan, der auf Bl. 75 BA eingeheftet ist, finden sich Bleistifteintragungen von Großvieheinheiten in den drei Stallgebäuden des Beigeladenen.
Es bleibt jedoch vollkommen im Dunkeln, woher diese Eintragungen stammen bzw. worauf sie beruhen; weder geht aus dem Vorgang noch sonst aus den im Verfahren vorgelegten Unterlagen hervor, wer diese Bleistifteintragungen in den Lageplan hineingeschrieben hat, noch insbesondere, worauf diese Zahlenangaben beruhen.
Auch die auf Bl. 76 der Behördenakten eingeheftete E-Mail gibt hierüber keinen Aufschluss, insbesondere wird dort zwar auf eine Besprechung mit dem Beigeladenen Bezug genommen, jedoch werden weder Inhalte dieser Besprechung dargestellt noch auch nur behauptet, dass der Beigeladene die entsprechenden Zahlen genannt hätte – geschweige denn, dass diese stimmen -, noch schließlich stimmen die in der E-Mail vom 27. Dezember 2011 genannten Zahlen mit den Eintragungen im Lageplan auf der vorhergehenden Seite der Behördenakten überein.
Gänzlich widersprüchlich werden sodann die Zugrundelegungen des Landratsamtes, wenn man berücksichtigt, dass trotz der Eintragungen im auf Bl. 75 BA eingehefteten Lageplan und wiederum ein dreiviertel Jahr knapp nach der E-Mail vom 27. Dezember 2011 der Beigeladene mit Schreiben des Landratsamtes vom 31. August 2012 erst aufgefordert wird, mitzuteilen, wie hoch der Gesamtbesatz an Großvieheinheiten auf seinem Hof sei. Auch auf diese Aufforderung enthält die Behördenakte wiederum keine Antwort, lediglich findet sich dann auf Bl. 81 der Behördenakten erneut derselbe Lageplan mit denselben Eintragungen wie auf Bl. 75 BA, ohne dass auch hier aus der Akte hervorgeht, worauf diese Eintragungen beruhen sollen.
Schließlich sind auch die Angaben in der Kurzmitteilung des Landratsamtes vom 17. Oktober 2012 (Bl. 83 f. BA) sowie die im Lageplan auf Bl. 85 und 86 der Behördenakten eingezeichneten Geruchskreise nicht nachvollziehbar; insbesondere ergibt sich weder aus der Behördenakte noch sonst aus im Verfahren vorgelegten Unterlagen oder Erklärungen des Landratsamtes, worauf genau diese Geruchseinschätzungen beruhen sollen. Selbst wenn man insofern die Forderung nach entsprechenden Berechnungen – die das gefundene Ergebnis belegen – verzichten wollte, ergibt sich doch nicht einmal etwas Nachvollziehbares, auf dessen Grundlage man die Bewertung nachvollziehen könnte.
Auf dieser Grundlage ist die Aufhebung der Auflage Nr. 6 aus dem ursprünglichen Genehmigungsbescheid im Änderungsbescheid vom 19. März 2014 nicht möglich.
Aber auch die später im Gerichtsverfahren vorgelegten Berechnungen des Landratsamtes (vgl. die beiden Gehefte – Ausdruck v. 5.8.2014 bzw. Ausdruck v. 20.10.2015 – die sich bei den Behördenakten befinden) ergeben nichts anderes. Diese beiden Unterlagen – von denen die eine die Geruchsbelastung, die insgesamt vom Beigeladenengrundstück ausgeht, betrachtet, die andere lediglich isoliert den Jungviehstall in den Blick nimmt – leiden bereits an dem Mangel, dass sie auf der Grundlage der VDI-Richtlinie 3894 erstellt sind. Nach den Voraussetzungen dieser VDI-RiL selbst ist diese jedoch für die Beurteilung einer Geruchsbelastung in einem Abstand von weniger als 50 m gar nicht geeignet (vgl. Bl. 2 der VDI-RiL 3894; danach soll bei Abstandsermittlungen, die weniger als 50 m ergeben, grundsätzlich eine Sonderfallbeurteilung durchgeführt werden, denn bei so geringen Entfernungen spielen zunehmend Randbedingungen im Detail eine Rolle, die mit einer so einfachen Methodik wie der Abstandsberechnung nur schwerlich sachgerecht beurteilt werden können).
Dieser Auffassung war übrigens auch das Landratsamt selbst noch in seiner Klageerwiderung im Gerichtsverfahren vom 14. November 2014 (dort S. 2 Mitte: „Zur Beurteilung wurden die Arbeitspapiere des Bayerischen Arbeitskreises „Immissionsschutz in der Landwirtschaft“ verwendet, da die Anwendung der RL VDI 3894 „Emissionen und Immissionen aus Tieranlagen“ nicht möglich ist, wegen dem zu geringen Abstand zwischen dem errichteten Stall und der Nachbarbebauung der unter 50 m liegt. Im vorliegenden Fall beträgt die Entfernung zwischen Emissions- und Immissionsort ca. 40 m“).
Warum sich diese Sichtweise mittlerweile geändert haben soll, wird ebenso wenig klar, wie der Umstand, warum das Landratsamt – entgegen dieser zutreffenden Erkenntnis – letztlich doch wieder auf der Grundlage der VDI-RL 3894 die Geruchsbelastungen vom Vorhabengrundstück auf das Grundstück der Kläger beurteilen will.
Mithin steht fest, dass die Voraussetzungen für die Aufhebung der Auflage in tatsächlicher Hinsicht nicht vorlagen, wobei dahinstehen kann, ob man diese Aufhebung an einer direkten oder entsprechenden Anwendung der Widerrufsgründe in Art. 49 Abs. 2 BayVwVfG misst oder einfach darauf abstellt, ob sachlich nachvollziehbare Gründe für die Aufhebung vorliegen. Daher ist der Änderungsbescheid vom 19. März 2014 jedenfalls objektiv rechtswidrig.
Diese objektive Rechtswidrigkeit beinhaltet in der vorliegenden Konstellation auch eine subjektive Rechtsverletzung der Kläger.
Anders als sonst in Fällen, in denen es um die Beurteilung geht, ob ein Vorhaben im Ergebnis rücksichtslos ist oder nicht – was hier zur Folge hätte, dass das Gericht weiter aufklären müsste, ob nun vom Vorhaben eine unzumutbare Belastung auf die Kläger ausgeht oder nicht -, ist hier die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die streitige Auflage im ursprünglichen Genehmigungsbescheid ausdrücklich zugunsten der Kläger bzw. deren Grundstück festgesetzt wurde, mit der Absicht, diesen ein subjektiv-öffentliches Recht zu verleihen.
In einem solchen Fall fällt die objektive Rechtswidrigkeit des Änderungsbescheides ausnahmsweise mit einer subjektiven Rechtsverletzung zusammen.
Nach alledem ist der streitgegenständliche Änderungsbescheid aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 154 Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500,– festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m. Nr. 9.7.1 und Nr. 1.3.3 Fall 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2013, Beilage 2).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.